Marco Bellocchio greift einen historischen Fall um eklatanten Machtmissbrauch auf.
Das Unglück bricht unerwartet und mit der Wucht einer Naturkatastrophe über die Familie Mortara herein. Eines Nachts fordern Behördenvertreter nachdrücklich Einlass in das im jüdischen Viertel von Bologna gelegene Haus von Salomone Mortara und seiner Frau Marianna und verlangen die Herausgabe ihres siebenjährigen Sohns Edgardo. Der soll nämlich heimlich von einer Dienstbotin der Mortaras getauft worden sein und deshalb dem Schutz der Kirche unterstellt werden, die den Buben abseits seines jüdischen Glaubens katholisch zu erziehen gedenkt. Besagte Taufe erscheint als obskur anmutende Behauptung, doch da die Anordnung direkt vom örtlichen Inquisitor im Namen des Papstes kommt, ist Widerspruch aussichtslos. Denn im Jahr 1858 ist Bologna noch Teil des Kirchenstaats, in dem der Papst – zum damaligen Zeitpunkt Pius IX. – einem König gleich regiert.
Marco Bellocchio hat sich in den Jahrzehnten seit seinem Debüt Mit der Faust in der Tasche (1965) als einer der bedeutendsten – und kontroversiellsten – Regisseure des italienischen Kinos etabliert. Wiederholt hat er in seinen Filmen den Zustand seiner italienischen Heimat auf sozialer, politischer oder psychologischer Ebene beleuchtet. Dabei hat Bellocchio brisante Themen aufgegriffen und erstaunlich unterschiedliche Zugänge gefunden. Rapito, auf wahren Begebenheiten beruhend, ist zunächst die Geschichte eines himmelschreienden Machtmissbrauchs, befeuert durch latent vorhandenen Antisemitismus, die Bellocchio als opulentes, wuchtiges Historiendrama in Szene zu setzen weiß. Seine Inszenierung verbindet dies auch mit der Zeit des Risorgimento, der politischen Vereinigung Italiens, die zum Ende des Kirchenstaats führte. Dass Bellocchio einer autoritären Figur wie dem für die Entziehung Edgardos verantwortlichen Papst Pius mit beißendem Sarkasmus begegnet, ist eine Kontinuität, die sich immer wieder in seinem Schaffen finden lässt. Die Formulierung der Kritik an willkürlicher Machtausübung lässt nichts an Deutlichkeit vermissen, doch kommt in Rapito mit der Frage kultureller Identität ein weiteres Motiv ins Spiel. Und da wird die Sache – wie oft bei dem vieles konsequent hinterfragenden Bellocchio – schon diffizil, erfährt Edgardos Leben doch eine unerwartete Wendung. Obwohl Marco Bellocchio nie ein Hehl daraus gemacht hat, dass er sich politisch links verortet, war sein kritischer Blick nach allen Seiten ausgerichtet und nicht durch sture Dogmatik getrübt. Ein Haltung, die der große Regisseur, der im November 85 Jahre alt wird, auch in Rapito konsequent zum Ausdruck bringt.