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Deux jours, une nuit

Unmenschliche Alternative

| Roman Scheiber |
In ihrem berührenden Sozialdrama „Deux jours, une nuit“ schicken die Brüder Dardenne Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard in den Kampf um ihren Fabriksarbeitsplatz. Ein Gespräch mit den Regisseuren über Humanität, Grundsätze der Zusammenarbeit und die Zuverlässigkeit Schweizer Uhrwerke.

In ihrem berührenden Sozialdrama „Deux jours, une nuit“ schicken die Brüder Dardenne Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard in den Kampf um ihren Fabriksarbeitsplatz.
Ein Gespräch mit den Regisseuren über Humanität, Grundsätze der Zusammenarbeit und die Zuverlässigkeit Schweizer Uhrwerke.

Die Wirtschaftskrise als Sozialkrise. Menschlichkeit als einziger Ausweg. Verteilungsgerechtigkeit im Mikrokosmos eines Unternehmens, einer Abteilung, einer Mitarbeiterin. Sandra (Marion Cotillard) war nach einem Nervenzusammenbruch monatelang arbeitsunfähig. Als sie in ihre Fabrik zurückkehren möchte, ist ihr Arbeitsplatz so gut wie wegrationalisiert. Eine Katastrophe, denn um die Raten für das Vorstadthäuschen abzubezahlen und die Kinder ordentlich durchzubringen, reicht der Job ihres Mannes nicht. Doch eine Chance bleibt ihr: Kann sie die Mehrheit der anderen 15 Mitarbeiter ihrer Abteilung überreden, auf den bereits zugesagten Bonus von tausend Euro zu verzichten, darf sie ihre Stelle behalten. Zwei Tage, eine Nacht hat sie Zeit dafür. Nun geht es buchstäblich um die Antwort und um die Verantwortung jedes Einzelnen. Von ihrem verständnisvollen Mann unterstützt, klappert Sandra mit einer Schachtel Beruhigungspillen in der Handtasche ihre Kollegen ab. Was in ihren Augen als entwürdigende Betteltour beginnt, entwickelt sich zu einer – in einem Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne in dieser Intensität überraschenden – emotionalen Achterbahnfahrt und zu einem mitreißenden Kampf eines Individuums um soziale Gleichbehandlung.

In stilistischer Hinsicht unterscheidet sich Deux jours, une nuit von den bisherigen Arbeiten der Brüder, welche zu den wenigen Filmemachern gehören, die bereits zweimal – für Rosetta (1999) und L’Enfant (Das Kind, 2005) – mit der Goldenen Palme prämiert wurden. Seit Le Gamin au vélo (Der Junge mit dem Fahrrad, 2011) ist eine Hinwendung zum Eingängigeren, weniger Radikalen, jedoch nicht weniger Berührenden zu bemerken; das neue Werk ist dialoglastiger und kursorischer als frühere Dardenne-Filme, die Handkamera wirkt nicht mehr so gehetzt, die Körperlichkeit tritt ein wenig in den Hintergrund. Das liegt auch an der narrativen Prämisse des Films: Überzeugungsarbeit ist nicht nur durch Gesten leistbar, und es ist eine ganze Reihe von Leuten, die hier überzeugt werden muss.

In jeder anderen Hinsicht ist Deux jours, une nuit ein typischer Dardenne-Film. Es geht um Menschlichkeit, Mitgefühl und Verantwortung, um einen genauen „dokumentarischen“ Blick, um den Fokus auf Figuren in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit. Immer noch ist es den Dardennes mehr darum zu tun, moralische Konflikte sozial benachteiligter Charaktere realistisch darzustellen, als ein bestimmtes Milieu zu erkunden. Durch Sandras erzwungenen Wochenendausflug lernen wir jede einzelne und jeden einzelnen ihrer Kolleginnen und Kollegen und ihnen Nahestehende in einer ziemlich prekären Situation recht gut kennen. Wir sehen, wie sich der Grundkonflikt der Kollegen (entweder kein Job für Sandra oder weniger Geld für mich und meine Liebsten) in mehr oder weniger existenziellen Varianten ausschält. Wir fühlen mit und sind an Sandras Seite, wenn die Kollegen mit der Entscheidung ringen, wenn Sandra abgewiesen oder gar erniedrigt wird. Wir erkennen, wie unmenschlich der ganze Auftrag eigentlich ist, und dass man Menschen nicht vor solche Alternativen stellen sollte. Und dennoch, nichtsdestoweniger: Wir glauben an Sandra.

Eines der auffälligsten Merkmale des Films ist Marion Cotillard, mit der sie nach Cécile de France in Le Gamin au vélo nun zum zweiten Mal eine prominente Schauspielerin verpflichteten, nachdem Sie über Jahre ausschließlich mit Laiendarstellern gearbeitet haben. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
Jean-Pierre Dardenne:
Dafür gibt es eigentlich keinen besonderen Grund, abgesehen von dem gegenseitigen Wunsch, einmal zusammenzuarbeiten. Als wir uns zum ersten Mal trafen, war eigentlich schnell klar, dass wir unbedingt einen Film zusammen machen wollten. Es war – im cineastischen Sinn – sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Allerdings hatten wir Marion eigentlich für eine andere Rolle vorgesehen, in der sie eine Ärztin spielen sollte. Das Projekt kam dann aber erst einmal nicht zustande, woraufhin wir die Arbeit an Deux jours, une nuit wieder aufnahmen. Die Idee zum Film hatten wir ja bereits vor zehn Jahren. Nachdem Marion dann das Drehbuch gelesen hatte, sagte sie sofort zu. Ihr gefiel die Rolle der Sandra, aber es war natürlich auch eine ganz schöne Herausforderung für sie, denn sie muss ja quasi alles von sich abschütteln, was wir über sie als Schauspielerin und berühmte Persönlichkeit wissen, damit sie als Sandra überhaupt glaubwürdig wird.

Warum hat es so lange gedauert, bis der Film zustande kam? Das Thema Wirtschaftskrise, oder in dem Fall ganz konkret Solidarität, war ja auch vor zehn Jahren schon hochaktuell.
Luc Dardenne:
Ja, das stimmt schon, aber wir haben die Idee trotzdem zwei- oder dreimal wieder beiseitegelegt, weil wir aus verschiedenen Gründen nicht weiterkamen. Das lag teilweise an den Figuren, aber auch daran, dass wir damals nicht die passenden Darsteller hatten. Was das Thema angeht, das hat über die Jahre nicht an Aktualität verloren. Unsere wirtschaftliche und soziale Situation ist geprägt von einem schrecklichen Wettbewerbsdenken, in dem Rivalität und Isolation vorherrschen. Solidarität gibt es so gut wie keine mehr, jeder hat nur noch Angst um seine eigene Position, seinen eigenen Job, sein Haus, seine Gesundheit. Obwohl es uns nicht primär darum ging, einen Film über Solidarität zu drehen. Vielmehr wollten wir die Geschichte dieser Frau erzählen, die uns nicht mehr aus dem Kopf ging. Aber Sandras Fall zeigt eben, dass Solidarität auch heute noch möglich ist, wenn wir bereit sind, von unserem hohen Ross herunterzusteigen und von unserem selbstgerechten Lebensstandard ein Stück abzurücken.

Die Struktur des Films ist zwangsläufig auf Wiederholung angelegt, zumal Sandra einen Kollegen nach dem anderen aufsuchen muss, um ihren Arbeitspatz zu sichern. Trotzdem bleibt die Geschichte bis zum Schluss spannender als so mancher Krimi.
Jean-Pierre:
Ich weiß, was Sie meinen. Natürlich hatten wir anfangs unsere Bedenken, was die Struktur angeht. Aber dann haben wir festgestellt, dass aus der Wiederholung eine ganz eigene Dynamik hervorgeht, weil man jedes Mal wieder vor der gleichen Frage steht, nämlich ob sich der Kollege oder die Kollegin jetzt für oder gegen Sandra entscheidet. Zudem sind die Figuren an sich sehr verschieden, jeder hat seine ganz eigenen Beweggründe, Ansichten und Probleme, und wir wissen ja zunächst nicht, auf was für einen Typ Mensch sie als Nächstes trifft. Jede Begegnung ist ein neues Duell zwischen Sandra und ihrem Gegenüber.

Wie alle Ihre Filme spielt auch dieser wieder in Ihrer belgischen Heimat. Haben Sie zumindest schon mal mit dem Gedanken gespielt, vielleicht woanders zu drehen?
Luc:
Nein. Wir drehen seit 30 Jahren in der gleichen Gegend, in der Umgebung von Seraing. Uns verbindet persönlich sehr viel mit diesem Ort. Wir sind dort in der Nähe aufgewachsen. In der Stadt leben vor allem Menschen aus der Arbeiterklasse, weshalb sie auch eine der ersten war, die von der Wirtschaftskrise erschüttert wurde. Früher war es ein sehr lebhafter Ort, mit Geschäften und Cafés. Heute kommt sie eher einer Geisterstadt gleich. Diese Realität hat unser Kino, unsere Filme weitgehend geprägt und inspiriert uns bis heute zu neuen Figuren und Geschichten. Das heißt, wir haben eigentlich keine Ambitionen, bald woanders zu arbeiten.

Sie finden ja nicht nur Ihre Figuren, sondern auch Ihre Schauspieler oftmals sozusagen auf der Straße. Wenn dann plötzlich ein Profi wie Marion Cotillard im Ensemble auftaucht, verändert das Ihre Arbeitsweise?
Jean-Pierre:
Nein, der Probenprozess ist im Grunde der gleiche. Damit fangen wir immer mindestens fünf Wochen vor Drehbeginn an, und zwar komplett mit Kostümen und Kameras und an den jeweiligen Drehorten. Das ist extrem wichtig, weil das die Zeit ist, in der die Geschichte ihren Rhythmus findet, wo wir Sachen ausprobieren und den Dingen ihren Lauf lassen. Wenn alles gut geht, findet der Film dabei eigentlich schon seine endgültige Form, ohne dass wir viel dazu beitragen müssen. Das Drehen läuft dann fast automatisch ab.

Luc: Das ist ein bisschen wie Meditation.

Funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden eigentlich ähnlich harmonisch, wie in Gesprächen wie diesem? Sind Sie sich grundsätzlich nie uneinig?
Jean-Pierre:
Das wäre schön. (Lacht.)

Wie finden Sie dann Ihren gemeinsamen Rhythmus?
Jean-Pierre:
Was Uneinigkeiten angeht, ist das bei uns nicht so viel anders als bei Konflikten, die man mit sich selbst austrägt, wenn Sie beispielsweise morgens zum Frühstück über etwas Bestimmtes nachdenken und am Abend denken Sie plötzlich ganz anders darüber. Auch wer alleine arbeitet, ändert ja immer wieder seine Meinung und muss mitunter Kompromisse eingehen. Wir finden unseren Rhythmus, wie Sie sagen, im gegenseitigen Austausch von Ideen, was nicht heißt, dass wir von vornherein immer die gleiche Meinung haben.

Wie muss man sich das am Set vorstellen? Wer sagt da zum Beispiel „Action“ und wer „Cut“?
Luc:
Wir beide. Wie gesagt, wir proben ja sehr lange und ausführlich, das gilt auch für die Kamera. Das geht dann so weit, dass wir zu Drehbeginn eigentlich größtenteils schon ziemlich genau wissen, wie wir uns die Szenen ungefähr vorstellen. Und wenn nicht, suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Es gibt da für uns keine starren Regeln oder Raster, wie das genau vonstatten gehen muss. Einer von uns beiden macht einen Vorschlag, den der andere entweder unterstützt oder ablehnt, je nachdem.

Jean-Pierre: Bis vor Kurzem sind wir auch immer noch davon ausgegangen, dass, falls beispielsweise einer von uns während der Dreharbeiten länger krank wird, der andere den Film dann trotzdem zu Ende bringen kann. Mittlerweile sehen wir das anders. Wir brauchen  jeweils den anderen, um kreativ und künstlerisch überhaupt tätig sein zu können. Wir sind in dieser Hinsicht sozusagen gehandicapt.

Apropos Rhythmus: Was auffällt, ist die Regelmäßigkeit, mit der Sie alle drei Jahre einen neuen Film präsentieren.
Jean-Pierre:
Das klingt fast, als würden wir wie ein Schweizer Uhrwerk arbeiten, aber ganz so ist es auch nicht. Wobei wir mit Deux jours, une nuit eigentlich sogar vier Wochen früher fertig waren, als geplant. Aber da waren einfach die Umstände glücklich. Denn wie gesagt, eigentlich hatten wir nach Le Gamin au vélo erst ein anderes Drehbuch begonnen, dass wir dann aus diversen Gründen wieder auf Eis gelegt haben. Das heißt, es hätte auch ganz anders kommen können. Aber jetzt ist der Film da und wenn alles gut läuft, sehen wir uns in mehr oder weniger drei Jahren vielleicht wieder.