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Der Zufall als Methode – Marc Recha im Gespräch

| Andrea Winklbauer |

Das hierzulande bisher unbekannte Filmschaffen des katalanischen Regisseurs Marc Recha stand im Mittelpunkt eines Tributes beim Crossing Europe Filmfestival.

Es sei nicht einfach gewesen, alle fünf bisher entstandenen Langfilme des 1970 in einem Arbeitervorort von Barcelona geborenen Autodidakten überhaupt aufzutreiben, erzählt Crossing-Europe-Intendantin Christine Dollhofer. Die Filme El cielo sube (Heaven Rises, 1991), L’arbre de les cireres (The Cherry Tree, 1998), Les mans buides (Where Is Madame Catherine?, 2003), Pau i el seu germà (Pau and his Brother, 2001) und Dies d’Agost (August Days, 2006) enthüllten in Linz ein Erzählkonzept, in dem alles Fesselnde aus der genauen, manchmal fast zum Stillstand kommenden Beobachtung des Alltäglichen entsteht: Poesie, Komik, Schönheit, Tragik. Mit ray sprach ein von Jetlag und Publikumsgesprächen einigermaßen erschöpfter Marc Recha über autobiografische Fiktionen, die Bedeutung von Landschaften für das Filmemachen und den fließenden Prozess des Findens.

Ihr erster Langfilm El Cielo Sube war sehr experimentell in der erzählerischen Gestaltung und in vieler Hinsicht ganz anders als Ihre späteren Filme. In Schwarzweiß gedreht, behandelt er nach einer 1916 erschienenen Novelle des katalanischen Schriftstellers Eugenio d’Ors die Erlebnisse eines jungen Mannes, der an einem Sommernachmittag in einem Liegestuhl rastet und dabei auf Anraten seines Arztes weder sich bewegen noch denken soll. Wie sehen Sie den Film im Rückblick?
El Cielo Sube war mein erster Spielfilm. Ich hatte davor eine Reihe von Kurzfilmen gemacht. Das war eine schwierige Zeit, an die ich nicht gerne denke. Doch El Cielo Sube entstand in einer Zeit, in der ich vollständige Freiheit hatte. Ich habe den Film in drei Tagen abgedreht, ohne wirklichen Plan, ganz frei. An der Verwirklichung waren viele Freunde beteiligt. Eine sehr freundschaftliche Stimmung begleitete den gesamten Prozess. Der Film wurde in einer ähnlichen Weise gemacht wie mein neuer Spielfilm Dies d’Agost. Es kommt sehr selten vor und ist ein ganz großer Luxus, dass man einen Film genauso machen kann, wie man es sich vorstellt. Das trifft auf beide Filme zu. Grenzen habe ich dabei nur im Finanziellen erfahren. Das ist leider eine klare Realität der Filmindustrie.

Die Sensation dieses Films entsteht aus der unkonventionellen Art der Verbildlichung subjektiver Wahrnehmungen, die manchmal an frühe Experimentalfilme erinnert. War diese formale Analogie beabsichtigt?
Es war auf jeden Fall beabsichtigt, diesen Stil der 30er Jahre da drin zu haben, auch die Naivität der 20er Jahre. Ich wollte nicht manieristisch arbeiten, aber es war mir wichtig, und wir haben darüber viel diskutiert, wie man einen Stil hineinbringen kann. Die Herausforderung bestand darin, diese drei Stunden, von denen der Text handelt, zu porträtieren, die durch das Stillliegen vertieften Sinneswahrnehmungen in eine filmische Sprache zu übersetzen.

Wie war das Arbeiten mit einer literarischen Vorlage für Sie?
Simpel. Ich habe die etwa hundert Seiten Text vollständig in die Voice-over des Films übernommen. Es ist alles da, wortwörtlich. Was man hört, ist der ganze Text. Das war eine sehr einfache Entscheidung, einen Text zu nehmen und die Bilder dazu zu drehen. Ich wollte damals etwas tun, was ich noch nicht so richtig beherrscht habe. Ich war unfähig, selbst ein Script zu schreiben. Diesen fertigen Text wörtlich zu verwenden, hat es mir sehr leicht gemacht. Da waren keine theoretischen Fragen im Spiel. Die kamen dann erst beim Schnitt. Mit der literarischen Voice-over hatte ich übrigens bereits Erfahrung. Ich hatte dieses Verfahren schon in meinen früheren Kurzfilmen erprobt, als einen einfachen Weg, Narration zu kreieren.

Seither verfilmen Sie keine Literatur mehr, sondern schreiben – entweder allein oder mit Koautoren – die Scripts zu ihren Filmen selbst. Für Dies d’Agost gab es dann nicht einmal ein Skript. Die Art und Weise, wie Sie Ihre Filme entwickeln, hat sich also sehr verändert. Wie gehen Sie heute vor?
Das ist eine logische, aber auch organische Evolution, die sich im Lauf der Zeit vollzogen hat. Kino ist für mich so eng mit dem Leben verlinkt, dass man das als evolutionäre Weiterentwicklung innerhalb von etwa 20 Jahren bezeichnen kann. Das Erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an einem neuen Film zu arbeiten beginne, ist: Landschaft. Ich denke an Landschaften und Orte und wie es ist, dort zu sein, wie sich das Leben dort anfühlt. Das ist der eigentliche Ausgangspunkt.

Wenn Film und Leben also verlinkt sind, wie weit reicht dann das Autobiografische in Ihre Filme hinein?
Meine Filme haben alle mit meinem Leben zu tun, mit meinen Erfahrungen. Meine Herangehensweise ist sehr intuitiv. Deshalb ist es schwer für mich, meine eigene Arbeit zu analysieren und rational zu betrachten. Natürlich basieren meine Filme auf persönlichen Erfahrungen. In der Umsetzung beziehe ich mich auf die Methode des katalanischen Schriftstellers Josep Pla, der genau diese Art von autobiografischer Fiktion verwendet hat. Dazu kommt, dass zum Beispiel die Figuren meines jüngsten Films Dies d’Agost sich alle selbst spielen. Der Trompeter im Film spielt auch im Leben Trompete. Es sind alles Freunde. Es besteht kein Gegensatz zwischen Realität und Fiktion.

Hier in Linz konnte man alle Ihre fünf bisher entstandenen Spielfilme innerhalb von etwas mehr als 24 Stunden sehen. Vielleicht liegt es an der hohen Konzentration von Recha-Filmen, aber mir schien es darin auch um die Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren zu gehen: In El Cielo Sube ist die Befindlichkeit eines Menschen, der bewegungslos nur Eindrücke aufnimmt, Thema. In L’Arbre de les Cireres steht ein abgestorbener Kirschbaum für die unerfüllten Hoffnungen, die ein Ensemble von Protagonisten für ihr Leben hegte. In Pau i el seu germà begeben sich ein Mann und seine Mutter auf die Spuren des Bruders bzw. Sohnes, der Selbstmord begangen hat. In Dies d’Agost machen zwei Brüder, von denen einer gerade für ein Filmprojekt über einen verstorbenen Freund recherchiert, eine surreal anmutende Reise durch die katalanische Campagna. Auch hier ist viel Abwesendes gegenwärtig durch die Bilder der Landschaft und die seltsamen Funde darin.
Mir geht es nicht so sehr um eine Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, sondern viel mehr um Menschen, um die Kommunikation zwischen Menschen, und wie man diese Kommunikation durch kleine Details ausdrücken kann. Wenn ich an eine Person denke, dann nicht so sehr an das, was ihren Kern ausmacht, sondern an die Einzelheiten, aus denen eine Persönlichkeit besteht. Das ist es auch, was meine Charaktere ausmacht. Ich liebe es, mit Details zu arbeiten. Ich bewege mich nie im Zentrum einer Geschichte, einer Thematik, eines Charakters, sondern immer an den Rändern.

Und wie steht es mit dem Zufall?
Der Zufall ist in der Tat sehr wichtig. Wenn man, so wie ich, die Arbeit an einem Film mit einer Landschaft beginnt, kann man einfach nicht alles vorhersehen, was einem dort begegnen wird. Vieles entdecke ich erst durch die Landschaft und die Leute, die ich dort treffe. Für mich ist es von größter Bedeutung, diesen Fluss des Zufalls aufzunehmen. Es ist für mich aber auch wichtig, gut vorbereitet zu sein, eine Struktur zu haben. Ich improvisiere nicht. Ich probiere Dinge aus in einer Art methodologischem Prozess, innerhalb dessen der Zufall eben fließen kann. So entsteht der Film während der Arbeit daran.

Ist das ein wenig wie „trial and error“?
Es ist mehr ein „going on“, ein Weitermachen. Ich suche immer nach den positiven Seiten meiner Erfahrungen. Mir geht es darum, die Möglichkeiten, die ich beim Drehen entdecke, nicht als Probleme zu sehen, sondern Lösungen zu finden. Und manchmal entdecke ich Schönheit dabei. Dieser kreative Mechanismus, positive Lösungen für Probleme zu finden, ist für meine Arbeitsweise charakteristisch.

Wie sieht es mit künftigen Projekten aus?
Ich habe mehrere Filmprojekte in Vorbereitung, die völlig anders sind als alles, was ich bisher gemacht habe. In einem davon wird es um das Konzept von Welt gehen: eine Welt, die verschwindet und eine andere, die entsteht.