ray Filmmagazin » Themen » Der Wahrheit verpflichtet
Crime Scene: The Times Square Killer

US-Dokumentarfilm. Ein Dossier

Der Wahrheit verpflichtet

| Andreas Ungerböck :: Jörg Schiffauer |
Joe Berlinger, seit langem einer der wichtigsten und spannendsten Dokumentaristen, im Gespräch.

Joe Berlinger hat seit seinem Regiedebüt 1992 mit Brother’s Keeper immer wieder unter Beweis gestellt, dass er zu den bedeutendsten Dokumentaristen des Weltkinos zählt. In der Trilogie Paradise Lost, die sich über einen Zeitraum von knapp zwei Jahrzehnten mit einem aufsehenerregenden Kriminalfall befasste, wurde Berlingers Affinität für True Crime ebenso manifest wie sein Engagement in Fragen sozialer Gerechtigkeit. In seinem umfangreichen Schaffen hat er sich aber auch mit zahlreichen anderen brisanten Thematiken auseinandergesetzt, wenn auch True Crime ein immer wiederkehrendes Motiv seiner Arbeit – wozu auch Spielfilme zählen – darstellt. Joe Berlinger über vergangene und zukünftige Filmprojekte, die Zusammenarbeit mit seinem langjährigen künstlerischen Weggefährten Bruce Sinofsky und über die Entwicklung des Dokumentarfilms.

Können Sie über ihre Anfänge als Filmemacher erzählen?
Da muss ich etwas weiter ausholen, denn mein Weg zum Filmemacher ist eng mit dem Erlernen der deutschen Sprache verknüpft. Als ich im Teenageralter war, habe ich das erste Mal Filmaufnahmen von der Befreiung der Konzentrationslager gesehen. Diese Bilder über den Holocaust haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Das hat auch mit meinen jüdischen Wurzeln zu tun, obwohl in meiner Familie keine religiösen Traditionen gepflegt wurden. Zudem stammt ein Teil meiner Familie aus Deutschland, mein Ur-Urgroßvater kam in den 1850er Jahren von dort in die Vereinigten Staaten. Wir hatten jedoch dorthin keine engen Verbindungen, meine Familie hat auch niemanden im Holocaust verloren. Als ich diese Holocaust-Bilder gesehen habe, wurde mir – als nicht praktizierender Jude und Amerikaner der vierten Generation mit deutscher Abstammung – bewusst, dass ich, hätte ich zur Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland gelebt, umgebracht worden wäre. Deshalb wollte ich die deutsche Sprache lernen, um genau zu verstehen, wie so etwas geschehen konnte. Deutsch war auf dem College mein Hauptfach, nach dem Studienabschluss wollte ich meine Sprachkenntnisse perfektionieren. Ich habe einen Job im Frankfurter Büro der Werbeagentur Ogilvy & Mather bekommen, wobei der Bereich Werbung eher Zufall war; ich wollte vor allem in Europa, in Deutschland, leben und arbeiten. 1985 habe ich als junger Producer an TV-Werbespots für Firmen wie Nescafé oder American Express mitgewirkt, ich war das erste Mal auf einem Filmset. Das war so etwas wie die Initialzündung, da ist mein Wunsch entstanden, mit dem Medium Film zu arbeiten.

Wie kam es zu ihrem Kontakt mit den legendären Dokumentaristen Albert und David Maysles?
Nach zwei Jahren in Deutschland hat mich Ogilvy nach New York zurückgeholt. Wir haben dort an einem Werbespot für American Express gearbeitet, der nicht über das übliche Skript verfügte, denn der Auftraggeber wollte eine Art dokumentarischen Stil, was damals eine ziemliche Novität war. Dafür wurden Albert und David Maysles verpflichtet, und wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Zu diesem Zeitpunkt war mein Wunsch, Filme zu machen, bereits stark ausgeprägt, die Maysles-Brüder wiederum suchten jemanden, der ihnen zu Commercials verhelfen konnte, denn Dokumentarfilme waren damals bei weitem nicht so populär wie heute. Nachdem ich das Filmemachen gründlich lernen wollte, waren die fünf Jahre, die ich mit und für Albert und David Maysles gearbeitet habe, meine Filmschule. Dass ich heute selbst als Dokumentarfilmer arbeite, erscheint mir auch ein wenig ironisch: Hätten besagten American-Express-Werbespot nicht die Maysles-Brüder gemacht, sondern etwa Ridley Scott, wäre ich möglicherweise in Hollywood gelandet und ein ganz anderer Filmemacher geworden. Ursprünglich war es keineswegs mein Plan, Dokumentarist zu werden.

Welchen Einfluss hatte die Arbeitsweise von Albert und David Maysles, die zu den Leitfiguren des Direct Cinema zählen?
Als ich für die Maysles-Brüder gearbeitet habe, hat mich die dort vorherrschende Philosophie fasziniert, einer Geschichte quasi in der Gegenwart zu folgen, ohne zu wissen, wohin sich alles entwickelt, jedoch darauf vertrauend, dass etwas in dem Material steckt, dass man im Schneideraum formen kann. Diese Vorstellung, dass die reale Welt eine Form von Drama hervorbringt, das mindestens ebenso spannend sein kann wie ein Drehbuch, habe ich sehr begrüßt. Von den Maysles habe ich das Vertrauen gelernt, einer solchen Geschichte nachzugehen. Es ist nämlich recht schwierig, einen Film im Cinéma-vérité-Stil zu machen, weil man eben nicht weiß, wohin die Geschichte führt, da braucht es dieses Vertrauen, dass sich daraus ein Film machen lässt. Ich denke, es ist schwieriger, einen echten Cinéma-vérité-Film zu drehen als einen nach Drehbuch, denn bei Cinéma vérité ist der Schnitt die Phase des Drehbuch-Schreibens. Bevor es Video gab, war die Produktion eines Dokumentarfilms nach den Regeln des Cinéma vérité eine gewagte Sache, einfach, weil das Material teuer war. Allein das Rohmaterial, also 16mm-Film, kostete etwa 400 Dollar für zehn Minuten, das war in der Vor-Videozeit sehr viel Geld. Es war ein Abenteuer, einen Film zu drehen, ohne zu wissen, wohin sich die Geschichte entwickelt – da brauchte man eine Art von Vertrauen, wie wenn man aus einem offenen Fenster springt und hofft, dass man auf einer Matratze landet. Aus diesem Prinzip heraus ist mein erster Film entstanden, Brother’s Keeper.

Das vollständige Interview lesen Sie in unserer Printausgabe 02/22

Wie hat sich Ihr Debüt als Regisseur genau entwickelt?
Nach den Lehrjahren bei den Maysles-Brüdern fühlte ich mich für eigene Arbeiten gerüstet. 1989 drehte ich einen 30-minütigen Kurzfilm über New Yorker Taxifahrer mit dem Titel Outrageous Taxi Stories. Einer der Cutter der Maysles, Bruce Sinofsky, mit dem ich ja später zusammen eine Reihe von Filmen gemacht habe (Sinofsky ist 2015 verstorben, Anm.), hat den Film geschnitten. Outrageous Taxi Stories erhielt Einladungen von mehreren Festivals, da war also einiges an positivem Feedback. David Maysles war 1987 gestorben, da hat sich das Gefühl eingeschlichen, dass dort nicht mehr so viele interessante Projekte folgen würden. Nachdem Bruce und ich wirklich sehr gut zusammengearbeitet hatten, beschlossen wir, ein eigenes Cinéma-vérité-Projekt im Stil einiger Klassiker der Maysles wie etwa Grey Gardens, Salesman oder Gimme Shelter zu machen. Wir haben ein Jahr damit verbracht, die richtige Geschichte zu finden, bis wir auf einen Artikel in der „New York Times“ gestoßen sind, der sich mit vier Brüdern beschäftigte, die in ärmlichen Verhältnissen auf einer Farm lebten. Als man den Ältesten tot in seinem Bett aufgefunden hatte, wurde einer seiner Brüder, der neben ihm geschlafen hatte, beschuldigt, ihn getötet zu haben. Bruce und ich hatten unabhängig voneinander den Artikel gelesen, und als wir uns im Büro der Maysles trafen, waren wir uns gleich einig: „Das ist unsere Geschichte.“ Der Fall dieses armen Farmers samt der anstehenden Gerichtsverhandlung, da war uns schon klar, dass da eine Story entstehen würde. Und Porträts von ambivalenten Charakteren sind gleichsam ein Markenzeichen eines Vérité-Films.

Welche Bedeutung hat Cinéma vérité für die Entwicklung des Dokumentarfilms an sich?
Ein großer Paradigmenwechsel im Dokumentarfilm war die Erkenntnis, dass sich der nicht auf Newsreel-Aufnahmen, auf die schlichte Wiedergabe von Ereignissen, beschränkt. Bis gegen Anfang der sechziger Jahre war es technisch höchst aufwändig, bei dokumentarischen Aufnahmen Bild und Ton synchron aufzuzeichnen. Man konnte nicht einfach in die reale Welt hinausgehen und den Ton synchron zum Bildmaterial aufnehmen, deshalb waren Dokumentationen hauptsächlich Newsreels, bei denen die Tonspur nachträglich mittels Voiceover hinzugefügt wurde. Die große Leistung der Cinéma-vérité-Meister der Sechziger wie Richard Leacock, der Maysles-Brüder, D. A. Pennebaker oder Frederick Wiseman war es, transportable Aufzeichnungsgeräte, mit deren Hilfe Bild und Ton synchron waren, in ihre Arbeit zu integrieren. Das war aber keineswegs nur eine technische Innovation. Diese Filmemacher haben realisiert, dass man nun Menschen, Charakteren und ihren Geschichten hautnah folgen konnte. Das war also eine neue Philosophie, die Cinéma-vérité entwickelte,

Brother’s Keeper sollte diesem Pfad folgen. Die achtziger Jahre waren in Sachen Dokumentarfilm keine große Dekade, aber es gab einige Dokumentaristen, die die Sprache des Dokumentarfilms ausweiten wollten. Errol Morris gebührt da besondere Anerkennung, denn er hat 1989 mit The Thin Blue Line Re-Enactment als dokumentarisches Stilmittel populär gemacht. Michael Moore positionierte sich in Roger & Me vor der Kamera, der Filmemacher wurde so als eine Art Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit präsentiert. Morris und Moore haben, jeder auf seine ganz eigene Art, die Grenzen, die das Genre Dokumentarfilm definiert haben, erweitert. Dazu gehören auch Jenny Livingston mit ihrem Film über Drag Queens, Paris Is Burning oder Steve James mit Hoop Dreams. Sie haben das Spektrum erweitert, indem sie Menschen ins Bild gerückt haben, die man bis dahin nicht so oft auf der Leinwand sehen konnte. Die späten achtziger und frühen neunziger Jahre waren eine spannende Periode, die zweite Welle einer Revolution, die dem Dokumentarfilm zu größerer Popularität verholfen hat. Die erste Welle war die angesprochene technische Innovation, die in der Philosophie mündete, dass Dokumentationen eben nicht nur Newsreels sein müssen.

Inwieweit hat „Brother’s Keeper“ diesen Entwicklungen Rechnung getragen?
Bruce und ich wollten den Vérité-Stil erweitern, etwa mit einem ausgesprochen filmischen Zugang bei der visuellen Gestaltung, einer Montage, die sich an klassischen narrativen Strukturen orientierte oder dem Einsatz eines Scores – heute eine Selbstverständlichkeit, doch damals war das für einen Dokumentarfilm alles andere als gang und gäbe. Ein weiterer Aspekt, bei dem wir uns mit Brother’s Keeper von den Maysles unterschieden haben ist, dass Albert und David als Repräsentanten des Direct Cinema sich nicht als Regisseure bezeichnet hätten. Sie argumentierten, dass man Realität nicht inszenieren könne, sie meinten, so etwas wie objektive Realität einzufangen, indem sie die Kamera einfach laufen ließen. Ich dagegen bin der Ansicht, dass objektive Realität nicht existiert, das gilt für jedes Medium. Ein Filmemacher trifft eine Million Entscheidungen. So hat man vielleicht 100 Stunden Material, dass man auf zwei Stunden für die endgültige Fassung reduziert, man entscheidet sich bei jeder Einstellung für einen bestimmten Bildausschnitt, ein Framing. Alle diese Entscheidungen enthalten ein subjektives Element, meinem Gefühl nach ist Filmemachen also immer ein subjektiver Prozess. Man sucht also weniger eine objektive Wahrheit, sondern eine emotionale. Wenn wir also nach der emotionalen Wahrheit einer Situation suchen, warum sollten wir uns nicht der narrativen Elemente bedienen, die im fiktionalen Film zum Einsatz kommen? Aber natürlich gibt es dabei für einen Dokumentarfilmer immer noch Regeln, die man nicht brechen darf: Man kann nicht dezidierte Unwahrheiten als richtig ausgeben oder die Chronologie so manipulieren, dass ein falsches Bild entsteht. Mit seinen narrativen Strategien war Brother’s Keeper auch Teil dieser zweiten Revolution, die dazu beigetragen hat, dass sich die Definition des Dokumentarfilms erweitert hat. Doch als der Film herauskam, hat er einige Kritik etablierter Dokumentaristen auf sich gezogen, etwa, was den Einsatz eines Scores oder die anfängliche Titelsequenz angeht. Uns wurde vorgeworfen, damit die Emotionen der Zuschauer zu manipulieren, das sei nicht journalistisch. Bruce und ich waren aber der Ansicht, nachdem wir eben auf der Suche nach einer emotionalen Wahrheit gewesen sind, es sei legitim, uns dieser Stilmittel zu bedienen. Heute gehören solche Dinge zum dokumentarischen Standard, aber damals war das noch nicht der Fall.

„Paradise Lost“ über einen aufsehenerregenden Kriminalfall wurde zu einem sich über Jahre erstreckenden Projekt, das schließlich drei Filme umfasste. Wie hat sich das entwickelt?
Als Bruce und ich mit dem Projekt begannen, dachten wir – was retrospektiv geradezu ironisch erscheint –, dass die drei angeklagten Jugendlichen schuldig seien, die Morde an drei Buben begangen zu haben. Drei Filme über eine Zeitspanne von knapp zwei Jahrzehnten zu machen, in deren Verlauf sich herausstellte, dass die Angeklagten zu Unrecht beschuldigt worden waren – und eigentlich begann alles anders. Wir waren auch von deren Täterschaft überzeugt, die lokale Presse in Arkansas berichtete übereinstimmend von dieser Schuld. Der leitende Ermittler meinte während einer Pressekonferenz, er stufe die Beweislage auf einer Skala von eins bis zehn mit „elf“ ein.

Zuerst dachten wir, einen Film über Teenager, die grauenhafte Taten begangen haben, zu machen. Es gab in Großbritannien einen Fall, bei dem zwei zehnjährige Buben den erst zwei Jahre alten Jamie Bulger getötet hatten. In den Vereinigten Staaten herrschte in den achtziger Jahren eine regelrechte Hysterie in Sachen Satanismus, der als vermeintliche Triebfeder bei großen Kriminalfällen angesehen wurde, wie etwa dem berüchtigten Fall der Familie McMartin, wo es um angeblichen vielfachen Kindesmissbrauch ging. Wir waren schon eine Woche nach der Verhaftung der drei Beschuldigten vor Ort in West Memphis, Arkansas, und glaubten, eine perfekte Cinéma-vérité-Geschichte gefunden zu haben. Der Schlüssel eines Cinéma-vérité-Films, ist, sich Zugang zu den Protagonisten verschaffen und rechtzeitig das Geschehen filmisch dokumentieren zu können. Wir sind im Juni 1993 dort eingetroffen, in dem Glauben, einen Film über Kinder, die Kinder getötet hatten zu machen, die ersten drei, vier Monate haben wir hauptsächlich mit den Angehörigen der Opfer und den Polizeibehörden verbracht.

Wann hat sich der Blickwinkel verändert?
Je mehr wir uns mit dem Fall beschäftigt haben, desto deutlicher wurde, dass es da um mehr geht als um Morde als Teil eines satanistischen Rituals. Wir bekamen schließlich Zugang zu den drei angeklagten Teenagern, die ohne Möglichkeit, Kaution zu stellen, inhaftiert waren. Zunächst meinten wir, Schuldige zu interviewen, doch schon – und daran erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre – nach den ersten Gesprächen hatte ich das Gefühl, das etwas in dem Fall nicht stimmt, besonders nach dem Gespräch mit Jason Baldwin, einem der Angeklagten. Als Anführer der drei Verdächtigen, den vermeintlichen Teufelsanbetern, galt Damien Echols, der schwerer zu durchschauen war. Der erste Eindruck von ihm war, dass er ein wenig narzisstisch wirkte und die Aufmerksamkeit zu genießen schien. Er hat mir später erzählt, dass er die Anklage zunächst nicht richtig ernstgenommen und deshalb allen eine Rolle vorgespielt hat. Der dritte Beschuldigte, Jessie Misskelly, der ein falsches Geständnis ablegte, war auch aufgrund seines niedrigen IQs schwer einzuschätzen. Baldwin dagegen war einfach ein netter Junge, der sich etwa auch um seine schulischen Leistungen gekümmert hatte. Als ich mit diesem dünnen, schmalen Jungen gesprochen habe, erschien mir die Behauptung der Anklage, dass dieser Teenager eines der Opfer mit einem Messer kastriert haben soll, fragwürdig. Bruce und ich bekamen immer mehr den Eindruck, dass in dem Kriminalfall die Dinge anders liegen. Wir waren von HBO beauftragt, den Film zu machen, und als ich Sheila Nevins, die für Dokumentationen Verantwortliche, angerufen habe, um ihr zu sagen, dass sich das Projekt meiner Ansicht nach in eine andere Richtung entwickeln würde, es eben nicht mehr ein Film über mordende Teenager sei, habe ich schon befürchtet, sie würde alles stoppen. Doch als ich erläutert hatte, dass meiner Ansicht nach die Falschen beschuldigt wurden, meinte HBO: „Das klingt ja viel interessanter, da müsst ihr unbedingt dranbleiben.“

Da hat dann auch der Kampf um Gerechtigkeit eine Rolle für Sie gespielt?
Ich betrachte mich selbst als Filmemacher, der sich um Fragen der sozialen Gerechtigkeit kümmert. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Justizsystem, ich habe wiederholt die Geschichten von Menschen thematisiert, die zu Unrecht beschuldigt oder angeklagt worden sind. Das war bei Brother’s Keeper noch anders, da ging es mir hauptsächlich darum, die bereits angesprochenen Grenzen des Dokumentarfilms zu erweitern. Im Fall von Paradise Lost haben wir mit der Zeit realisiert, dass wir die Geschichte von drei zu Unrecht verurteilten Teenagern vor uns haben. Es gab da jede Menge fragwürdige Gerüchte wie etwa um die Musik, die die drei hörten. Im Prozess wurden sogar Metallica-Songtexte eingebracht, um zu untermauern, dass die drei Mörder seien. Als wir für die Schlusssequenz von Paradise Lost filmten, wie Jason Baldwin und Damien Echols in Handschellen gelegt und fortgebracht wurden – Baldwin zu lebenslanger Haft und Echols zum Tod verurteilt – hat uns das schwer erschüttert. Uns wurde bewusst, dass unser Material dazu beitragen konnte, sie aus dem Gefängnis zu holen und einen furchtbaren Justizirrtum zu verhindern. Das war so etwas wie der Ausgangspunkt meiner Arbeit für soziale Gerechtigkeit, da entstand ein ganz spezieller Fokus für den weiteren Verlauf meiner Karriere. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wurde zu einem integralen Bestandteil meiner Arbeit.

Metallica haben dann auch eine besondere Rolle bei „Paradise Lost“ gespielt.
Dabei ist meine Beziehung zu Metallica entstanden, Bruce und ich haben 2004 dann ja auch mit Metallica: Some Kind of Monster eine Dokumentation über die Band gemacht. Bis dahin hatten Metallica niemandem erlaubt, ihre Musik für Filme, Werbespots oder sonst wie zu verwenden. Ich habe aber trotzdem angefragt, ob wir ihre Songs für Paradise Lost haben könnten und gemeint, dass Heavy Metal in diesem Prozess ebenso vor Gericht gestanden sei wie die drei Jungs. Der Manager von Metallica kannte und mochte Brother’s Keeper, was schon ein erstaunlicher Zufall war, die Band hat sich einen Rohschnitt von Paradise Lost angesehen, der ihnen gefallen hat – und wir durften ihre Songs verwenden, zudem gratis, was auch für die beiden weiteren Paradise-Lost-Filme gegolten hat. Das hat auch dazu beigetragen, dass Künstler wie Eddie Vedder, Johnny Depp oder Natalie Maines von den Dixie Chicks sich später für die West Memphis Three eingesetzt haben. Aber Metallica waren die ersten mit ihren Songs.

Wie haben die örtliche Bevölkerung und die Familien der Opfer darauf reagiert, dass „Paradise Lost“ die Mängel des Urteils aufgezeigt hat?
Den zweiten Film zu drehen war wirklich schwierig, weil die ansässige Bevölkerung von der Schuld der drei Jungs überzeugt war. Das Schwerste war, mit den Reaktionen der Angehörigen der Opfer umzugehen. Wir haben ihnen den Film vorab gezeigt, und sie waren entsetzt, dass wir die drei Angeklagten für unschuldig hielten, sie hassten uns dafür. Das ist natürlich schmerzlich, weil man ja eine Beziehung zu ihnen, die ja auch im Film zu Wort kommen, während der Dreharbeiten aufgebaut hat. Aber als Filmemacher ist man nicht der Freund seiner Protagonisten, man ist der Wahrheit verpflichtet. Schon im Schneideraum gelangten wir zu der Überzeugung, es mit einem Fehlurteil zu tun zu haben, wir hatten gehofft, auch die Angehörigen davon zu überzeugen, dass die Falschen verurteilt worden sind, doch sie glaubten nichts davon. Das war schon schwierig, weil der Film am Ende das Gegenteil von dem war, was sie erwartet hatten. Zusätzliches Leid verursachen wollten wir natürlich nicht. Wir waren aber auch der Ansicht, die Familien hätten es verdient, dass der oder die wahren Schuldigen für den Tod ihrer Kinder zur Verantwortung gezogen würden. Doch nach dem zweiten Film hat uns die ganze Stadt, ganz Arkansas, gehasst. Nachdem wir den dritten Film fertiggestellt hatten, haben uns dann aber zwei der drei Familien zugestimmt, dass die drei Verurteilten unschuldig seien. Die dritte Familie blieb von der Schuld überzeugt. Als Paradise Lost 3 für einen Oscar nominiert wurde, haben sie an die Akademie geschrieben, ihre Entscheidung zu überdenken, weil unser Film Unwahrheiten verbreiten würde und drei Mörder aus dem Gefängnis befreit hatte. Ich grolle ihnen deswegen nicht, es macht mich eher traurig, aber das sind einfach die Herausforderungen, die derartige Filmprojekte mit sich bringen.

Die Entlassung der „West Memphis Three“ beruht auf einer Eigenheit des US-amerikanischen Justizsystems?
Das ist mittels eines „Alford Plea“ passiert, einem selten genutzten juristischen Manöver. Dabei erklärt der Angeklagte zwar weiterhin seine Unschuld, er akzeptiert jedoch einen Schuldspruch. Das geschieht zumeist dann, wenn die Anklage einen starken Fall, also soviel Beweismaterial in der Hand hat, dass ein Schuldspruch der wahrscheinlichste Prozessausgang ist – selbst wenn der Angeklagte tatsächlich nicht schuldig ist. Durch die Annahme des Schuldspruchs erreicht man im günstigen Fall eine mildere Strafe. Das ist der eigentliche Zweck des „Alford Plea“, doch in diesem Fall wurde das System ein wenig manipuliert. Damien Echols, der sich noch immer im Todestrakt befand, war in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Arkansas war nur bereit, die drei aus dem Gefängnis zu entlassen, wenn sie sich in besagter Weise schuldig bekennen würden. Es hat zwar die Möglichkeit eines neuen Verfahrens bestanden, das wegen neu eingebrachter DNA-Beweismittel auch eine ziemlich realistische Option war, doch das hätte noch länger gedauert, und der Ausgang eines solchen Prozesses ist immer etwas ungewiss. Anstatt also zu riskieren, den Rest des Lebens im Gefängnis zu verbringen oder im Fall von Damien Echols hingerichtet zu werden, haben die drei den Schuldspruch akzeptiert, aber weiterhin ihre Unschuld beteuert. Dafür wurden sie zu einer Haftstrafe verurteilt, die mit der bereits im Gefängnis verbrachten Zeit von achtzehneinhalb Jahren als verbüßt galt und sie sofort entlassen werden konnten. Man kann verstehen, warum sie das akzeptiert haben. Aber obwohl die drei natürlich froh über ihre Freiheit waren, hat die Tatsache, dass sie rechtlich als verurteilte Mörder gelten, einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.

Wie gelingt es Ihnen, ein enges Vertrauensverhältnis zu den Protagonisten aufzubauen? Die Menschen öffnen sich in ihren Filmen oft sehr weit, wie etwa Carol DaRonch in der Doku-Serie „Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes“, die als einige der wenigen Opfer Bundys diese Begegnung überlebt hat?
Die Beziehung zwischen dem Filmemacher und seinen Protagonisten ist ein sehr komplexes Thema. Ich versuche den Menschen offen, ehrlich zu begegnen und sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, wenn sie ihre Geschichte erzählen, als wenn sie das nicht tun. Carol DaRonch ist ein gutes Beispiel, sie hatte ihre Geschichte nie zuvor erzählt, doch sie hat sich meine Arbeiten angesehen und sich nach vielen Gesprächen entschlossen, dass es die Sache wert wäre, an meinem Film mitzuwirken, auch wegen der Art und Weise, wie ich mit dem Fall Ted Bundy umgehen wollte. Manchmal muss man jedoch seine Protagonisten auch enttäuschen, wie etwa die Familien der Opfer in Paradise Lost. Man darf den freundlichen Umgang mit Menschen und den Wunsch, sie zu überzeugen, etwas vor der Kamera zu erzählen, nicht damit verwechseln, ihr Freund zu sein. Mit manchen hat mich tatsächlich auch nach Ende der Dreharbeiten eine Freundschaft verbunden, aber das bleibt eine komplizierte Sache. Man muss am Schluss vor allem die Wahrheit hochhalten, auch wenn man damit Betroffene enttäuscht. Im Fall von Mark Byers, dem Stiefvater eines der Opfer aus Paradise Lost, war das besonders brisant. Er geriet zeitweilig selbst unter Verdacht, wir als Filmemacher haben diesen Verdacht im zweiten Teil auch aufgegriffen, die forensischen Beweise haben jedoch schließlich in eine ganz andere Richtung geführt, wie man dann im dritten Teil sehen kann.
Paradise Lost wurde beim Sundance Festival gezeigt, avancierte zum Liebling der Kritiker und gewann jede Menge Preise. Doch in dem Fall selbst hat sich dadurch nichts bewegt, die drei unserer Ansicht nach zu Unrecht Verurteilten befanden sich in Haft. Es war ja schön, Preise zu gewinnen und Anerkennung zu erhalten, doch es fühlte sich falsch an. Das hat möglicherweise dazu geführt, dass wir in Teil zwei den Verdacht bezüglich Mark Byers vielleicht zu aggressiv verfolgt haben. Ich habe durchaus gemischte Gefühle, was den zweiten Film angeht, Paradise Lost halte ich hingegen für ein sehr schönes Beispiel eines Cinéma-vérité-Films.
Ich bin mir aber auch bewusst, dass es eine etwas zwiespältige Angelegenheit ist, wenn ich Menschen dazu bringe, sich mir in einem der schlimmsten Momente ihres Lebens zu öffnen – wäre ich in deren Situation, würde ich niemanden in mein Leben lassen. Ich versuche deswegen, in meinen Filmen sehr verantwortungsvoll mit ihren Geschichten umzugehen.

Haben Sie eine Erklärung für die derzeitige Popularität des True-Crime-Genres?
Ich denke, das gilt aktuell für den Dokumentarfilm als Ganzes und nicht nur für True Crime. Dieser steile Anstieg hat sich über das vergangene Jahrzehnt hinweg entwickelt. Die sechziger Jahre brachten die erwähnten technischen Innovationen für den Dokumentarfilm mit sich, in den achtziger und neunziger Jahren führten die neuen Stilmittel dazu, dass Dokumentarfilme Teil des regulären Kinoprogramms wurden. Die dritte Revolution betrifft das Phänomen der Streamingdienste, speziell Net-flix, die dokumentarische Serien populär gemacht haben – und zwar für ein globales Publikum. Deshalb denke ich, dass der Dokumentarfilm mit all seinen Kategorien und Facetten derzeit einen Höhenflug erlebt, ähnlich wie Independent-Filme von Miramax in den neunziger Jahren. True Crime war immer schon ein höchst populäres Genre, nicht nur weil es sich hervorragend eignet, um Geschichten zu erzählen, gleich ob fiktionale oder reale. Die Bibel und Shakespeare beinhalten Verbrechen, das ist auch Teil der menschlichen Existenz. Das Interesse daran war immer vorhanden, in früheren Jahrhunderten konnte man in England Eintrittskarten für Hinrichtungen kaufen, in den Vereinigten Staaten gab es in den fünfziger Jahren eine Vielzahl an Detektiv-Heften und Paperbacks. Dieses Interesse ist immer noch vorhanden, aber das Medium hat sich verändert. Heute sehen sich die Menschen Dokumentationen über Verbrechen an.

Was war Ihre Motivation, mit „Cold Blooded: The Clutter Family Murders“ einen Kriminalfall aufzugreifen, der bereits durch Truman Capotes ikonischen Tatsachenroman „In Cold Blood“ und die Verfilmung von Richard Brooks zu großer Bekannheit gelangt ist?
„In Cold Blood“ hat mich sehr stark beeinflusst, sowohl Capotes Roman als auch der Film von Richard Brooks, beides ganz großartige Arbeiten. Das Buch habe ich etwa 15 Mal gelesen. Brooks hat den Fokus darauf gelegt, alles so authentisch wie möglich erscheinen zu lassen. Er hat an Originalschauplätzen gedreht, zu einer Zeit, als das in Hollywood noch eher selten der Fall war. So wurde auch im Haus der Familie Clutter gedreht, die Szenen ihrer Ermordung wurden genau an jenen Orten gedreht, an denen das Verbrechen stattgefunden hatte, das war damals eine eigentlich undenkbare Arbeitsweise. Was also die Filmsprache, den Stil angeht, hat mich Brooks’ In Cold Blood stark beeinflusst. Truman Capote hat wiederum mit seinem Buch ein neues literarisches Genre erfunden, den Tatsachenroman mit der Verbindung narrativer und journalistischer Elemente. Ich habe mit meiner Arbeit seit Brother’s Keeper versucht, eine Art filmisches Äquivalent zu schaffen. Brother’s Keeper hat geholfen, die Werkzeuge des Journalismus und die des narrativen Filmemachers zu vereinen. Als ich für meine Cold Blooded-Serie recherchierte, habe ich festgestellt, dass die Angehörigen der Clutters mit der Darstellung der Familie in Capotes Buch unzufrieden waren, das war aber wenig publik. True Crime geht oft nicht besonders respektvoll mit den Opfern um. Ich habe also gedacht, dass es ein interessanter Ansatz wäre, die Angehörigen zur Mitarbeit zu bewegen und ihre Sicht der Geschichte und der Familie Clutter vor der Kamera zu erzählen.

Ist das ein spezieller Aspekt Ihrer Arbeit – einen anderen Blickwinkel zu eröffnen?
Die Umsetzung jedes Filmprojekts bringt seine Schwierigkeiten mit sich, aber manchmal hat eine Geschichte genau das richtige Momentum. Das ist oft bei jenen der Fall, wo eben nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die mediale Berichterstattung erfolgt häufig nach einem Schwarz-Weiß-Schema, aber die Wahrheit stellt sich zumeist als komplexer dar. Paradise Lost ist da ein gutes Beispiel. Ich suche nicht unbedingt nach solchen Geschichten, aber es scheint, als würde ich immer wieder auf solche stoßen und darüber Filme machen. Ganz allgemein gesprochen ist die mediale Berichterstattung oft oberflächlich, da ist es schon spannend, herauszufinden, wie sich die Realität tatsächlich darstellt.

Sie realisieren eine große Zahl von Projekten. Wie darf man sich denn den Entwicklungsprozess ihrer filmischen Arbeiten vorstellen?
Ich arbeite dabei mit einem großartigen Team zusammen. Am Anfang meiner Karriere, als ich zusammen mit Bruce Sinofsky Filme machte, mussten wir beide alles selbst machen. Ich konnte nichts delegieren, weil ich geradezu besessen von jedem Detail unserer Arbeit war, von der Wahl des Themas bis hin zum Marketing. Zu Beginn haben wir nur alle paar Jahre einen Film machen können, weil wir uns von der Produktion über die Regie bis zur Vermarktung selbst um alles kümmern mussten. Ich wollte auch immer alles selbst erledigen, doch mittlerweile habe ich fantastische Mitarbeiter, so dass ich gelernt habe, Dinge abzugeben. Ich kümmere mich nicht mehr um jede Kleinigkeit, meine Mitarbeiter wissen aber, worauf es mir ankommt – das ist auch der Schlüssel, wenn man an mehreren Projekten gleichzeitig arbeitet. Man kann einfach nicht alles selbst machen, man muss wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, seine Vorstellungen einzubringen, die dann ein Team umsetzt. In den vergangenen zehn Jahren habe ich in der Tat an vielen Projekten gearbeitet, das war nur möglich, weil ich mit großartigen Menschen arbeite, die meine Vorstellungen kennen. Ich arbeite aber schon noch viel, doch wenn mich Leute fragen, ob ich schon über meinen Ruhestand nachdenke – ich bin sechzig – kann ich nur sagen: Wieso sollte ich aufhören, denn ich bin sehr glücklich mit meiner Arbeit. Seit ich 27, 28 Jahre alt war, konnte ich meine Rechnungen bezahlen, indem ich Filme mache, wieso sollte ich in Pension gehen? Ja, ich arbeite 70, 80 Stunden in der Woche, doch das ist für mich kein Job, sondern das, was ich bin und tue.

Wie gestaltet sich die Finanzierung?
In der ersten Hälfte meiner Karriere war das wirklich schwierig, da musste ich manchmal eigene Mittel aufwenden. Brother’s Keeper haben Bruce und ich selbst finanziert, indem wir ein Dutzend unserer Kreditkarten bis ans Limit ausgeschöpft haben. Wir haben unser gesamtes Geld in den Film gesteckt. Zum Glück wurde der dann beim Sundance Festival gezeigt, hat uns als Filmemacher bekannt gemacht und auch Geld eingespielt. Aber das Projekt hätte uns auch ruinieren können. Doch seit Netflix angefangen hat, Dokumentarfilme zu finanzieren, hat sich vieles verändert, Streaming im Allgemeinen und Netflix im Besonderen haben sich als eine Art Revolution für Dokumentaristen, zumindest in den Vereinigten Staaten, erwiesen, weil Dokumentarfilme dadurch sehr populär geworden sind.

Wenn man heute eine gute Idee für einen Dokumentarfilm hat und sich eine gewisse Reputation in diesem Genre erarbeiten konnte, ist es nicht schwer, eine Finanzierung durch Netflix oder beispielsweise HBO zu bekommen. Dokumentarfilme erfreuen sich in den vergangenen sieben, acht Jahren einer Popularität, von der ich früher nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Als ich mit Brother’s Keeper angefangen habe, waren PBS oder HBO die einzigen, die Geld in Dokumentarfilme gesteckt haben. Doku-Serien existierten damals nicht, da hat sich in den vergangenen 30 Jahren in Sachen dokumentarischer Formen eine richtige Revolution abgespielt. Für mich ist es heute nicht so schwer, Projekte zu finanzieren, ich präsentiere einem der Networks eine Idee, bringe nicht alle meine Vorschläge durch, aber in den meisten Fällen funktioniert das schon. Ich bin da mittlerweile in einer guten Position, doch in den ersten Jahren meiner Karriere war alles schwieriger, ich habe etliche Werbefilme gedreht, um Rechnungen bezahlen zu können. Seit etwa zwei Jahrzehnten verbindet mich in Sachen Produktion eine Partnerschaft mit Radical Media. Das ist eine private, unabhängige Firma, deren Wurzeln im Geschäft mit TV-Werbefilmen liegt. Dort hat unsere Partnerschaft begonnen, aber die Firma wollte ihr inhaltliches Portfolio erweitern. Ich verkaufe meine diversen dokumentarischen Projekte an Netflix oder HBO, und Radical Media tritt dann als Produktionsfirma auf, da kann ich als unabhängiger Filmemacher auf die Unterstützung eines
fabelhaften Teams zählen.

Was hat Sie dazu bewogen, sich mit dem berüchtigten Serienmörder Ted Bundy nicht nur in einer Doku-Serie, sondern auch in dem Spielfilm „Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile“ auseinanderzusetzen?
Ich wünschte, dass ein großartiger Plan dahintergestanden wäre, aber da hat auch der Zufall Regie geführt. Stephen Michaud, der in den achtziger Jahren ein Buch mit dem Titel „Ted Bundy: Conversations with a Killer“ verfasste, hat mich 2017 kontaktiert, weil er meinte, die Tonbänder seiner Gespräche mit Bundy wären doch Material für eine Doku-Serie. Ich hatte zunächst Zweifel, weil über Ted Bundy schon so viel gemacht worden ist, also wollte ich mir erst einmal die Bänder anhören. Der Inhalt war schon außergewöhnlich, weil man einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Gedankengänge eines Serienmörders gewinnen konnte, selbst wenn man berücksichtigt, dass Bundy oft gelogen und seine Gesprächspartner zu täuschen versucht hat. Ich konnte Netflix von einer Doku-Serie überzeugen. Ich war schon ein paar Monate mit den Vorarbeiten für die Serie beschäftigt, als mich mein Agent Michael Cooper, ein großer True-Crime-Fan, bei einem Treffen in Kalifornien auf ein Drehbuch mit dem Titel „Extremely Wicked, …“ aufmerksam gemacht hat. Das Skript kursierte seit Jahren in Hollywood und war schon auf der ominösen „Blacklist“ gelandet, weil immer wieder Probleme unterschiedlicher Art bei jedem Realisierungsversuch aufgetreten sind.

Das Spannende daran war, dass das Drehbuch den Blickwinkel von Bundys langjähriger Lebensgefährtin und eine sehr private Seite von ihm zeigt. Da zeigt sich die Diskrepanz, zwischen dem, was in der Berichterstattung stattfindet und wie die Dinge wirklich sind. Wenn wir an Ted Bundy denken, haben wir die Vorstellung, jemand wie er, ein Serienmörder, müsse immer und überall zu hundert Prozent ein Monster sein. Die Taten, die Serienmörder verüben, sind monströs, da gibt es nichts zu relativieren. Wir wollen uns vorstellen, dass Menschen, die üble Taten begehen, leicht zu erkennen sind. In Wirklichkeit haben jedoch solche Täter, gleich ob es sich um einen Priester, der Kinder missbraucht, oder Bundy handelt, die Fähigkeit, sich in der Gesellschaft als respektable Charaktere zu präsentieren. Ted Bundy hatte viele Freunde, seine Freundin hat ihn geliebt, sie hatte eine Tochter, die ihn als Vaterfigur angesehen hat. In der Realität führen Menschen, die üble Taten begehen, oft ein Doppelleben, wie etwa Bernie Madoff, der sich nach außen als Philanthrop und Finanzgenie ausgab und in Wahrheit ein betrügerisches Schneeballsystem aufgebaut hatte. Solche Täter treten als nette Kerle auf, das Buch hat das aufgegriffen. Ich habe jedoch eine Änderung notwendig gefunden. Das Originaldrehbuch verriet erst ganz am Schluss, dass es sich bei der Hauptfigur um Ted Bundy handelt, obwohl es natürlich schon deutliche Hinweise gibt. Ich wollte das aber umdrehen und von Anfang zeigen: Das ist die Geschichte Bundys, der seine Freundin hinters Licht führt. Die Änderungen haben 20 Prozent des Originaldrehbuchs betroffen, die waren aber aus meiner Sicht entscheidend.

Wie kam es dazu, dass Zac Efron die Rolle Ted Bundys übernommen hat?
Während einer Besprechungen bei Creative Artists Agency, wo mein Agent Michael Cooper damals tätig war, hat der Agent von Zac Efron ihn darauf angesprochen, dass Zac neue Aufgaben suchen würde und ob wir uns ihn als Ted Bundy vorstellen könnten. Ich habe kurz darüber nachgedacht und gefunden, das wäre eine perfekte Besetzung. Damit könnte man nämlich auch ein jüngeres Publikum ansprechen, das vielleicht noch wenig oder gar nichts über Ted Bundy weiß. Zac Efrons Fangemeinde, die ja ziemlich groß ist, tritt ihm mit dem Gefühl gegenüber, dass er absolut nichts falsch machen kann. Das sind genau die Emotionen, die der Zuschauer haben soll, wenn Bundy am Ende des Films seiner von Lily Collins gespielten Freundin Liz gesteht, dass er all diese furchtbaren Taten begangen hat – der Zuschauer hat dann ein Gefühl des emotionalen Betrugs, das dem von Liz ähnelt. Das war eine wunderbare Dynamik, die wir für die Rolle einsetzen konnten, um Bundys charmante Seite plausibel zu machen. Zac hat rasch zugestimmt, die Rolle zu übernehmen. Das Skript samt der Zusage wurde dann in Cannes präsentiert, wo ja neben dem Festival auch Filmrechte gehandelt werden, und die Finanzierung war schnell gesichert. Von dem Zeitpunkt, als ich das Skript das erste Mal in die Hand bekam, hat es fünf Wochen gedauert, bis die Finanzierung feststand – eine unglaublich kurze Zeitspanne, üblicherweise dauert es Jahre, bis man so ein Projekt auf Schiene bringt. Ich war noch mit der Doku-Serie beschäftigt, die Dreharbeiten für den Spielfilm sollten aber dann auch schon in sieben, acht Monaten beginnen, also habe ich an beiden Projekten parallel gearbeitet.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und anderen führenden US-amerikanischen Dokumentarfilmern wie etwa Liz Garbus, Alex Gibney oder Andrew Jarecki?
Liz kenne ich sehr gut, auch mit Alex Gibney bin ich gut bekannt. Wir können es alle kaum fassen, welche Popularität unser
Metier zur Zeit genießt, wir haben nämlich auch härtere Zeiten erlebt. Vor zwanzig Jahren waren wir ein wenig die ungeliebten Stiefkinder der Unterhaltungsindustrie, um die sich niemand geschert hat. Dokumentaristen wie Liz Garbus, Alex Gibney und noch ein gutes Dutzend anderer, da zähle ich mich auch dazu, sind so gut beschäftigt wie nie zuvor. Wir stehen bei allen Gemeinsamkeiten aber auch im Wettbewerb, manchmal sind es dieselben Themen, hinter denen man her ist, manchmal ist es derselbe Senderverantwortliche, bei dem man versucht, sein individuelles Sujet unterzubringen. Da besteht ein gesunder Wettbewerb, es existiert aber auch ein feiner Kameradschaftsgeist zwischen uns Dokumentaristen, die schon eine ganze Weile in diesem Geschäft sind.

Können Sie etwas über ihre aktuellen Projekte erzählen? Netflix hat ja die Serie „Crime Scene“ verlängert …
Die erste Staffel von Crime Scene: The Vanishing at the Cecil Hotel lief sehr erfolgreich auf Netflix. Innerhalb der ersten 28 Tage wurde die Staffel von etwa 45 Millionen Accounts gesehen, konservativen Schätzungen zufolge gibt es pro Account zwei Nutzer. 90 Millionen Zuschauer erscheint mir eine geradezu verrückte Zahl, wenn ich daran denke, dass zunächst niemand den Verleih von Brother’s Keeper übernehmen wollte, keiner glaubte an ein Besucherpotenzial. Bruce Sinofsky, meine Frau und ich haben den Verleih dann selbst gemacht, wir hatten fünf oder sechs Kopien, mit denen wir von Kino zu Kino gezogen sind. Wenn wir da an einem Wochenende 400 Besucher hatten, war das für uns wie der Himmel.

Die Grundidee hinter Crime Scene soll das True-Crime-Genre ein wenig auf den Kopf stellen. Üblicherweise beschäftigen wir uns mit Verbrechen unterschiedlicher Art, ohne dem Ort des Geschehens, den diversen sozialen Hintergründen und wie diese Verbrechen beeinflussen, größere Aufmerksamkeit zu widmen. Die erste Staffel beschäftigte sich mit den Problemen, die der soziale Niedergang mancher Stadtviertel – hier am Beispiel Los Angeles – mit sich bringt. Dort hat man Patienten aus psychiatrischen Einrichtungen entlassen und gezielt in ein bestimmtes Viertel von Downton L.A. verfrachtet. Die Polizei nannte diese Politik „Containment“, mit der man Obdachlose und Menschen mit mentalen Problemen in dieses Viertel namens „Skid Row“ verbrachte, das zu einem sozialen Brennpunkt wurde. Auch das titelgebende Hotel hat den Ruf genossen, dass dort ziemlich üble Dinge geschehen konnten.

In der zweiten Staffel widmen Sie sich New York …
Nach dem Erfolg hat Netflix eine weitere Staffel in Auftrag gegeben. Ich wollte einen weiteren ikonischen Schauplatz beleuchten, an dem sich, ausgehend von einem Kriminalfall, politische und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. Meine Wahl ist auf den Times Square Mitte der siebziger Jahre gefallen. Der sieht ja heute ganz anders aus, mehr wie ein Themenpark großer Konzerne mit den Disney- und Nike-Logos, aber in den siebziger Jahren war der Times Square ein Platz, wo Gesetze wenig Gültigkeit hatten, ein äußerst freizügiger Platz, ähnlich wie die Reeperbahn in Hamburg. Das war eine gefährliche Gegend. Sexarbeit wurde kriminalisiert. Anstatt die Sexualverbrecher, die dort ihr Unwesen trieben, zu verfolgen, hat die Polizei die Prostituierten verhaftet. Das hatte zur Folge, dass diese Frauen Übergriffe nur sehr zögerlich angezeigt haben. Die sexuelle Revolution der Sechziger hat die Einstellung der Menschen stark verändert, alles diesbezüglich war positiv behaftet, aber die Siebziger brachten auch die dunklen Seiten hervor. An Plätzen wie dem Times Square konnte man jede verbotene Fantasie ausleben. Die Stadt New York durchlebte zudem eine ökonomische Krise, Mitte der siebziger Jahre wurden fünftausend Stellen bei der Polizei abgebaut. An einem Ort mitten in Manhattan, wo man sich jede verbotene Fantasie erfüllen kann, die Polizei in die falsche Richtung schaut und die Sexarbeiterinnen nicht schützt, passieren furchtbare Dinge. Die Serie behandelt nicht einen Kriminalfall, sondern beleuchtet die Umstände, die dazu führten, dass bestimmte Verbrechen dort geschehen konnten. Staffel Drei und Vier sind übrigens auch schon in Vorbereitung.

Das Beleuchten dunkler Seiten ist offensichtlich ein immer wiederkehrendes Motiv in Ihren filmischen Arbeiten?
Ich möchte auf die dunklen Seiten verweisen, weil mich interessiert, warum manche Menschen furchtbare Taten begehen – und andere eben nicht. Ich hatte eine recht schwierige Kindheit, aber ich bin nicht zu jemandem geworden, der Verbrechen begeht, sondern ich mache Filme. Mich fasziniert die Frage, warum Menschen Untaten begehen. Nachdem es dafür ein ziemlich großes Publikum gibt, dürfte das auch viele andere interessieren. Die Menschen sind von dem Thema offenbar fasziniert – und sind das immer gewesen. Dokumentarfilme sind nur heute das vorherrschende Medium, mit denen diesem Interesse Rechnung getragen wird. Verbrechen ist ein Teil von dem, was wir sind, was uns als menschliche Wesen ausmacht.