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Wiener Festwochen

Die Macht der Phantasie

| Günter Pscheider |
Die Wiener Festwochen sind diesmal zweigeteilt, also eher Festmonate. Eines der Highlights im Juni ist „Quasi“, das neue Stück der iranischen Autorin, Regisseurin und Performance-Künstlerin Azade Shahmiri. Ein Gespräch.

Dem Programmbuch zum 70. Geburtstag der Wiener Festwochen ist ein Zitat des Schriftstellers J.G. Ballard über die Macht der Phantasie vorangestellt. Gerade in Zeiten vieler Einschränkungen ist ein so ungemein vielfältiges Festival, das es jedes Jahr aufs Neue schafft, aktuelle Themen widerzuspiegeln und gleichzeitig wichtige Traditionen in den Bereichen Theater, Musik oder Performance zu feiern, ein unverzichtbarer Programmpunkt im Kulturleben der Stadt. Zu den wichtigen Eckpunkten in der Auswahl von Intendant Christophe Slagmuylder gehört es, fremdsprachige Theaterproduktionen zu präsentieren, die man sonst in Österreich sicher nicht sehen könnte, und multimediale Arbeiten zu forcieren, die die Theatergrenzen sprengen.

Das neue Stück Quasi der iranischen Autorin, Regisseurin und Performance-Künstlerin Azade Shahmiri, die bereits 2019 mit Voicelessness bei den Festwochen zu Gast war, vereint diese beiden Kategorien in einem simplen, aber raffinierten Setting: Drei Charaktere erzählen vom Leben im heutigen Iran. Ihre Geschichten bleiben unvollständig so wie der im Hintergrund projizierte Film, dessen beiläufig poetische Kaffeehaus-Szenen das Fragmentarische dieser Menschen perfekt illustrieren. Gerade in Corona-Zeiten scheint es verstärkt ein Bedürfnis nach klaren Regeln zu geben, nach stringenten, wenig ambivalenten Identitäten, aber nicht nur für Azade Shahmiri stellt sich die Frage, ob es ein Zurück zu einer Zeit geben kann, in der diese Einfachheit noch möglich war oder ob wir aufgerieben werden zwischen der Sehnsucht nach Einheit und dem Fühlen der Zerrissenheit. Im Interview spricht die Künstlerin über die Chance, die Corona auch bietet, über die Choreografie des Zufalls und über die Erschaffung eines neuen Mediums.

Woher stammt die ursprüngliche Idee für Ihr neues Stück „Quasi“? War es ein Bild, ein Interesse an einem bestimmten Thema oder etwas völlig anderes?
Azade Shahmiri:
Während der Proben zu meinem letzten Stück Voicelessness beobachtete ich zufällig, wie die Künstler und die Techniker jeweils ihre Jobs machten, jeder für sich allein und sie sich  trotzdem völlig unbewusst in einigen Momenten zusammen zu bewegen schienen, fast wie in einer Choreografie. Die Kombination von Sound, Bild, Bewegungen und Stimmen ergab für mich ein stimmiges Ganzes, natürlich nur in meinem Kopf, aber diese Erfahrung regte mich an, über so etwas wie zufällige Verbindungen nachzudenken, und das führte in weiterer Folge zur Entwicklung von Quasi.

Was ist die Geschichte des Stücks? Ist sie ebenso persönlich wie bei „Voicelessness“, wo dramatische Erfahrungen mit Ihren Eltern einen wichtigen Kern des Projekts bildeten?
Ja, die Geschichte ist wieder sehr persönlich, aber auf eine völlig andere Art und Weise als bei Voicelessness, wo es sehr stark um Gefühle ging. Bei Quasi wollte ich mich selbst herausfordern, eine für mich neue Art von Kreativität ausprobieren, eine andere Art finden, wie man eine Geschichte erzählen kann. Es war mir wichtig, mit dem konventionellen Storytelling zu spielen, verschiedene Levels von Charakterentwicklung auszuprobieren, aber auf jeden Fall den üblichen Plotaufbau mit dramaturgischen Höhepunkten zu vermeiden. Es ist wohl die hoffentlich spannende Aufgabe des Publikums, eine Geschichte aus dem Geschehen auf der Bühne herauszudestillieren.

Sind die Hauptcharaktere sehr spezifisch Iraner, oder könnten wir diese Menschen überall auf der Welt treffen?
Die Charaktere sind definitiv Iraner, gespielt von Iranern, aber das heißt nicht, dass sie nur im Iran zu finden sind. Ich denke nie an die Nationalität der Charaktere, wenn ich sie erschaffe. Aber ich bin natürlich beeinflusst von meinen persönlichen Lebensumständen, von den Orten, wo ich aufgewachsen bin, wo ich derzeit lebe. Ich fühle mich gewissen Menschen und Communities verbunden und bin von ihnen inspiriert, sei es in der „realen“ oder auch der virtuellen Welt.

Wie auch schon in Ihrem letzten Projekt spielt das Medium Film eine wichtige Rolle im Gefüge des Stücks. Diesmal unterstreichen Filmausschnitte das fragmentarische Element der Story. Wie sind Sie auf diese sehr speziellen Clips
gestoßen?
Dieses unvollendete Werk passt sehr gut zum Konzept, und es ist ein sehr wichtiges Element in der ganzen Struktur geworden. Ich kenne den Regisseur Hamid Jafari schon seit meiner Zeit an der Universität in Teheran, wo ich Theater studierte und er Film. Im Laufe seiner Karriere hat er immer wieder an verschiedenen Projekten gearbeitet, die nie fertig gestellt wurden, viele dieser sehr atmosphärischen Aufnahmen sind auch nie geschnitten worden. Er hat sofort zugesagt, als ich ihn gefragt habe, ob er mir einige dieser archivierten unvollendeten Filme für mein neues Stück überlassen würde. In Quasi kooperieren verschiedene Materialien wie Sprache, Film, Bewegungen miteinander, sie beeinflussen einander, stehen in Beziehung zueinander, und deshalb kann man auch nicht sagen, welche Funktion der Film genau innerhalb des Ganzen hat. Der vielleicht wichtigste Effekt ist für mich sein beabsichtigter Eindruck der Unfertigkeit, und auch das Spielerische, das die Kameraarbeit und die Regie vermitteln.

Was ist für Sie das Faszinierende daran, verschiedene Medien in ihre Theaterstücke einzubauen?
Wie gesagt bin ich sehr interessiert daran, einen ganz eigenen (Theater-)Raum zu kreieren, in dem unterschiedliche Medien interagieren. Vielleicht wird so eine Art von neuem Medium erschaffen, das sich weiter entwickelt und seine eigene Sprache erschafft. Den Film in das ganze kreative Gefüge einzubauen, so dass er eine organische und sehr wichtige Rolle bei der Erzeugung der Atmosphäre einnimmt, war eine sehr bereichernde Herausforderung.

Glauben Sie, dass Ihr Werk besonders stark in der iranischen Kultur verankert ist, oder haben Sie eher einen universalistischen Ansatz?
Ich denke, dass jede Art von Kunstwerk von der Umgebung beeinflusst ist, in der es entstanden ist. Aber das bedeutet nicht, dass das Stück nicht von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen oder sozialen Bereichen gleichermaßen wahrgenommen, verstanden und geschätzt werden kann. Vielleicht ist es ja einer der wenigen positiven Aspekte der gegenwärtigen Pandemie, die die ganze Welt betroffen hat – auch wenn sie natürlich nicht überall den gleichen Schaden angerichtet hat –, dass wir alle auf diesem Planeten einem generellen Gefühl der Unsicherheit, vielleicht sogar Verzweiflung ausgesetzt waren und sind. Das könnte dazu führen, die Perspektive zu verändern und uns allen dabei helfen, ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln, einfach breiter und gleichzeitig tiefer zu denken als Menschheit.