Zur Ausstellung „Widerständige Musen“ in der Kunsthalle Wien: ein Porträt der Schauspielerin und Aktivistin Delphine Seyrig.
Die Kamera lag leicht in der Hand und brachte auch sonst keinen Ballast mit sich: Sie hatte noch keine Geschichte. Gewiss, die Videokamera hatte eine technische Vorgeschichte, aber ihre Nutzung war noch nicht von Männern dominiert. Als die Schauspielerin Delphine Seyrig sie zum ersten Mal in die Hand nahm, gab es noch nicht einmal Cassetten. Mit ihr ließ sich nur in Schwarzweiß drehen, aber das genügte für den Kurzfilm, den sie über Folterungen in Chile machen wollte.
Carole Roussopoulos hatte kurz davor die zweite Videokamera gekauft, die in Frankreich über den Ladentisch ging; nur Jean-Luc Godard war ihr zuvorgekommen. Als die zwei Frauen einander begegneten, war ihnen sofort klar, welches Instrument der Selbstermächtigung das blutjunge Medium ihnen lieferte. Sie gründeten das feministische Videokollektiv „Les Insoumuses“, in dessen Namen sich Muse und Ungehorsam griffig paarten, um mit der neuen Technik gegen alte Vorurteile zu kämpfen.
Damit grenzten sie sich demonstrativ vom Kino und vom Fernsehen ab. Es ging den Videoaktivistinnen darum, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, für die allerdings Organisationsformen und Vorführbedingungen erst erfunden werden mussten. Das für 1975 ausgerufene „Jahr der Frau“ bot ihnen reichlich Anschauungsmaterial für die heute unfassbare Zählebigkeit patriarchaler Klischees und Ressentiments. Eines der ausdauerndsten Vorurteile stellte eine kausale Verbindung zwischen Feminismus und dem Mangel an Attraktivität her, ein anderes eine mit Humorlosigkeit. Beide setzten die Widerständigen Musen außer Kraft. Obwohl Seyrigs Video Sois belle et tais-toi (Sei schön und halt den Mund), für das sie zahlreiche Kolleginnen, darunter Juliet Berto, Jane Fonda und Shirley MacLaine, über den Sexismus im Filmgeschäft interviewte, 1977 Aufsehen erregte, blieb die agitatorische Arbeit des Kollektivs einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Die Kunsthalle Wien widmet der Bewegung, ihren Kontexten und Auswirkungen, derzeit die Ausstellung „Widerständige Musen“. Den Weg dafür geebnet hat zweifellos der Dokumentarfilm Delphine et Carole, insoumuses, den Roussoupolos’ Enkelin Callisto McNulty gedreht hat und der seit seiner Premiere auf der Berlinale 2019 ein reges Festivalleben führt.
Für die Schauspielerin kam ihr feministisches Engagement beinahe einem Karriereselbstmord gleich. Seyrig setzte sich für die Abschaffung des Paragraphen ein, der Abtreibungen bis 1975 in Frankreich unter Strafe stellte und unterstützte betroffene Frauen finanziell. Als Feministin fühlte sie sich im französischen Filmgeschäft allein auf weiter Flur und ging zeitweilig ins Exil nach England, wo sie vornehmlich im Theater auftrat. In der Folge arbeitete sie hauptsächlich mit Regisseurinnen, darunter Chantal Akerman, Marguerite Duras, Márta Mészáros und Ulrike Ottinger. Als sie 1967 bei La Musica zum ersten Mal mit einer Frau im Regiestuhl arbeitete, musste sie miterleben, dass Duras ein männlicher Ko-Regisseur an die Seite gestellt wurde. Sie gestand, dass sie selbst die Vorurteile der Branche verinnerlicht hatte: Sie brauchte lange, bis sie begriff, dass man nicht ein Mann sein musste, um Regie zu führen.
Ikone mit Widerhaken
Ihr feministisches Engagement bezeichnete sie als Vergeltung für ihre Karriere. Das klingt auf Anhieb überraschend aus dem Munde einer Schauspielerin, die zum Serail des europäischen Autorenkinos gehörte. Sie drehte mit Alain Resnais, Joseph Losey, François Truffaut, Luis Buñuel sowie Jacques Demy und wagte zwei Abstecher in die Gefilde des anglo-amerikanischen Thrillers unter der Regie von Fred Zinnemann (The Day of the Jackal) und Don Siegel (The Black Windmill). Für die Kamera war sie nie ein Sexsymbol: Ihr Blick war immer tiefer als ihr Dekolleté. Sie war kein Kassenmagnet wie Brigitte Bardot, Simone Signoret oder später Romy Schneider und Annie Girardot. Dennoch war sie ein Star und selbst in Nebenrollen ein Ereignis. Durch ihren Auftritt in Resnais‘ Letztes Jahr in Marienbad wurde sie 1961 zu einer Ikone der filmischen Moderne. Dieser Durchbruch entschied freilich über Wohl und Wehe ihrer Karriere. Sie haderte damit, dass ihr fortan das Image der mondänen, glamourösen, in elegante Roben gehüllten und immer mysteriösen Frau anhaftete. Sie verzweifelte an der Phantasielosigkeit der Regisseure und Produzenten. Auf der Bühne hingegen konnte sie zeigen, wie breit ihr Ausdrucksspektrum war. Sie brillierte im klassischen Repertoire, suchte aber auch die Auseinandersetzung mit Gegenwartsautoren wie Harold Pinter, Tom Stoppard, Peter Handke und Rainer Werner Fasssbinder.
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Das gelang ihr mühelos, da sie dreisprachig aufgewachsen war. Sie wurde 1932 in Beirut geboren, das damals noch in französischem Mandatsgebiet lag. Ihr Vater war Archäologe und Diplomat, die Mutter Publizistin. Es war eine kunstsinnige Familie – ihr Bruder Francis wurde Komponist und schrieb unter anderem die Partitur zu Marienbad –, die ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden, keine Steine in den Weg legte. Sie studierte in Paris, wo Philippe Noiret und Michel Lonsdale zu ihren Kommilitonen zählten. Lonsdale (dessen große, nur platonisch erwiderte Liebe und häufige Bühnen- und Leinwandpartnerin sie war), fand, ihre Stimme klinge wie ein Violoncello. In New York setzte sie ihre Ausbildung am Actors‘ Studio unter Lee Strasberg fort. In den USA kam sie mit der künstlerischen Avantgarde in Kontakt, mit Malern wie Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Ellsworth Kelly. Ihr Kinodebüt feierte sie 1959 in dem Kurzfilm Pull My Daisy von Robert Frank, an dem Jack Kerouac mitwirkte. Sie hatte die Gabe, sich neuen künstlerischen Strömungen auszusetzen; ihre kreative Neugier war unstillbar. Man versteht, weshalb sie ihr Image als glamouröse Diva als ein Gefängnis begriff.
Ein Bildungsabenteuer
1989 kam sie zur Berlinale, um gemeinsam mit ihrer Regisseurin Ulrike Ottinger und ihren Leinwandpartnerinnen und -partnern Johanna d‘Arc of Mongolia vorzustellen. Damals war die Krebserkrankung, der sie ein Jahr später erlag, noch ein gut gehütetes Geheimnis. Sie verteidigte (um ein Verb zu benutzen, das französische Schauspieler notorisch für ihre Arbeit an Figuren reklamieren) den Film glänzend, sowohl auf der Leinwand wie bei der Premiere. Er war ein in ihren Augen ein schillerndes Märchen, und die Dreharbeiten waren ein prächtiges Abenteuer gewesen.
Dass sie für Interviews zur Verfügung stand, war für den jungen, unerfahrenen Filmjournalisten, der ich damals war, die Erfüllung eines Traums, von dem ich gar nicht wusste, wie glühend ich ihn tatsächlich hegte. Ich ging zu dem verabredeten Termin wie zu einer Audienz. Nicht nur, weil sie eine Legende war, entrückt und von einschüchternder Reife. Mich hatte in den Interviews, die ich zur Vorbereitung las, vor allem beeindruckt, wie präzise, kritisch und wachsam sie ihr eigenes Metier betrachtete. Kaum ein Gespräch, das ich je mit einer Schauspielerin geführt habe, prägte mich so nachhaltig wie dieses. Delphine Seyrig war in persona eine so elegante Erscheinung, wie ich sie von der Leinwand kannte. Sie trug die obligatorische Sonnenbrille, die eine gewisse Distanz herstellte. Vielleicht diente sie auch dazu, sie vor meinem männlichen Blick – ich war schüchtern empfänglich für ihre Schönheit – abzuschirmen.
Aber sogleich stellte sie eine Komplizenschaft her mit ihrem beherzten, zuweilen skeptischen Lachen und der rigorosen Offenheit, mit der sie über ihre Regisseure sprach. Im Gegensatz zu Resnais fand sie überhaupt nicht, dass sie wie eine Stummfilmschauspielerin wirkte. An der Arbeit mit ihm faszinierte sie vor allem, wie sich ihre zwei gemeinsamen Filme stilistisch unterscheiden. Sie konnte seine Inszenierung bis ins Detail analysieren. Joseph Losey wiederum machte ihr unmissverständlich klar, dass er sie für Accident – Zwischenfall in Oxford nur besetzen wollte, um herauszufinden, ob sie eine wirkliche Schauspielerin sei oder bloß eine Schöpfung von Resnais. Zinnemann und Siegel seien zwar sympathisch gewesen, aber sobald die Kamera lief, spürte sie eine gewisse Grausamkeit, eine einschüchternde Kälte, die einherging mit der Maschinerie solcher Großproduktionen. Für Luis Buñuel hätte sie alles gespielt, deshalb gab sie sich zunächst mit dem Kurzauftritt als Prostituierte in Die Milchstraße zufrieden. Und was Truffaut anging, hatte sie eine ganz andere Auffassung von ihrer Rolle in Geraubte Küsse, der er dann aber nachgab. Wie bedauerlich, dass sie, anders als Catherine Deneuve, nie Tagebuch während Dreharbeiten geführt hat! Welche Einsichten, Aufschlüsse und Erkenntnisse hätte sie mit ihrem Publikum teilen können!
Durchschaute sie, dass viele meiner Kenntnisse nur angelesen waren? Bestimmt. Im Gegenzug spürte sie aber sehr wohl, wie aufrichtig meine Begeisterung für ihre Darstellung in Muriel und anderen Filmen war. Mit der Zeit merkte ich, wie ihre Nachsicht mit meinen Fragen nachließ. Sie setzte sich gegen die Zuschreibungen anderer zur Wehr: Nein, sie sei keine Prous’tsche Schauspielerin! Irgendwann drehte sie den Spieß um und fing an, mir Fragen zu stellen. Weshalb glaubte ich, es sei ihre Entscheidung gewesen, von einem bestimmten Zeitpunkt fast ausschließlich mit Regisseurinnen zu arbeiten? Meine naiven Mutmaßungen fegte sie vom Tisch. Es sei ganz einfach: „Ich habe das kritische Alter überschritten, mein Lieber!“ Von Regisseuren bekäme sie keine interessanten Rollen mehr, Regisseurinnen hingegen hätten mehr Phantasie, sie störe das Alter nicht.
Verführerische Entzauberung
Seyrig war die erste Schauspielerin, die mir erzählte, dass sie für jede Figur eine Backstory erfand, für sie eine eigene Biographie entwarf. Das ist einerseits eine Lehre, die sie aus ihrer Zeit am Actors‘ Studio mitnahm. Mit jeder Geste, mit jedem Blick wird eine Erinnerung wachgerufen, die Vergangenheit wiedergeboren. Das macht sie zu einer idealen Darstellerin für Resnais: In Marienbad und Muriel greift sie ständig die gleichen Bewegungen oder Haltungen – das Ruhen der Hand auf einem Treppengeländer, das versonnene Streichen über ihr Schlüsselbein – an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wieder auf. Ihr Spiel schillert, es vibriert. Sie ist keine Statue, nimmt nicht nur Posen ein, die im Einklang mit den Dekors sind. Vielmehr vollzieht sie auch im Statuarischen eine innere Bewegung der Figuren zwischen Einst und Jetzt nach. Es ist keine geringe Leistung, sich als Schauspielerin in der rissigen, verwirrenden Montage der Filme zu behaupten. Seyrig schafft ihren Figuren eine eigene Präsenz, sie ist mitnichten eine Schöpfung von Resnais.
In dem Entwurf einer jeweiligen Backstory manifestiert sich überdies etwas, das Seyrig in unserem Gespräch als eine Art von Autorenschaft formulierte: Jeder Schauspieler ist zugleich ein Filmemacher. Die Gestaltung vieler ihrer Rollen bestätigt das. So war sie beispielsweise partout nicht mit der Zeichnung der Fabienne Tabard aus Geraubte Küsse einverstanden, die in Truffauts Drehbuch angelegt war. Sie wollte sie nicht ernst spielen, nicht als traurige, unzufriedene Ehefrau, die nur mit dem jungen Antoine Doinel schläft, weil sie enttäuscht von ihrer Ehe ist. Nein, sie sollte eine glückliche Frau sein, die eben mit einem etwas sonderbaren Mann verheiratet ist. So klingt das schöne Bekenntnis, das ihr Truffaut in den Mund legt, noch viel überzeugender: „Ich bin keine Erscheinung, sondern eine wirkliche Frau – und das ist das genaue Gegenteil.“
Bei Blut an den Lippen schrieb sie nicht nur etliche ihrer Dialoge selbst, sondern griff auch in die Inszenierung ein: Die Ankunft der geheimnisvollen Gräfin im Hotel dauerte ihr zu lang – sie fand, dass müsse viel schneller montiert sein, wie der Auftritt von Marlene Dietrichs in Engel von Ernst Lubitsch! Aber auch jenseits solch ungewohnter Interventionen bewahrt sie ihren Figuren stets Eigensinn. In Muriel bricht sie unmittelbar mit dem Bild, das man seinerzeit aus Marienbad noch frisch in Erinnerung hatte: Sie verkörpert eine viel ältere Frau, die eine gehetzte Alltagsexistenz führt – bereits eine Vorstudie zu Jeanne Dielman –, agiert fahrig und wirkt auf wehmütige Weise kapriziös. Sie entzieht sich den Avancen, die ihr der einstige Liebhaber erneut macht, lässt nur flüchtige Momente der Nähe zu. In ihren großen Rollen erzählt Seyrig, wie ungreifbar das Glück ist. Wenn man genau hinschaut, steht ihr Spiel schon in Marienbad unter Vorbehalt. Ihre Gesten sind ganz auf den eigenen Körper bezogen, wenn sie eine Umarmung zulässt, ist das kein Präludium der Hingabe. In ihrer Stimme klingt stets ein Flair von Nüchternheit an. Diese Schauspielerin arbeitete beharrlich an der Entzauberung des Bildes, das andere sich von ihr machen.