„I’ll Be Gone in the Dark“ rollt eine berüchtigte Verbrechensserie auf, die eine True-Crime-Autorin auf gefährliche Weise in ihren Bann zog.
Kennt man bei einem Krimi die Auflösung bereits an dessen Beginn, scheint Hochspannung nicht gerade vorprogrammiert. Eine True-Crime-Serie, in deren Mittelpunkt ein Kriminalfall, der insbesondere in den Vereinigten Staaten in jüngerer Vergangenheit medial höchst präsent und damit einigermaßen gut bekannt ist und eine Autorin, über deren Tod man schon zu Beginn in Kenntnis gesetzt wird, stehen, hat auf den ersten Blick nicht unbedingt Ingredienzen dafür, Sogwirkung zu generieren. Doch mit dieser Annahme liegt man im Fall von I’ll Be Gone in the Dark gründlich falsch. Die sechsteilige HBO-Produktion verknüpft nämlich den Fall des Golden State Killers mit dem Leben von Michelle McNamara, der Autorin, die sich jahrelang auf geradezu obsessive Weise mit diesem berüchtigten Serientäter auseinandergesetzt hatte, auf eine ebenso dichte wie faszinierende Art und Weise, die den Zuschauer von der ersten Minute an in die Geschichte hineinzieht – und nicht wieder loslässt.
Faszinosum
Bereits im jugendlichen Alter von 14 Jahren begann sich Michelle McNamaras Faszination für das Genre True Crime zu entwickeln. Auslöser war der Tod einer jungen Frau, die im August 1984 in Oak Park, Illinois, wo McNamara mit ihrer Familie damals lebte, einem grausamen Verbrechen zum Opfer fiel, als sie während ihrer Joggingrunde attackiert und erstochen wurde. Der Fall, der immer noch unaufgeklärt bleibt, sollte McNamara noch lange Zeit beschäftigen. Ihr Interesse an der Thematik samt all ihren Facetten war geweckt. Sie graduierte an der renommierten Universität Notre Dame, erwarb einen weiteren Abschluss an der Universität von Minnesota, ehe sie gegen Ende der neunziger Jahre nach Los Angeles zog, um sich als Autorin einen Namen zu machen. Kein leichtes Pflaster, wo abertausende talentierte Menschen versuchen, in der Film- und Fernsehindustrie oder in den Medien Fuß zu fassen. Die Serie I’ll Be Gone in the Dark geht auch auf die beruflich schwierigen Zeiten – samt den aufkommenden Selbstzweifeln –, die McNamara in ihren ersten Jahren in Kalifornien durchleben musste, ein.
Das sollte sich ändern, als sie 2006 ihre eigene Website truecrimediary.com – die immer noch online ist und einen Einblick in Michelle McNamaras Arbeit bietet – startete. Dort richtete sie ihren Fokus schließlich auf jene Serie brutaler Straftaten, die in Kalifornien seit Mitte der siebziger Jahre Angst und Schrecken unter der Bevölkerung verbreitete. Sie begann im Juni 1976 in östlich von Sacramento gelegenen Gemeinden. Der Täter brach in Einfamilienhäuser, die sich zumeist in gutbürgerlichen Gegenden befanden, ein, überwältigte und fesselte die überraschten Bewohner, um die so in seine Gewalt gebrachten Frauen zu vergewaltigen. Die Örtlichkeit trug ihm den Namen „East Area Rapist“, später zu dem Akronym EAR verkürzt, ein. Nach einer ganzen Reihe solcher Delikte erreichte das brutale Verhalten des Täters eine neue Dimension als er eines Nachts im Februar 1978 ein junges Paar, das er auf der Straße – der Ort lag in unmittelbarer Nähe zu etlichen der Überfälle – traf, einfach erschoss.
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Von 1979 an trieb er im Südkalifornien gelegenen sein Unwesen. Dabei bekam seine Verbrechensserie, beginnend in Santa Barbara County, noch grauenhaftere Züge, ermordete er doch bis 1986 bei seinem Eindringen in Wohnhäuser zehn Menschen. Doch die ermittelnden Behörden sahen zunächst keine Verbindungen zu den Taten in der Gegend von Sacramento, und die mangelnde Kooperation zwischen den für die verschiedenen Regionen zuständigen Polizeibehörden sollte eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielen, dass offenkundige Gemeinsamkeiten der Verbrechen lange nicht erkannt wurden. Erst mit dem Aufkommen der DNA-Analyse wurde evident, dass es sich bei beiden Serien um ein und denselben Täter handelte.
Die Taten im südlichen Kalifornien schrieb man jedoch zunächst einem Unbekannten zu, der die Bezeichnung „Original Night Stalker“ – oder abgekürzt ONS – bekam (als „bekannterer“ Night Stalker galt nämlich der Serienmörder Richard Ramirez, der in den Jahren 1984 und 1985 im Großraum Los Angeles und in San Francisco 13 Menschen getötet hatte).
Autorin und Detektivin
Michelle McNamaras intensive Recherchen in den Fällen des EAR/ONS sind der Ausgangspunkt für I’ll Be Gone in the Dark. Als Mastermind der Serie fungiert Liz Garbus, die bei zwei Episoden selbst Regie führt und als Executive-Produzentin agiert. Die Serie beruht auf dem gleichnamigen, von McNamara verfassten Buch, das posthum veröffentlicht wurde, doch angesichts Garbus’ formidablen Œuvres ist es wenig überraschend, dass I’ll Be Gone in the Dark über eine True-Crime-Reihe konventioneller Machart weit hinausreicht. Anhand höchst unterschiedlicher Sujets hat sich Liz Garbus mit klugen und vielschichtigen Zugängen ihre Reputation als eine der besten Dokumentaristinnen der Gegenwart erarbeitet. Dabei finden sich Filme, die sich bekannten Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe (Love, Marilyn) und Nina Simone (What Happened, Miss Simone?) sowie einem exzentrischen Schachweltmeister (Bobby Fischer Against the World) widmen, aber auch die Hintergründe einer der schlimmsten Massenkarambolagen in der Geschichte der Vereinigten Staaten hinterfragen (There’s Something Wrong with Aunt Diane). Die vierteilige Serie The Fourth Estate (Mission Wahrheit: Die New York Times und Donald Trump) wiederum greift ein gesellschaftspolitisches Thema brandaktuellen Zuschnitts auf.
Bei I’ll Be Gone in the Dark wird von Anfang an die Mehrschichtigkeit auf der inhaltlichen Ebene deutlich. Der mittlerweile prominente Kriminalfall des EAR/ONS ist dabei eng mit der Geschichte Michelle McNamaras verwoben – eine ebenso vielschichtige wie ambivalente Beziehung, die ein tragisches Ende nehmen sollte. McNamaras umfangreiche, akribische Recherchearbeit und ihre akzentuierte Herangehensweise, die zunächst in auf ihrer Website publizierten Texten Eingang fanden, machten sie zu einer Expertin in Sachen True Crime, die unter Gleichgesinnten immer populärer war. I’ll Be Gone in the Dark enthüllt dabei das ganz eigene Universum der True-Crime-Community; zu der zählen, neben Fans des Genres, fanatische Hobbydetektive ebenso wie pensionierte Polizeibeamte, die ihrer Passion höchst aktiv nachgehen. Und diese Gruppe, mit der sich McNamara immer stärker vernetzte, geht – die Doku-Serie führt das höchst anschaulich vor Augen – beim Versuch, ungeklärte Kriminalfälle zu lösen, mit einer Mischung aus Höchsteinsatz, Detailgenauigkeit und Enthusiasmus zu Werk, die beeindruckend ist, aber auf Außenstehende in ihrer Intensität auch ein wenig irritierend wirken kann.
Michelle McNamaras immer umfänglichere Arbeit in Sachen des EAR/ONS – die eingängige Bezeichnung „Golden State Killer“ geht übrigens auf sie zurück – ließ sie immer tiefer in eine Welt voll finsterer Abgründe, die sie anhand von Tatortfotos, Polizeiprotokollen und Opfer-Aussagen erforschte, eintauchen. Der in der Serie in Bezug auf derartige Recherchen gezogene Vergleich mit dem aus „Alice in Wonderland“ bekannten Kaninchenbau, wo man wieder auf noch eine Tür stoßen kann, scheint durchaus treffend. Michelle McNamara wollte auf gar keinen Fall eine dieser Türen übersehen. Dass es für die Autorin zusehends schwieriger wurde, diese finsteren Ecken in ihrem alltäglichen Leben hinter sich zu lassen, ist eine weitere Facette von I’ll Be Gone in the Dark, über die Michelle McNamaras Ehemann Patton Oswalt aus erster Hand in der Serie berichtet. Sie hatte den aus der Sitcom The King of Queens bekannten Schauspieler und Comedian 2005 geheiratet, und obwohl das Familienleben mit der 2009 geborenen Tochter Alice harmonisch verlief und
Oswalt seine Frau nach besten Kräften unterstützte, wurde er Zeuge, wie die kräftezehrende Arbeit ihren Tribut von ihr forderte. Dank der Hartnäckigkeit, mit der sie den damals immer noch ungelösten Fall des Golden State Killers verfolgte, konnte sie 2013 im „Los Angeles Magazine“ einen viel beachteten Artikel mit dem Titel „In the Footsteps of a Killer“ veröffentlichen. Mit einigen weiteren Publikationen in dem Magazin etablierte sie sich als höchst versierte und talentierte True-Crime-Autorin, in der Doku-Serie wird Michelle McNamara von einer Polizistin als „a real investigative mind and a creative thinker about crime“ charakterisiert. Mit dem bald folgenden Vertrag für ein Buch, in dem sie all ihre Erkenntnisse zu dem Fall bündeln sollte, schien ein erster Höhepunkt ihrer schriftstellerischen Karriere in Griffweite.
Mit einer Fülle an höchst vielfältigem Material nähert sich Liz Garbus in I’ll Be Gone in the Dark ihrem Sujet. Archivmaterial den Kriminalfall betreffend – man erhascht dabei einen kleinen Eindruck, mit welchem Horror sich Michelle McNamara jahrelang konfrontierte – werden mit Interviewsequenzen von Ermittlern und Opfern kombiniert. Dabei treten neben den Hauptsträngen zahlreiche spannende Details zutage: So muss man die Vorstellung der männerdominierten US-Polizei der siebziger und achtziger Jahre ein wenig revidieren, zählt doch die Ermittlerin Carol Daly zu den bemerkenswertesten Charakteren der Doku-Serie, wenn sie über die Jagd nach dem Serientäter in jenen Jahren berichtet. Der Person Michelle McNamaras nähert man sich mittels Statements ihrer beruflichen Weggefährten, von Familienangehörigen und Archivaufnahmen von ihr selbst an, Auszüge ihrer Texte, die aus dem Off von der Schauspielerin Amy Ryan gelesen werden, vermitteln einen guten Eindruck von McNamaras Arbeit als Autorin.
Eine zentrale Rolle kommt dabei naturgemäß Patton Oswalt zu, der ein liebevolles und zugleich höchst vielschichtiges Bild seiner Frau zu zeichnen versteht. Die geriet in den letzten Monaten ihres Lebens nicht nur wegen der Arbeit an ihrem Buch physisch, aber auch psychisch immer mehr unter Druck, den sie unglücklicherweise mit einem immer größeren Medikamentenkonsum zu mildern versuchte. Ein spezieller Aspekt ihrer Arbeit war nämlich McNamaras empathischer Umgang mit den Opfern der Verbrechen, denen sie nachspürte. Die Tatsache, dass viele von ihnen auch noch Jahrzehnte nach der Tat schwer unter diesen traumatischen Erlebnissen litten – worauf McNamara in ihrer Arbeit unbedingt aufmerksam machen wollte –, setzte ihr offenbar schwerer zu als anderen Autorinnen und Autoren in ihrem Metier. Vielleicht arbeitete sie auch deshalb so verbissen, ja geradezu besessen daran, nicht nur das Buch fertig zu stellen, sondern auch die Fälle endlich aufzuklären, den Täter seiner Strafe zuzuführen und den Opfern so zumindest späte Gerechtigkeit zu verschaffen.
„You’ll be silent forever, and I’ll be gone in the dark,“ flüsterte der Golden State Killer einem seiner Opfer zu, bevor er sich davon machte. Michelle McNamara blieb nie still, wenn es um seine Untaten ging, selbst um den Preis, dass sie schließlich selbst von der Dunkelheit verschlungen wurde. Mitten in der Arbeit an ihrem Buch verstarb sie am 16. April 2016 im Schlaf, als Folge einer zu hoch dosierten Medikamentenmischung und einer nicht diagnostizierten Herzerkrankung.