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Filmkritik

Die Liebhaberin / Los Decentes

| Michelle Koch |
Von sozialen und filmischen Grenzgängern

Einlasskontrollen, hohe Mauern, Elektrozäune: Sicherheitsmaßnahmen, mit denen die wohlsituierten Bewohner der Gated Community am Stadtrand von Buenos Aires ihr weltentrücktes Leben vor dem unkontrollierten Einbruch von Armut, moralischen Lastern und Gewalt zu schützen versuchen. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Belén bekommt nur deshalb Zutritt zu diesem isolierten Kosmos, weil sie sich bei einer in die Jahre gekommenen Dame als Haushälterin verdingt. Umgeben von Wohlstandsexistenzen, geräumigen Villen, makellosen Fassaden und pedantisch gepflegten Vorgärten fristet Belén ein Leben als moderne Sklavin – eingepfercht in eine beengte Abstellkammer und ein Korsett aus starren Rollenerwartungen. Als Belén auf ihren Streifzügen durch die Wohnanlage jedoch das angrenzende Nudistencamp entdeckt, befeuert dieses freizügige Gegenuniversum ihren Wunsch nach paradiesischer Freiheit, Gleichheit und Harmonie. In wiederholten Grenzübertritten lernt sie nicht nur ihre nackte Weiblichkeit kennen und lieben – das anständige, verklemmt wirkende Hausmädchen wird als Botticellis sinnliche „Venus“ neugeboren –, die Kollision gegensätzlicher Welten mündet auch in einem radikalen Selbstbefreiungsimpuls, der schließlich in einem Ausbruch von nackter Gewalt seinen blutigen Weg durch ein blutleeres Wohngebiet schlägt: Viva la revolution! Viva la muerte!

Puritanische Leistungsethik, Sittenstrenge, Disziplinierung auf der einen, Müßiggang, Nacktheit, freie Liebe auf der anderen Seite des Zauns: Changierend zwischen formaler Strenge und Improvisation, präzis kadrierten Tableaus und neugierig-erkundenden Handkameraaufnahmen, gelingt dem 1985 in Salzburg geborenen Regietalent Lukas Valenta Rinner mit wenig Dialog, kontemplativem Tempo und ebenso grotesken wie unvorhersehbaren Wendungen eine kluge und bissige Gesellschaftsanalyse. Nicht zuletzt durch schwarzen Humor und ins Surreale überzeichnete Bildfindungen werden die Ideologien gegensätzlicher Sozialutopien ad absurdum geführt und so als illusorische Glücksversprechen entlarvt. Wie seine nur auf den ersten Blick unscheinbare Protagonistin entpuppt sich auch der im Rahmen des koreanischen Jeonju Cinema Projects geförderte und innerhalb von nur sechs Monaten realisierte Film dank narrativer, dramaturgischer und ästhetischer Konventionsbrüche als widerständiger Grenzgänger, der zu Recht mit zahlreichen Jury- und Publikumsehrungen ausgezeichnet wurde – u.a. mit dem Preis für den „Besten österreichischen Spielfilm“ und das „Beste Sounddesign“ der Diagonale 2017.