Das 74. Edinburgh International Filmfestival (EIFF) behauptete sich in diesem vollgepackten Festival-Sommer mit einem Programm, das kleinen Filmperlen und großen Musicals zu bieten hatte.
Man muss sich erst wieder daran gewöhnen. Während im vergangenen Sommer und Herbst bis auf Venedig aus bekannten Gründen fast komplett Ebbe angesagt war, was physisch stattfindende Filmfestivals angeht, überschlagen sich heuer die Angebote. Allein im letzten Monat fanden mit Locarno, Sarajevo und Kalovy Vary nur kurz nach Cannes gleich vier namenswerte Festivals statt, die alle mit einem stolzen Programm ihre Kinosäle auch wieder für ein Live-Publikum öffneten. Dazu gesellte sich vom 18. bis 25. August ebenfalls das Edinburgh International Filmfestival, das 2020 nur in sehr magerer Form und ausschließlich virtuell stattgefunden hatte. Zum Neustart präsentierte man in der schottischen Hauptstadt ein überschaubares, aber klug ausgewähltes Programm, das nicht nur vor Ort, sondern weiterhin auch virtuell gezeigt wurde, und mit genügend Trümpfen aufwartete, um zu begeistern und sich von den anderen Filmgroßevents der vergangenen Wochen abzusetzen.
Gleich der Eröffnungsfilm war eine kleine Wucht. Oder besser gesagt: sein Hauptdarsteller. Während Nicolas Cage in letzter Zeit eher in Actionrollen und düster-brutalen Genrevariationen mit lauter Stimme und einer gewissen Tollwut im Spiel auf der Leinwand von sich reden machte, darf er jetzt in Michael Sarnoskis beeindruckenden Langfilmdebüt Pig endlich auch mal wieder die leiseren, feineren Facetten seiner Kunst zum Ausdruck bringen. Seine Darstellung als gebrochener, vereinsamt im Wald hausender Ex-Gourmetkoch, der widerwillig in die Stadt zurückkehrt, um sein gestohlenes Trüffelschwein zu suchen, erinnert daran, was für ein vielseitiger Darsteller tatsächlich in Cage steckt. Denn so hanebüchen die Geschichte klingen mag, die Sarnoski in der Restaurant-Untergrundszene Portlands ansiedelt, so elegant und berührend setzt er sie um in einem Film, der eindeutig mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als er in den hiesigen Breitengraden erwarten darf. Für November ist zumindest in Deutschland eine DVD-Veröffentlichung geplant.
Nach diesem starken Auftakt ging es hochkarätig weiter, denn auch die britische Premiere von Annette, dem seltsam faszinierenden Film-Musical von Leos Carax, basierend auf einem Drehbuch sowie den Kompositionen der Sparks-Brüder Ron und Russell Mael, konnte man für das EIFF gewinnen. Noch triumphaler erwies sich am Ende jedoch die UK-Kinopremiere der demnächst weltweit auf Amazon Prime startenden Verfilmung des Hit-Musicals Everybody’s Talking About Jamie über einen sechzehnjährigen Teenager in Sheffield, der davon träumt, in knallroten High Heels als Drag Queen ins Rampenlicht zu rücken. Denn nach einer überaus erfolgreichen Spielzeit im Londoner West End sowie diversen internationalen Produktionen, die sich bis nach Südkorea und Japan erstrecken, zeugt auch die ähnlich brillant-simpel gestrickte Leinwandversion neben viel Kitsch und billigem Glamour von einer Wärme und Gefühlsoffenheit, die nicht nur junge Gemüter bewegt – zumindest wenn man, wie die Briten im Allgemeinen, sowieso ein Herz für Musicals hat.
Heimatverbundenheit ist stets ein großes Thema für das EIFF, das sich zur Aufgabe gemacht hat, im hohen Norden des Landes eine Plattform für die britische Filmszene und -industrie zu schaffen, während alljährlich im Oktober das BFI London Filmfestival (LFF) diese Funktion noch umfassender in der Metropole erfüllt. Deshalb verwundert es auch nicht, dass ausgerechnet das Coming-of-Age-Drama The Road Dance von Richie Adams mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Immerhin handelt die Romanverfilmung nach einer Vorlage des schottischen Journalisten John Mackay vom Erwachsenwerden einer jungen Frau auf einer abgelegenen Insel an der Westküste Schottlands in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Aber es ist nicht nur die Landschaft, die hier sich hier von ihrer atemberaubendsten Seite zeigt. Es ist vor allem die international noch wenig bekannte Hermione Corfield, die sich unlängst an der Seite von Pierce Brosnan und Tim Roth in dem verunglückten Abenteuer-Thriller The Misfits hervortat und hier die Hauptrolle übernimmt, von der The Road Dance in erster Linie profitiert.
Überhaupt waren es Frauen, die bei diesem 74. Jahrgang des EIFF eine entscheidende Rolle spielten – und zwar nicht nur vor der Kamera. Stolze 50 Prozent der insgesamt einunddreißig Spiel- und achtzehn Kurzfilme stammten von Regisseurinnen, und eine Kooperation mit dem Frauenfilmfestival Birds Eye View brachte zudem die Mamma Mia-Regisseurin Phyllida Lloyd, die Schauspielerin Harriet Walter sowie Schauspielerin und Ko-Autorin Clare Dunne in einer virtuellen Gesprächsrunde zusammen, um über ihre jahrelange Zusammenarbeit an Lloyds jüngstem Film Herself zu sprechen. Bleibt zu hoffen, dass eine positive Quote wie diese bald nicht mehr als Ausnahme verzeichnet werden muss, sondern sich auch Berlin, Cannes oder Venedig an kleineren Festivals wie dem EIFF ein Beispiel nehmen. Der Qualität des Programms hat der Wille zur Gleichstellung jedenfalls nicht geschadet, im Gegenteil!