Deutschland in hundert Filmen: Das Filmarchiv Austria zeigt in einer gewaltigen Retrospektive seit Anfang Mai bis Ende Juni eine naturgemäß uferlose Zusammenschau an Spielfilmen seit der Wende vor 20 Jahren.
Deutschland 1989, die Mauer fällt. Die Wende 1989 brachte in der Folge politische Wendehälse hervor und kalkulierte Firmenübernamen, die in Schließungen und angepeilten Monopolstellungen mündeten. Brachte der Fall der Mauer auch Wenderegisseure hervor, eine neue Filmkultur des geeinten Deutschlands?
Andreas Dresen (Halbe Treppe, Sommer vorm Balkon) schrieb unlängst in der Zeit, dass DEFA-Regisseure der älteren und mittleren Generation in der westdeutschen Produktionslandschaft keine Chance hatten, vielfach resignierten. Junge wie er, die eben die Konrad-Wolf-Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam absolviert hatten, hingegen konnten arbeiten. Damit spricht Dresen an, was schon grundsätzlich für die politische Neuordnung vermerkt wurde: Die Neuen Bundesländer gliederten sich in das Alte Deutschland ein. Die Wende bedeutete nicht, dass westdeutsche Filmemacher sich in ästhetischer oder inhaltlicher Hinsicht dem ostdeutschen Filmschaffen zuwendeten. Das wäre wahrscheinlich lächerlich gewesen und für Retro-Chic noch zu früh. Jedenfalls zeigt es ein Gefälle an. Gesamtdeutsche Spielfilme nach 1989 gestalteten sich weder weniger bürgerlich noch orientierten sie sich verstärkt an einer proklamierten DDR-Geschlechterpolitik oder dem so genannten sozialistischen Realismus. Die Tabus der Filmkunst von drüben wurden eingemottet, Oliver Hirschbiegel (Das Experiment) fand seine Arbeit im Zeichen des Formalismus nicht suspekt, Oskar Roehler (Der alte Affe Angst) blieb auch nach der Wende Nihilist. Neue deutsche Filme seit 1989, das wurde bereits mehrfach festgestellt, fanden ihre Anschlüsse im separierten westdeutschen Kino früherer Jahre, ein bisschen so wie das zerzauste Nachkriegs-Österreich seine Einheit aus atavistischen Identitätsbildern des zerfallenen Habsburgerreichs stiftete. Auch das Genrekino expandierte, Detlev Buck vollzog mit Knallhart den Brückenschlag zum US-amerikanischen Gangsterkino, seine Plattenbau-Posse richtet sich an männlichen Posen hoch und zieht – der Clip-Semiotik des Westcoast Rap folgend – das bereits besungene Ghetto-Erlebnis in Neukölln nun auch bildlich groß auf.
Eine prominente (fast schon Genre-)Figur haben die neuen den alten Bundesländern aber doch gelassen oder geschenkt, je nachdem, wie man es sehen will: die des Ossi. Er haust bevorzugt in weniger schönen Häusern und lässt sich zudem durch Trainingsanzug und komische Dialekte relativ leicht erkennen. Habituell kommt das dem Bild eines anderen fixen Bewohners des neuen deutschen Kinos nahe, dem des Zuwanderers. Da Thüringer und Türken aber, darüber herrscht gesamtdeutsche Einigkeit, kulturell nicht so viel gemeinsam haben, erstaunt es, wie unterschiedliche soziale Milieus doch thematisch parallel geführt werden: Knast, Drogen, Entwurzelung/Identitätszweifel oder ein karges Leben sind Wegmarken, die sich durch etliche Arbeiten ziehen, mal mit mehr (wie bei den „Ich-zeig-die-Wirklichkeit-wie-sie-ist-Filmen Preußisch Gangstar von Irma Stelmach und Bartosz Werner), mal mit weniger Distinktion wie bei Thomas Arslans Kreuzberg-Streifzug Dealer. Ausnahmeerscheinungen sind Autorenfilmer wie Andreas Dresen (Nachtgestalten, Halbe Treppe) oder Christian Petzold (Yella, Wolfsburg), die das derart erschlossene Deutschland-Bild nicht weiter durch Variationen von Außenseiter-Topoi nähren, sondern in sämtlichen ihrer Arbeiten sozialen und ökonomischen Realitäten näher zu rücken versuchen. Entgegen der Welt als Puppenheim, wie bei Marcus Rosenmüllers Wer früher stirbt, ist länger tot, fordern sie die Wahrnehmung des Publikums hinter den Mythen gängiger Erzählungen. So interessiert sich Petzold in Jerichow weder für ethnische Ökonomien, obwohl ein türkischer Unternehmer Teil der mysteriösen Dreiecksgeschichte ist, noch für das Thema „Migranten“ im Allgemeinen, das gemeinsam mit „Berlin“ und „DDR/BRD“ die Schwerpunkte dieser erstaunlich großen Filmschau bildet. Petzold entwirft Jerichow im ostdeutschen Sachsen-Anhalt als eine Art Sehnsuchtsort der Zurückgebliebenen: von Menschen, deren Herkunft nicht weiter wichtig ist, die sich aber an einen anderen Ort, in ein anderes Leben sehnen. Bei Petzold und Dresen bleiben die Akteure oft schon auf den ersten Metern ihrer Utopien stecken, aber sie hinterlassen ein paar Kratzer in einer spröden Wirklichkeit. Damit, sich eine neue, eine bessere Heimat einzurichten, hat das aber wenig zu tun. Eine Reihe schöner, einzelner Arbeiten zeigt, dass Wunsch- und Sehnsuchtsorte nicht errichtet oder verteidigt werden können, sie passieren. Henner Wincklers Debütfilm Klassenfahrt, die Annäherung zweier Schüler in einem polnischen Badeort, ist so ein Fall. Oder Vergiss Amerika von Vanessa Jopp – eine freudlose Kleinstadt im Osten, drei Jugendliche und eine Nacht, in der die soziale Wunschmaschine ordentlich angekurbelt wird. Auch En Garde der deutsch-kurdischen Regisseurin Ayse Polat will nicht die soziale Unterwerfung eines Asylheims trotzig bestätigen, sondern lässt zwei Jugendliche aus ihrem Verblieben-Sein heraustreten. Die drei Filme sind österreichische Erstaufführungen.
Deutschland in hundert Spielfilmen, ohne Korsett, ohne Rahmen – das ist weit gefasst. Die Beziehung des Beziehungslosen ist nicht Programm, nicht zu ordnende Parameter von thematischen Ausrichtungen und subjektiven Zugängen liegen ganz einfach vor. Nichts als Gespenster könnte man diese über die Leinwände flirrenden Figuren und Geschichten auch nennen, der gleichnamige Film von Martin Gypkens erhebt seinerseits keinerlei Anspruch auf eine große Erzählung, lässt seine lose montierten Episoden biografischer Ausschnitte recht selbstsicher so stehen. Ähnlich trocken positionieren sich zwei andere Filme, die auf ihre Weise sehr schön von Deutschland erzählen: Karniggels, Detlev Bucks erster Spielfilm, richtet im nördlichsten Bundesland Schleswig-Holstein Chaos in der ländlichen Polizeiszene an: Ein ziemlich verunsicherter Beamter, eine mysteriöse Kuhmordserie, flüchtige Karnickel zeugten 1991 von einer großen Verwirrung und einer ebensolchen Farce. Das medial hochgerüstete Berlin Bucks war damals noch weit. Nichts mit dem ästhetischen Schaudern von Konzentrationslager-Filmen hat hingegen Am Ende kommen Touristen zu tun. Regisseur Robert Thalheim brachte eigene Erfahrungen als Zivildiener in Auschwitz ein und justiert in diesem Spielfilm kollektive Vorstellungen von Fragen der Schuld – Wie leben die Bewohner von Auschwitz damit? – mit seinen eigenen, im Lauf der Erzählung nach und nach gemachten Erfahrungen. Ein stiller, sympathischer, kluger Film über ein großes Erbe.