Das Crossing Europe Filmfestival in Linz fand erstmals unter der Leitung von Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler statt.
Eines wurde auf Anhieb klar: Die beiden Nachfolgerinnen der bisherigen Direktorin Christine Dollhofer, die das seit 2004 stattfindende Festival zu einer über die Grenzen Österreichs bekannten und angesehenen Veranstaltung gemacht hatte, führen die programmatische Linie des Festivals als Präsentationsfläche des vielfältigen, zeitgenössischen europäischen Autorenfilms mit Schwerpunkt auf gesellschaftspolitischen Fragen weiter. Gerade in Zeiten der tiefen Verunsicherung, des Krieges in Europa und der Pandemie sowie des allgegenwärtigen Klimawandels ist die Notwendigkeit einer politischen Auseinandersetzung auch im Film zwingender denn je. Die Suche nach den richtigen Fragen und Ansätzen schließt im Filmkontext die Frage nach Methode und Herangehensweise ein.
Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun von Caroline Pitzen (European Panorama Fiction) ist ein interessantes Beispiel für eine methodische Infragestellung des Filmemachens. Der Improvisationsfilm folgt einer Gruppe von Berliner Abiturienten, die sich über Wohnungspolitik, Kapitalismuskritik, Sexismus und ihr Engagement zur Selbstbestimmung austauschen. Es ist ein Spielfilm mit dokumentarischem Gesicht. Die Jugendlichen waren Teil des „Stoffentwicklungskomitees“, sie haben die Figuren, die sie im Film selbst verkörpern, sowie Szenen und Handlung zusammen mit der Regisseurin entwickelt. Eine kollektive Arbeitsweise, die zugleich Inhalt und Programm der von den Jugendlichen reflektierten linken Ideen ist, eingefasst in schöne kinematografische Bilder. Auch wenn der Film vermutlich gerade durch diese Arbeitsweise an Stellen etwas programmatisch und in den Fragestellungen der Jugendlichen unscharf wirkt, erzählt er doch auf authentische Weise von Wahrnehmung und Lebensrealität junger Menschen in Berlin. Vor allem aber stellt er sich gegen das Klischee einer unpolitischen, in der ideologischen Leerstelle verschwindenden Wohlstandsjugend.
Ebenfalls in Berlin angesiedelt ist der Dokumentarfilm Köy von Serpil Turhan (Competition Documentary). Die Regisseurin befragt Kurdinnen drei verschiedener Generationen zu ihrer Identität, dem Verhältnis zu ihrer Herkunft und den politischen Implikationen, die sich daraus für sie ergaben und ergeben. Eine der drei Protagonistinnen, Neno, ist die Großmutter der Regisseurin und Mutter von elf Kindern, die auf beeindruckende Weise schildert, wie sie die Emigration nach Deutschland gemeistert und welche Beziehung sie zu ihrer Heimat im kurdischen Teil der Türkei hat. Saniye betreibt ein kleines Café in Berlin. Sie treibt der Wunsch um, in ihren Geburtsort in der Türkei zurückzukehren, um zu verstehen, warum sie so eine Sehnsucht nach einem Ort empfindet, den sie eigentlich nicht gut kennt und an dem ihr vermutlich die Freiheit, die sie sich als junge Frau in ihrer Familie erst hatte erarbeiten müssen, nicht zugestanden würde. Hêvîn, die jüngste Protagonistin, will Schauspielerin werden und ist politisch aktiv. Auch sie ist, wie die Jugendlichen in Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun, in Berlin aufgewachsen und sucht in ihrer Arbeit als Schauspielerin nach der Möglichkeit zur politischen Gestaltung. Sie kämpft mit den Klischees und Rollenzuschreibungen durch ihre Kolleginnen und Kollegen an der Schauspielschule, die ihre Zukunft als politisch aktive Kurdin nur an dem „postmigrantischen“ Maxim-Gorki-Theater sehen. Der Film mit den starken Protagonistinnen, mit denen Turhan im Verlauf von mehreren Jahren so sensible wie beharrlich nachfragende Gespräche geführt hat, gibt einen tiefen Einblick in das Leben dieser drei Frauen, ihre Entscheidungen sowie ihre Gefühle zu Begriffen wie Heimat oder Zugehörigkeit und es wird deutlich, welchen Wert die Freiheit (nicht nur) für sie hat.
Auch in dem deutschen Spielfilm Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarabi (Competition Fiction) geht es in gewisser Weise um Freiheit. Die Protagonistin Christin lebt mit ihrem Freund auf einem Hof in der ostdeutschen Provinz und leidet unter der Eintönigkeit des dortigen Lebens. Ihr wortkarger Mann ist schwer zugänglich, die Langeweile und die fehlende Perspektive zehren an der jungen Frau (großartig ambivalent und mutig dargestellt von Saskia Rosendahl). Ihre Neugier und Lust auf Neues entladen sich in sexuellen Abenteuern, in denen sie an ihre Grenzen geht. Mit filmisch eindrucksvoll in Szene gesetzten Bildern erzählt die Regisseurin eine Geschichte von dem Leben in der Provinz aus der Perspektive ihrer Protagonistin, ohne besserwissenden Duktus. Am Ende steht ein gewaltsamer und verzweifelter Bruch, der für Christin jedoch ein Aufbruch ist.
Die Protagonistin Clara in Annika Pinskes Spielfilm Alle reden übers Wetter (European Panorama Fiction) lebt als Universitätsdozentin und alleinerziehende Mutter in Berlin. Mit ihrer Arbeit über Hegel kommt sie gut voran, doch die Affäre, die sie mit einem ihrer Studenten hat, stagniert, vor allem – so scheint es – weil es unüberwindbare, ihre Herkunft betreffende Unterschiede zu geben scheint. Er nennt sie im Spaß „Ossi“, und sie behauptet, seinem Professorenvater gegenüber, Diplomatentochter zu sein. Dabei stammt sie aus der mecklenburgischen Provinz, wohin sie zu zusammen mit ihrer Teenagertochter fährt, um bei der Geburtstagsfeier ihrer Mutter dabei zu sein. Trotz der Zuneigung zwischen Mutter und Tochter ist der Graben, der die beiden trennt, riesengroß. Die Berliner WG-Intellektuelle fühlt sich im Plattenbau und auf der Dorffeier deutlich fremd. Und sowieso: Die Ressentiments, die die Menschen in der ostdeutschen Provinz gegen den Westen hegen scheinen ebenso unüberwindbar, wie das Unverständnis gegenüber der akademisch gebildeten und intellektuell versierten jungen Frau, die es aus der Provinz in die große Stadt geschafft hat. Wenn auch die Charakterisierung der Menschen in der Provinz vielschichtiger ausfällt: Dem Film, der den immer noch existierenden Argwohn zwischen Ost und West in Deutschland genauso gut einfängt, wie den Riss, der das Land ganz allgemein in Provinz- und Stadtbevölkerung unterteilt, gelingt es, beide Teile in ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit zu entlarven.
Was ist Kunst? Was kann und soll sie politisch bewirken? Diesen bedeutungsvollen Fragen geht der Film Die Kunst der Folgenlosigkeit von Friedrich von Borries und Jakob Brossmann nach. Beginnend mit einer Kamerafahrt entlang einer ausladend festlichen und üppig gedeckten Tafel, zu der Minimal Music erklingt (Musik: Kyrre Kvam), die aus einem Peter-Greenaway-Film stammen könnte, entspinnt sich ein vielschichtig verschachteltes Szenario aus Spielszenen, Film im Film, Kommentaren von realen Figuren aus Kunst und Kultur (darunter der Autor, Theater- und Filmregisseur Milo Rau), die wiederrum Rollen bekleiden und den (vermeintlich) dokumentarischen Einlassungen der Filmemacher selbst. „Was im Moment als sinnvolles Leben angesehen wird, hat ja zum Zustand der Zerstörung unserer Natur geführt, den wir jetzt erleben.“ Diese Feststellung führte den Architekten und Designtheoretiker Friedrich von Borries dazu, eine Lösung für dieses Problem zu suchen. Er hinterfragt den Begriff Erfolg und das Prinzip Wachstum und schlägt ein folgenloses Leben vor. Ein Leben, das keine Spuren hinterlässt. Die Inszenierung und die Brechung der Inszenierung, die die Sinnhaftigkeit dieser Idee umkreisen, funktionieren als amüsanter und selbstkritischer Denkanstoß und Aufforderung zur Diskussion, wenn auch auf zuweilen sehr kokette und selbstreferenzielle Weise.
Schade nur, dass die Frage nach der politischen Wirksamkeit der Kunst im Verlauf des Films zugunsten der Idee der Folgenlosigkeit aus dem Blick gerät. Eine folgenlose Kunst wäre zum Scheitern verurteilt.