ray Filmmagazin » Themen » Im Westen nichts Neues: Die Blutpumpe
Im Westen nichts Neues

Im Westen nichts Neues

Die Blutpumpe

| Jörg Schiffauer |
Anlässlich der Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“: Betrachtungen zur Adaptions-Geschichte von Erich Maria Remarques großem Antikriegsroman.

Als sich der Gymnasiallehrer Kantorek so richtig in seine Brandrede hineingesteigert hat, bemüht er schließlich sogar den altrömischen Dichter Horaz: „Dulce et decorum est pro patria mori.“ (Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben) lautet jener Satz, mit dem der Professor die Schüler der Abschlussklasse ermuntern will, sich freiwillig zu melden und in jenen Krieg zu ziehen, der später als der Erste Weltkrieg firmieren wird. Und tatsächlich folgen alle dem Aufruf des von ihnen verehrten Professors und lassen sich von der im Deutschen Reich noch allgemein vorherrschenden Begeisterung für den bevorstehenden Feldzug, von dem alle glauben, er würde nur von kurzer Dauer sein, mitreißen.

Mit dieser Sequenz beginnt Lewis Milestone seine Verfilmung von Erich Maria Remarques 1929 veröffentlichtem Antikriegs-roman „Im Westen nichts Neues“, der längst zum internationalen Klassiker avanciert ist. Dass sich Hollywood der Verfilmung des deutschen Antikriegsbuchs annahm, mag auch darin begründet liegen, dass sich in der Heimat des Verfassers neben großer Zustimmung auch erbitterter Widerstand gegen das Buch formierte. Remarque, der selbst als Soldat an der Westfront gekämpft hatte, beschreibt den dortigen jahrelangen Stellungskrieg als blutiges, zutiefst unmenschliches Schlachten, dem so gar nichts Heldenhaftes anhaftet, mit eindrucksvoll nüchterner Präzision. Das passte natürlich nicht in das revisionistische Geschichtsbild rechtsradikaler und nationalkonservativer Kräfte mit ihrer sorgsam gepflegten „Dolchstoßlegende“, die die Verantwortung für die Niederlage auf dem Schlachtfeld der Politik zuschieben wollte. Insbesondere die Nationalsozialisten griffen das Buch auf das Heftigste an. Hans Zöbernitz etwa, selbst Kriegsteilnehmer, später Mitglied des Freikorps Epp und SA-Brigadeführer, wetterte in einem Artikel im „Völkischen Beobachter“ vom 14. August 1929 gegen den vermeintlichen Angriff auf den deutschen Frontsoldaten: „Das ganze Buch ist eine krampfhafte Betrachtung durch die Abortbrille. Es ist aus der Latrinenperspektive geschrieben. Und so wird schließlich das ‚Denkmal des Unbekannten Soldaten‘ ein einziger großer Kothaufen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder war Remarque gar nicht an der Front, was dem plumpen Blödsinn nach wahrscheinlich ist, oder er lügt mit frecher Stirne aus einem bestimmten Grund.“ Die Werke Remarques gehörten auch zu jenen, die Opfer der von den Nazis 1933 veranstalteten berüchtigten Bücherverbrennungen wurden.

Bei einer der ersten Aufführungen am 5. Dezember 1930 im Kino Mozartsaal am Berliner Nollendorfplatz machten die Nazis auch gegen Lewis Milestones Film mobil, Joseph Goebbels war bei der Störaktion des braunen Sturmtrupps persönlich zugegen und hielt – wie der 1944 in Auschwitz ermordete Leiter des Mozartsaals und Publizist Hans Brodnitz in „Kino Intim“ notiert – während der erzwungenen Unterbrechung eine Ansprache. Der großen Resonanz, die Remarques Roman widerfuhr, konnte das keinen Abbruch tun, mit bis Jänner 1933 1,2 Millionen verkauften Exemplaren war „Im Westen nichts Neues“ einer der bis dahin größten Erfolge der deutschen Literaturgeschichte.

Es mag angesichts der Brisanz von Erich Maria Remarques Texts nachvollziehbar sein, dass sich inmitten der Stürme der Weimarer Republik eine Verfilmung von „Im Westen nichts Neues“ in Deutschland selbst nicht realisieren ließ, doch es erstaunt dennoch ein wenig, dass es mehr als neunzig Jahre gedauert hat, bis nun unter der Regie von Edward Berger eine deutsche Produktion sich an die Umsetzung des Romans gemacht hat (die zweite Verfilmung, ebenfalls eine US-amerikanische Produktion, stammt aus dem Jahr 1979). Noch bemerkenswerter erscheint diese lange Zeitspanne, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der deutsche Film bei zeitgeschichtlichen Sujets, die weitaus ambivalenter erscheinen als Remarques radikale Bloßstellung des Kriegswahnsinns, weniger Berührungsängste gezeigt hat. Bereits 1959 widmete man sich mit Hunde, wollt ihr ewig leben (Regie: Frank Wisbar) der Schlacht um Stalingrad, ebenfalls primär aus der Perspektive des deutschen Landsers wurde dies erneut in Stalingrad (1993; R: Joseph Vilsmaier) getan. Und bereits zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs blickte die deutsch-österreichische Produktion Der letzte Akt auf die finalen Tage Hitlers im Führerbunker, ein Sujet, das mit Der Untergang (2004; R: Oliver Hirschbiegel) in einer Bernd-Eichinger-Großproduktion erneut aufgegriffen wurde.

Höllenqualen

Wie eingangs bereits angedeutet, bedient sich Lewis Milestone in All Quiet on the Western Front einer chronologischen Erzählweise, um den Weg des Abiturienten Paul Bäumer und seiner Mitschüler vom Klassenzimmer in die Schützengräben an der Westfront zu zeichnen. Doch auf die Hochstimmung, in der sich die jungen Männer, befeuert von ihrem Lehrer Kantorek, befinden, folgt schon bald die erste Ernüchterung. Im Rahmen ihrer Grundausbildung wird die Gruppe Unteroffizier Himmelstoß unterstellt, der allen als örtlicher Briefträger aus ihrem Heimatstädtchen wohlbekannt ist. Doch der einst freundliche Postzusteller erweist sich in seiner neuen Uniform als unerbittlicher Schleifer, der Rekruten mit an Sadismus grenzender Freude einem gnadenlosen Drill unterzieht. Der ersten Desillusionierung folgt schon bald Entsetzen über den Alltag beim Fronteinsatz, der von Angst, Leiden, Entbehrungen und vor allem von tausendfachem Tod geprägt ist. Ein Grauen, das auf beiden Seiten vorherrschte, notierte etwa der französischen Leutnants Alfred Joubaire im Mai 1916 in sein Tagebuch: „So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein.“

Im Gegensatz zu der Filmversion aus dem Jahr 1930 stürzt sich Edward Bergers Neuinszenierung gleich zu Beginn mitten ins Schlachtgetümmel. Und abgesehen von einer kurzen Rückblende, die die kriegspropagandistische Rede von Bäumers Lehrer zeigt, bleibt die aktuelle Adaption von „Im Westen nichts Neues“ dann auch mit den Protagonisten an der Front. Berger setzt die Kampfsequenzen gemäß dem derzeitigen Stand filmtechnischer Möglichkeiten höchst effektvoll und mit einem hohen Maß an Intensität – „immersiv“ lautet da wohl die gängige Zuschreibung – in Szene. Diese Effektivität der Schlachtinszenierung bringt jedoch jene Ambivalenz mit sich, der sich auch kanonisierte Antikriegsfilme gegenübersahen: Effektvoll inszeniertes Grauen trägt eben eine Faszination in sich, der man sich dramaturgisch erst einmal entgegenstellen muss. Nun erscheint Bergers Inszenierung nicht voyeuristisch, doch mit ihrer Rasanz kommt sie zeitweilig Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ näher als Remarques „Im Westen nichts Neues“.

Edward Berger lässt zudem im Gegensatz zu Lewis Milestones Adaption – und auch zu jener von 1979 – den Handlungsstrang um die harte Ausbildung wegfallen. Damit fehlt jedoch der gegenwärtigen Adaption eine Facette, die ein wesentliches Element von Remarques Roman bildet und das die beiden vorangegangenen Verfilmungen zu integrieren verstanden haben: nämlich die fortschreitende Militarisierung einer Gesellschaft. Am Beispiel des biederen Bürgers Himmelstoß, der sich durch das Tragen der Uniform gleichsam über Nacht vom braven Briefträger zum gnadenlosen Schleifer verwandelt, wird dieser unheilvolle Prozess veranschaulicht. Zudem nimmt Remarque damit aber auch jene unheilvolle Entwicklung vorweg, die in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors ihren mörderischen Lauf nahm, in der sich etwa Menschen, die die Uniform mit dem Totenkopf auf der Kappe trugen, als Herren über Leben und Tod gerierten. Die Unterordnung gegenüber dem Uniformträger, das verhängnisvolle Prinzip von Befehl und Gehorsam, wurde in den Schützengräben der Westfront fast bedingungslos verinnerlicht. Einhergehend mit dieser Militarisierung folgte auch eine Brutalisierung, die in den vier Jahren Krieg eine Verrohung in einem Ausmaß annahm, die man inmitten aller zivilisatorischen Errungenschaften Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum für möglich gehalten hätte.

Lewis Milestone macht diesen Prozess der Verrohung anhand jener Szene deutlich, als Paul Bäumer und seine Kameraden ihren bei einem Gefecht schwer verletzten Freund Franz Kemmerich, dem ein Bein amputiert werden musste, im Lazarett besuchen. Obwohl man sich schon lange aus Schulzeiten gut kennt, hält sich die Empathie in Grenzen, als man Kemmerichs besonders schöne Militärstiefel unter seinem Bett entdeckt. Einer aus der Gruppe fragt unverblümt, ob Kemmerich ihm das Schuhwerk nicht überlassen möge, er würde es ja doch nicht mehr brauchen. Als Bäumer bedeutet, doch ein wenig mehr Rücksicht auf den Gemütszustand des Freundes zu legen und das Thema zu wechseln, lässt es der junge Mann gut sein – um sich nach Kemmerichs Tod trotzdem die Stiefel anzuziehen. In einer Montagesequenz zeigt Milestones Inszenierung dann, wie die Stiefel mehrfach den Besitzer wechseln, einfach weil die jeweiligen Träger einer nach dem anderen fallen.

Das Sterben der Gruppe um Paul Bäumer wird zu einem zentralen Motiv von All Quiet on the Western Front aus dem Jahr 1930, um dem tausendfachen Sterben an der Westfront ein Gesicht zu geben. Ähnlich verhält es sich bei Delbert Manns Version von 1979, die sich zudem der inneren Monologe des Protagonisten Bäumer, aus dessen Perspektive Remarque den Roman erzählt, bedient. Der Regieroutinier Mann, zu dessen bekanntesten Arbeiten das Drama Marty (1955) zählt, wartet dabei mit einem interessanten Besetzungscoup auf: Die Rolle des Paul Bäumer überantwortete er Richard Thomas, der vor allem als John-Boy in der betulichen Serie The Waltons über eine Familie vom Land bekannt wurde.

Verwerfungen

„Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ So leitet Erich Maria Remarque seinen Roman ein, und diese Sätze sind auch den Filmen von Milestone und Mann vorangestellt. Damit verweist Remarque gleich zu Beginn auf den ursprünglich von Gertrude Stein geprägten Topos der „Verlorenen Generation“, der hier jedoch weiterführend die Traumatisierung einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft thematisiert. Remarque verweist dabei anhand der Schilderung eines Heimatbesuchs von Paul Bäumer auf die Schwierigkeiten, die von der Brutalität an der Front gezeichnete Soldaten haben, sich wieder an die Normalität des Zivillebens zu gewöhnen. Hier zeigt sich auch die Modernität und Aktualität Remarques, der Problemfelder anzusprechen wusste, die im gesellschaftlichen Diskurs erst Jahre später zur allgemeinen Agenda wurden.

Auf die Episode mit dem Heimaturlaub verzichtet Edward Bergers Im Westen nichts Neues im Gegensatz zu den Filmen von Lewis Milestone und Delbert Mann. Dafür erweitert Bergers Version den Plot um zäh verlaufende Verhandlungen über einen Waffenstillstand gegen Ende des Krieges; unter Verwendung realer Personen wie Marschall Ferdinand Foch oder den Politiker Matthias Erzberger (gespielt von Daniel Brühl). Berger zieht damit eine historisierende Ebene ein, die weder Remarques Buchvorlage noch in Folge die beiden Verfilmungen aufweisen. Das ist jedoch, was den Tenor von „Im Westen nichts Neues“ angeht, nicht ganz unproblematisch. Denn die zunehmende Orientierungslosigkeit der Protagonisten, die in der nicht enden wollenden Abfolge von Gefechten und Scharmützeln längst keinen Überblick mehr über das Gesamtgeschehen haben, ist ein wesentlicher Teil des Romans und der Verfilmungen von 1930 sowie 1979. Die Perspektive der Soldaten beschränkt sich auf jenes apokalyptisch anmutende Gelände, jene von Schützengräben durchzogene und von Granateinschlägen aufgerissene Landschaft, in der sich die erstarrten Fronten befinden. Jeder Versuch, ein paar Meter dieses völlig zerstörten Bodens um den Preis neuer Todesopfer erobern zu wollen, muss als völliger Wahnsinn erscheinen (wie dies etwa in Stanley Kubricks Paths of Glory deutlich wird). Lewis Milestones macht diesen grausamen Irrsinn geradezu schmerzhaft deutlich, die „Traumfabrik“ Hollywood generierte damit einen eindrucksvollen Kontrapunkt zu dieser Apostrophierung.

Edward Bergers neue Adaption hat zudem ein Problem, das auf einer formalen Ebene liegt. Archivaufnahmen des Ersten Weltkriegs bestehen bekanntermaßen aus eher grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen, entsprechend hat sich auch im kollektiven Gedächtnis eine solche Vorstellung eingebrannt. Die visuelle Ästhetik von Lewis Milestones All Quiet on the Western Front entspricht auch heute noch mehr dem kollektiv verankerten Bild vom Ersten Weltkrieg als die in Edward Bergers Inszenierung zum Einsatz kommenden Aufnahmen mit ihrer extremen digitalen (Tiefen-)Schärfe (John Coquillon, Kameramann der für das Fernsehen produzierten Fassung von 1979, verwendete sehr blasse Farbtöne). Ein gestalterisches Paradoxon, dem sich allerdings in einem bestimmten Ausmaß auch Sam Mendes’ hoch gelobtes WWI-Drama 1917 gegenüber sieht.

Künstlern wird unterstellt, mit geradezu prophetischer Gabe, gesellschaftliche Spannungsfelder vorauszuahnen. In diesem Sinn haben Edward Berger und die Produzenten von Im Westen nichts Neues den gern zitierten Puls der Zeit mit unheimlicher Genauigkeit vermessen. Angesichts der grauenhaften Unerbittlichkeit, mit der hunderttausende Soldaten von den Generalitäten in den Tod getrieben wurden, sprach man von dieser Art der Kriegsführung auch von einer „Blutpumpe“. Das zeigt Bergers Adaption schonungslos, wohl mit ein Grund, warum Im Westen nichts Neues als deutscher Beitrag für den Oscar in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ eingereicht wurde. Umso mehr, als man fassungslos beobachten muss, wie aktuell mitten in Europa die Blutpumpe wieder auf Hochtouren läuft.