Das Programm des Senders „Crime + Investigation“ spiegelt das große populärkulturelle Interesse an Verbrechen deutlich wider.
Titel wie Bizarre Murders, Deep Undercover, Motive to Murder, The First 48 – Am Tatort mit den US-Ermittlern oder Murder Made Me Famous verweisen gleich auf den ersten Blick, dass Crime + Investigation ein wahres Eldorado für Fans in Sachen True Crime ist. Ob bekannte Taten, berühmt-berüchtigte Mörder oder routinemäßige Ermittlungsarbeit: Crime + Investigation thematisiert mit seinen Dokumentationen und Reportagen eine Vielzahl von Aspekten von Kriminalität. Ebenso vielfältig in Form und Inhalt sind die ausgestrahlten Sendunge. Neben routiniert produzierten Doku-Serien wie den eingangs genannten finden sich akribisch recherchierte Arbeiten wie etwa American Anarchist – der auch auf A-Filmfestivals gezeigt wurde – sowie absolute Glanzstücke dokumentarischen Schaffens, wie Werner Herzogs Filmreihe On Death Row.
Eine spezielle Gestaltungsweise trägt der Faszination, die ganz offensichtlich von Verbrechen ausgeht, Rechnung, werden dabei doch nicht nur Taten – und hierbei speziell ungelöste Fälle – und ihre Hintergründe beleuchtet, die Nachforschungen selbst rücken ebenso ins Zentrum.
Eine Australische Tragödie
Als exemplarisch für diese Arbeitsweise kann die dreiteilige Serie Barrenjoey Road (Der Mordfall Trudie Adams, 2018;
Regie Marc Radomsky) gelten. Die ursprünglich von ABC Australia produzierte Serie rollt einen Kriminalfall auf, der gegen Ende der siebziger Jahre einiges Aufsehen erregte und über die folgenden Jahrzehnte immer wieder für Schlagzeilen in „Down Under“ sorgen sollte. In der Nacht des 24. Juni 1978 verließ die 18-jährige Trudie Adams die Party eines Surfclubs an den Stränden von Sidney. Sie wurde noch gesehen, als auf der titelgebenden Barrenjoey Road ein Kastenwagen neben der jungen Frau hielt, doch in ihrem nur wenige Fahrminuten entfernten Elternhaus kam Trudie nie an. Trotz der in den nächsten Tagen intensiven Suchaktion fand sich nicht die kleinste Spur von ihr.
Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 04/2021
In Barrenjoey Road unternehmen die beiden Journalisten Ruby Jones und Neil Mercer den Versuch, knapp vier Jahrzehnte später neues Licht auf das mysteriöse Verschwinden von Trudie Adams zu bringen. Die beiden agieren dabei explizit vor der Kamera, wenn sie Zeit- und Augenzeugen sowie andere mit der Sache befasste Personen befragen, Archivmaterial aufspüren oder Schauplätze aufsuchen, die in dem Fall eine Rolle gespielt haben. Dass die beiden durchaus unterschiedliche Blickwinkel – Ruby Jones wurde zehn Jahre nach dem Verschwinden von Trudie Adams geboren, Mercer arbeitete bereits Anfang der achtziger Jahre als Kriminalreporter – haben, sorgt für eine eigene Dynamik dramaturgischer Natur. Die investigative Reportage evoziert durch das Agieren vor der Kamera, bei der man den Journalisten quasi über die Schulter blicken kann, Erinnerungen an fiktionale Filme wie etwa All the President’s Men oder Spotlight, die journalistische Detektivarbeit beleuchten. Die narrativen Strategien von Barrenjoey Road mit dem Aufgreifen bestimmter, unterschiedlicher Fäden, die manchmal auch ins Leere führen und dabei Spannungsbögen generieren, die fiktionalen Arbeiten nicht unähnlich sind, wird dabei evident.
Jeder wirklich interessante Kriminalfall verweist neben der Tat an sich und damit verknüpften individualpsychologischen
Aspekten auch auf andere gesellschaftliche Spannungsfelder sozialer, kultureller oder ökonomischer Natur. Jones und Mercer zeichnen im Rahmen ihrer Recherchen nicht nur die Persönlichkeit von Trudie Adams, sondern auch das Umfeld der jungen Frau. Dabei entsteht ein atmosphärisch dichtes Bild von dem Surferparadies an den Northern Beaches von Sydney, das die Stimmung im Australien jener Tage widerspiegelt. Zu den intensivsten Momenten zählt jene Sequenz, in der die beiden Journalisten gemeinsam mit dem Filmemacher Steve Otton Ausschnitte aus dessen 1977 gedrehter Dokumentation über besagte Surferszene, Highway One, begutachten – enthält der Film doch die einzigen erhaltenen Bewegtbilder von Trudie Adams. Doch die Nachforschungen bringen auch andere Seiten der australischen Gesellschaft aus dieser Zeit zutage. Manifest wird etwa ein Umgang mit Gewalt gegen Frauen, der in höchstem Maß verstörend erscheint.
Erst im Zuge des Verschwindens von Trudie Adams und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit wagten mehrere junge Frauen, die in den Jahren zuvor in dieser Region von zwei Männern von der Straße weg entführt und missbraucht worden waren, diese Taten zur Anzeige zu bringen. Ihr langes Zögern war ganz offensichtlich durch eine in dieser Richtung toxische Stimmung bedingt. Insgesamt 14 solcher Vergewaltigungsfälle in der Zeit von 1971 bis 1978 wurden publik, einige der Opfer identifizierten sogar einen Angreifer als den wegen verschiedener Delikte bereits polizeibekannten Neville Brian Tween. Eine Verbindung zum Verschwinden von Trudie Adams lag auf der Hand, doch die Ermittlungen brachten nichts Konkretes hervor.
Ruby Jones und Neil Mercer dokumentieren aber auch, dass der Fall Trudie Adams immer wieder aufgerollt wurde und die
Öffentlichkeit beschäftigte. Dabei kam es zu Enthüllungen, die die Erfolglosigkeit der Ermittlungen in einem zumindest fragwürdigen Licht erscheinen lässt. Denn Neville Tween pflegte über viele Jahre hinweg engen Kontakt mit einem Polizisten, der im Verlauf seiner Karriere zu einem ranghohen Beamten aufsteigen sollte. Der Verdacht, der Berufsverbrecher Tween könnte bei seinen kriminellen Umtrieben Rückendeckung auf hoher Ebene gehabt haben, erhielt neue Nahrung, als besagter Beamter wegen seiner Verwicklung in Drogengeschäfte zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Mit einer Mischung aus investigativen und narrativen Strategien entwickelt Barrenjoey Road aus der Chronologie eines bekannten Kriminalfalls ein Zeiten- und Sittenbild Australiens, das streckenweise die Züge eines Politthrillers annimmt.
Tod in Texas
Der dramaturgische Reiz der Ermittlung an sich – die Spurensuche – rückt in der sechsteiligen Serie The Eleven (2017) noch stärker in den Vordergrund. Im Zentrum steht dabei eine Mordserie im texanischen Galveston County, der elf Mädchen zwischen 1971 und 1978 zum Opfer fielen. Auf Spurensuche begibt sich ein Duo, dass allein von den Charakteren her auch in die Dramaturgie eines fiktionalen Krimis passen würde:
Lise Olsen, Journalistin des „Houston Chronicle“, und Fred Paige, ehemaliger Detective des Galveston Police Department. Und ihre Recherchen haben einen Ausgangspunkt, der auch dem Skript eines guten Krimis entstammen könnte, denn es gibt einen ganz konkreten Anfangsverdacht. Fred Paige hatte noch während seiner Dienstzeit einen dieser Fälle erneut aufgerollt und war anhand dieses „Cold Case“ auf einen Brief gestoßen, in dem ein verurteilter Mörder namens Edward Harold Bell – er hatte einen Mann erschossen – sich dieser Mädchenmorde bezichtigte. Einige der Opfer nannte er namentlich, beschrieb grausige Details der Taten, in anderen Fällen blieb er eher vage und manchmal auch kryptisch. Obwohl Bell als bizarrer Charakter erschien, erstaunte es Paige, dass die Staatsanwaltschaft das Bekennerschreiben als Erfindung eines verwirrten Geistes klassifizierte, das zu wenig Tatsachensubstrat enthielt, um konkrete Ermittlungen zu rechtfertigen.
Gemeinsam mit der erfahrenen Journalistin Olsen – sie war die einzige, die Bell für ein Gespräch akzeptierte – begibt sich der pensionierte Ermittler Paige auf die Spuren dieser unheimlichen Mordserie, die auch nach Jahrzehnten noch immer im Dunklen liegt. Auch im Fall von The Eleven agieren die Protagonisten Olsen und Paige bei Befragungen mit Menschen unterschiedlicher Couleurs, die mit den Fällen befasst bzw. darin involviert sind und suchen die Tatorte mit der Kamera auf. Manche dieser Sequenzen haben eher atmosphärischen als investigativen Charakter, die Recherche selbst wird damit dramaturgisch effizient ins Bild gerückt. Dass bei The Eleven ein gewisses Maß an Dramatisierung Gestaltungselement ist, wird am Beginn jeder der sechs Episoden deutlich, die von einer weiblichen Stimme aus dem Off wie folgt eingeleitet wird: „Let me tell you a story. It’s Texas, it’s the 1970s, people in the towns surrounding Galveston county are living a nightmare.“
Der verstärkte Einsatz von Reenactment-Sequenzen erhöht die Spannungsbögen zusätzlich, mit dieser Form der dokudramatischen Aufbereitung beleuchtet The Eleven besagte Reihe von Morden anhand einer Faktenlage, die etliche Ingredienzen eines gestandenen Thrillers beinhaltet. So werden etwa schwere Defizite im Polizeiapparat virulent: Für zwei der Morde wurde ein Mann verurteilt, doch dessen Geständnis – wie er selbst bis zu seinem Tod im Gefängnis beteuerte – hatte man offenbar mit vorgehaltener Waffe erpresst. Eine Anschuldigung, die umso plausibler erschien, nachdem die beiden verantwortlichen Ermittler sich wenige Jahre nach dem vermeintlichen Geständnis als hartgesottene Kriminelle erwiesen, die mehrere Banküberfälle verübt hatten. Und da ist da noch der Hauptverdächtige Edward Harold Bell, gegen den sich auch abseits seines später dementierten Bekennerschreibens zahlreiche Verdachtsmomente ergeben. In den Interviews, die er Lise Olsen im Gefängnis gibt, erscheint Bell als verstörend anmutende Persönlichkeit, die zwischen Verschrobenheit und lauernder Bedrohlichkeit changiert. Und dabei wirkt er streckenweise tatsächlich ein wenig wie ein sinistrer Charakter aus der Populärkultur – so hatte er etwa seinem Bekennerschreiben den Reim „The Eleven that went to heaven“ beigefügt. Ein makabres Detail, das sich ins ins bedrückende Gesamtbild einfügt, das The Eleven vom Leben und Sterben in Texas zeichnet.