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Serie „Ratched“

Netflix-Serie

Diagnose: Überambitioniert

| Katharina Börries |

Mildred Ratched ist Filmfans aus Miloš Formans Einer flog über das Kuckucksnest (1975) bestens bekannt. Dass Regisseur Ryan Murphy und Netflix sich 2020 offenbar auf die Suche nach ihren bösen Wurzeln begeben, legt einen Prequel-Charakter nahe. Doch so richtig kann die Serie „Ratched“ damit nicht punkten.

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Krankenhäuser sind für die meisten Menschen beklemmende Orte. Geht es dann um den Bereich der Psychiatrie, haftet den Anstalten oft etwas noch Schaurigeres an – immerhin sind sie ein beliebter Schauplatz für Horrorfilme. Nicht übernatürlich, aber unbarmherzig und einschüchternd zeigen sie sich in Einer flog über das Kuckucksnest. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ken Kesey (1962) wurde schon in ihrem Erscheinungsjahr 1975 hoch gelobt und gilt, mit fünf Oscars und diversen anderen Preisen ausgezeichnet, als hochkarätige Tragikomödie. Einen der Oscars erhielt auch Louise Fletcher, die als strenge Schwester Ratched die Station leitet, auf die sich Gefängnisinsasse McMurphy (Jack Nicholson) einschmuggelt, um als psychisch Kranker nicht den Arbeitsdienst im Gefängnis antreten zu müssen. Ratched ist manipulativ und demütigend und triggert die Komplexe ihrer Patienten und Patientinnen, um Macht über sie auszuüben. Eine böse Frau, sadistisch könnte man sagen. Wie sie so wurde, das möchte offenbar die nach ihr benannte Netflix-Serie herausfinden.

American Horror Story-Darstellerin und Murphy-Liebling Sarah Paulson (Glass, Der Distelfink) verkörpert die junge Ratched, die kühl und unnahbar auftritt und sich im Jahre 1947 in das kalifornische Lucia State Hospital einschleicht, um… ja, warum eigentlich? Darum geht es in der acht Episoden umfassenden Geschichte. Sie hängt zusammen mit einem jungen Mann (AHS-Kollege Finn Wittrock), der in schierer Wut mehrere Priester tötet und dadurch in die Obhut von Psychiater Dr. Hanover (Jon Jon Briones) gegeben wird, der sich für eine Revolution des Gesundheitswesens einsetzt. Korrekturen des Geistes sollen zur Genesung verhelfen. Doch die an die Realität angelehnten Methoden sind bestialisch und erfüllen rückblickend nicht einmal ihren Zweck. Dr. Hanover möchte mit ihnen aber ein neues Zeitalter einläuten. Homosexualität auszurotten steht dabei ebenso auf dem Plan wie die Patientinnen und Patienten mittels Lobotomie zu vor sich hin vegetierenden Zombies zu machen.

Währenddessen versucht Ratched mit manipulativen Spielchen ihren Platz an der Spitze der Einrichtung einzunehmen, sehr zum Unmut ihrer Konkurrentin, Oberschwester Bucket (Judy Davis), die übrigens selbst ganz gut dem Bild der Kuckucksnest-Aufseherin entspricht. Immerhin ist sie nicht zimperlich. Und Ratched auch nicht. Daher gesellt sich zu dem anfänglichen Thriller im Film Noir-Stil neben späterem Drama auch einiges an Horror und Splatter-Elementen.

Dieser Mix klingt spannend, allerdings verliert er seinen Zauber durch die Geschichte, die, wie es scheint, unbedingt ins filmische Korsett gezwungen werden musste. Natürlich werden die Intrigen weitergesponnen, die Manipulationen haben Folgen, und Nebenfiguren wie Sharon Stone sorgen für neue Wendungen. Irgendwann wird auch der Grund klar, aus dem Ratched all dies tut. Zuschauer lernen dabei eine neue Mildred kennen, die sich gemeinsam mit Paulsons Spiel deutlich verändert. Der Eisblock Ratched taut auf. Allerdings so sehr, dass er irgendwann butterweich erscheint und sogar Platz für gesellschaftliche Beziehungsthemen in Zusammenarbeit mit Sex and the City-Darstellerin Cynthia Nixon bietet. Aber wie passt das zusammen? Plötzlich wankt die Verbindung zur Sadistin aus dem Kuckucksnest.

Was man der Serie nicht vorwerfen kann, ist Angst vor harten Themen und fehlende Opulenz. Neben den medizinischen Methoden geht es auch um die Todesstrafe, Homosexualität, die Definition von Gerechtigkeit und Traumata, die in keinem Prequel fehlen dürfen. Außerdem ist die Handlung nicht umsonst im Amerika kurz nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt. All das spielt sich in extravaganten Kulissen ab, wie Ryan Murphy sie schon in Hollywood einsetzte. Selbst das schäbige Hotel hat irgendwie Charme. Und mittendrin sieht man Mildred Ratched, die in bunten Kostümen ein Farbfleck in der Düsternis der Themen ist. Das ist durchaus schön anzusehen – was dafür beizeiten irritiert, sind künstlerische Kniffe, die nicht so recht Sinn ergeben und Unruhe ins Seherlebnis bringen. Etwa wenn Schwester Ratched den Gang entlanggeht und auf einmal alles grün ist. Oder rot. Die Splitscreens machen da schon mehr Freude, da sie bei parallel ablaufenden Szenen für einige Spannungsmomente sorgen.

Insgesamt ist Ratched eine Serie, die mit der Figur, um die sie sich dreht, bricht. Die Krankenschwester ist kein Engel der Barmherzigkeit, wie sie von einigen bezeichnet wird. Folgt man dem American Film Institute, gehört Mildred Ratched sogar in die Top Ten der Filmbösewichte. Was dieser Interpretation zum Verhängnis wird, ist ihre Verwandlung, die sie wahrscheinlich menschlicher machen soll, den Stoff aber auch in gewisser Weise herkömmlich erscheinen lässt. Auch die hochwertige stilistische Umsetzung, umgeben von als Hommage anzusehenden Elementen aus Einer flog über das Kuckucksnest, tröstet nicht vollständig darüber hinweg.

Die Idee zur Serie stammt übrigens vom jungen Drehbuchautor Evan Romansky, der als Student die Vorgeschichte der Schwester Ratched ersann. Über mehrere Umwege landete das Skript schließlich bei Ryan Murphy, der nach dem Erwerb der Rechte an der Figur bereits einen Deal mit Netflix über zwei Staffeln abgeschlossen hat. Nach 48 Millionen Zuschauern innerhalb von 28 Tagen, wie der Streaming-Dienst verlauten ließ, scheint sich dieser schon gelohnt zu haben. Ein Wiedersehen mit Mildred Ratched wird es also in jedem Fall geben.