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Oberhausener Manifest

Die Schleier, die der Film selbst verstärkt, müssen fallen

| Jörg Becker |

Vor 50 Jahren wurde das berühmte Oberhausener Manifest veröffentlicht – eine Wegmarke des westdeutschen Films. Aus diesem Anlass gibt es Buchveröffentlichungen und eine spezielle Website.

Am 28. Februar 1962 verlas der Filmregisseur Ferdinand Khittl auf einer Pressekonferenz der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage eine Erklärung, in der ein verblüffend massiver, „nicht eben bescheiden[er]“ (Enno Patalas) Anspruch erhoben wurde, der Anspruch, den neuen deutschen Film zu schaffen, endend mit den Sätzen: „Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Das bekannte, wohl einzige Gruppenfoto der „Oberhausener“ wurde in einer verlassenen Dekoration auf dem Bavaria-Gelände in München-Geiselgasteig aufgenommen. Der Auftritt auf dem Festival war ein publizistischer Coup, mit dem den herrschenden Produktionsverhältnissen des deutschen Kinos die Diagnose gestellt wurde. Mit pathetischer Geste wurden neue Zuständigkeiten reklamiert. Den neuen Unternehmergeist der versammelten „Manifestanten“, im Interesse des großen Ganzen ebenso wie im Sinne der eigenen Kreativproduktion zu denken, schien die Kritik genauso wie die Kulturbürokratie zu verstehen und ob der konstruktiven Haltung, die in der Erklärung zum Ausdruck kam, trotz deren nonkonformistischem Gestus durchaus anzuerkennen. Schließlich erwiesen sich  die „Oberhausener“ als systemimmanent, sie bauten auf Synergie.

Die in der Presse als „Oberhausener Gruppe“ titulierten 26 Unterzeichner des Manifests hatten ihrer Erklärung die apodiktische Aussage „Papas Kino ist tot!“, auf grüne Aufkleber gedruckt, vorangestellt, die zum Slogan für den Geist des Oberhausener Manifests wurde. „Wir standen als Gruppe zusammen. Wir fühlten uns wie die Angeklagten, obwohl wir auf die Pauke gehauen hatten“ erinnert sich Edgar Reitz über die ambivalente Aufnahme der Erklärung. Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der Nazi-Herrschaft nahmen die Unterzeichner des Manifests eine Gelegenheit wahr, den westdeutschen Filmbetrieb – „ein kultureller Leichnam, ökonomisch jedoch nur scheintot“ (Klaus Kreimeier) -, der bis dahin von einem herkömmlich anspruchslosen, eskapistischen Unterhaltungskino dominiert war, dem vorgefundenen „Gerümpel von Heimatfilm und anderem Hausrat der Adenauerzeit“ (Dietrich Kuhlbrodt), vertreten durch die Altproduzenten und ihre Regieroutiniers, von denen keinerlei Erneuerung zu erwarten war, herauszufordern. Ein Mitunterzeichner, der Regisseur Haro Senft, dem die ursprüngliche Initiative zum Oberhausener Manifest zugeschrieben wird, erinnert sich 2012 an die „erste Eruption einer Protestbewegung“, der Text habe die „Zäsur in der deutschen Filmgeschichte nicht nur bestätigt, sondern selbst erzeugt.“ In der Bewertung mag eine nachträgliche Überschätzung des aktiv Beteiligten mitschwingen. Der Philosoph Theodor W. Adorno, der nach der Erklärung der „Oberhausener Manifestanten“  mehrfach zu Filmkunstfragen Stellung genommen hatte, versicherte in einem Brief vom 22.Oktober 1962 an Siegfried Kracauer: „Was im deutschen Film heute anständig ist, hängt mehr oder weniger mit der Oberhausener Gruppe zusammen (…) sie wissen, was sie nicht wollen, und Spinoza hat recht, daß das Falsche Index des Wahren sei.“

Unter dem Titel „Die Chance“ schrieb Enno Patalas, 1957 Mitbegründer und Redakteur der maßgeblichen deutschsprachigen Filmzeitschrift „Filmkritik“, in deren Aprilausgabe von 1962 anlässlich des Manifests: „Der Zusammenbruch der Ufa-Film-Hansa im Januar hat die Filmwirtschaft genötigt, Alarmsignale aufzuziehen. [Anfang 1962 gingen gleich drei führende deutsche Filmfirmen in Konkurs; J.B.] Die UFH durfte noch vor wenigen Monaten als eine der solidesten Firmen im deutschen Kinogeschäft gelten – wenn diese durch ein paar Streifen mit negativer Bilanz sogleich in die totale Pleite getrieben wird, wie, so fragt man sich, steht es dann um die Vertrauenswürdigkeit der deutschen Filmwirtschaft überhaupt? Das fragen sich vor allem jene Banken, von deren Kredit der deutsche Film seit Jahr und Tag lebt. Das fragen sich auch jene staatlichen Instanzen, die, wieder einmal, den Bankrotteuren aus dem Schlamassel helfen sollen [Wenngleich es sich hier nur um eine kriselnde Branche innerhalb einer langen Konjunkturwelle der späten Wirtschaftswunderphase der Bundesrepublik handelt, fallen hier die Parallelen zu gegenwärtigen Schutz-, Garantie- und Konjunkturmaßnahmen gegenüber mehr oder weniger „systemrelevanten“ Branchenriesen ins Auge; J.B.]. Die Situation war seit dem Krieg nie so prekär für die deutsche Filmwirtschaft. Das heißt: Sie war noch nie so günstig für einen geistigen und künstlerischen Neubeginn im deutschen Film. (…) Eine Chance wie diese: der offenkundige Bankrott aller Prinzipien, nach denen hierzulande Filme produziert und inszeniert werden – ein Chance wie diese wird so bald nicht wiederkehren. Von den Entscheidungen der nächsten Monate wird es abhängen, ob auf drei Jahrzehnte Banausenherrschaft noch ein viertes folgt oder ob endlich ein Neubeginn gewagt werden kann.“

Mit den „Oberhausenern“ war eine Gruppe junger – vorwiegend Münchner – Filmemacher war an die Öffentlichkeit getreten, die sich bis dahin nur durch Kurzfilme, dokumentarische Arbeiten und äußerst avancierte Industriefilme ausgezeichnet hatte, in deren experimenteller Formenwelt prosperierende deutsche Konzerne ihr Image  konkurrenzloser Wachstumsraten perfekt repräsentiert sahen. Das kinematographische Versuchslabor des Jungen Deutschen Films wurde mit seinen besten Beispielen unterhalten vom Elektrokonzern AEG (Kahl, BRD 1960, Haro Senft, über den Betrieb des ersten bundesrepublikanischen AKWs kurz nach dessen Fertigstellung) oder dem Chemiekonzern BASF-Ludwigshafen (In ihrer anspruchsvollen Synthese aus Lehr- und Experimentalfilm, Essay und Dok-Film unbedingt zu entdecken: Das magische Band, BRD 1959, Gruppenarbeit einer „Gesellschaft für bildende Filme – GBK“ unter Regie von Ferdinand Khittl über alle Aspekte des Magnetophonbandes; und insbesondere Der heiße Frieden, BRD 1965, F. Khittl – „Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Filmgestaltern versuchte, das Wesen der Forschung an ihren Phänomenen zu untersuchen.“). Es war eine inhomogene Gruppierung ohne gemeinsame ideologische oder politische Vorstellungen, ohne eigentliches ästhetisches Programm, ohne traditionelle Bezugspunkte und Vorbilder – „Wir wussten, dass wir keine Väter hatten“, schrieb einer der Oberhausener, Hans Rolf Strobel 1982 -, eine Gruppe, die eine befristete Interessenkoalition einging für die Chance, eigene claims abzustecken. Die Gründungszelle des Jungen und in der Folge Neuen Deutschen Films, eine Sammlungsbewegung mit eingebauter Zentrifugaltendenz sozusagen, existierte bereits in Ansätzen in der Münchner „DOC-59-Gruppe für Filmgestaltung“ (unter Leitung von Haro Senft und Ferdinand Khittl). Von den 20 Mitgliedern jenes Vereins unterschrieben 16 später das „Manifest“, das indirekt aus dem Gedankenaustausch auf ihren monatlichen Zusammenkünften hervorging, weshalb das ironische Etikett „Obermünchhausener“ also durchaus zutraf.

Eine schneidende Kritik an den formalen Kennzeichen eines ausgeprägten Gruppenstils, der sich später in Personalstile auffächern sollte, findet sich in der „Filmkritik“ (4/1963), deren Co-Redakteur Wilfried Berghahn unter dem Titel „Ansichten einer Gruppe“ alle Klischees, ästhetische Manierismen, Motivstereotypen, überhaupt den beflissenen Kunstwillen der Filme der „Münchner Gruppe“ parodistisch niedermachte, indem er einen imaginären Film beschrieb, in dem alle tatsächlichen Werke der „Münchner“ enthalten sein könnten (u.a. Stunde X von Bernhard Dörries; Der Schlüssel von Rob Houwer; Der gelbe Wagen von Franz-Josef Spieker): „Die spiegelnde Fassade eines Hochhauses oder einer Wohnmaschine blendet auf: viel Glas, matt schimmernde Metallrahmen der Fenster, helle Betonflächen. In den nächsten Bildern: Betonpfeiler schmal in den Himmel aufragend, auch langgestreckte, bildfüllende Raster aus Glas und Stein; Kuben, Flächen, ineinander geschachtelte Balkonwaben und wieder Glas. Unten ein einsamer Platz, leer, Betonplattenraster. Alles kühl, streng, kantig, aber auch schön, schön vor allem! Welcher deutsche Kurzfilm beginnt so? (…) Wenn ich Ludwig Erhard wäre, und einen Werbefilm über das Wirtschaftswunder drehen wollte, würde ich alles tun, um Wolf Wirth als Kameramann zu gewinnen. Betörender als er, der in so vielen Filmen gelernt hat, unseren Betonmonumenten die interessantesten Perspektiven abzugewinnen, kann niemand zeigen, wie weit wir es gebracht haben.“ Wirth versammelte tatsächlich eine Menge an Credits als Kameramann des Jungen Deutschen Films, mit seinem Sinn für Transparenz wie für distanziertes „proto-Pop“ (Olaf Möller) ist er das Auge dieses Stils, drehte u.a. Tobby (1961) und Katz und Maus (1966) von Klausjürgen Pohland, auch Das Brot der frühen Jahre (1962) von Helmut Vesely, in dem Christian Doermer, der einzige Schauspieler unter den Unterzeichnern des Manifests, in diesem zufälligen Erstwerk der Oberhausener, uraufgeführt in Cannes, das nachdenkliche Gesicht des Jungen Deutschen Films gab. Der Kameramann Wolf Wirth ging in den 1970ern in die Werbung und blieb da.

Das „Manifest“ forderte die Freiheit von Konventionen, ein Ende der Beeinflussung durch kommerzielle Partner, generell Schutz vor Bevormundung durch Interessensgruppen. In ihrer Fixierung auf den Spielfilm hat die Filmgeschichtsschreibung bislang weitgehend übersehen, dass sich ein innovatives Potential der Filmform schon im semidokumentarischen Kurz- und Industriefilm seit den späten 1950ern entwickelt hatte, und von hier aus, dem dokumentarisch-essayistischen Gestus, man könnte sagen: im autoriellen Erkenntnisinteresse quer zu den Gattungsunterschieden zwischen Dok- und Spielfilm, einer Tendenz hin zu einem „Kino der Erfahrung“ (Thomas Elsaesser) könnte die Fernwirkung der „Münchner Schule“ nicht nur auf den Fortgang Kluges, sondern auch auf die frühen Werke von Herzog, Syberberg, Wenders u.a. augenscheinlich werden. Die Betonung einer veränderten Haltung, einer geistigen Einstellung zum Film trug Kluges Handschrift – in der Folge immer wieder, etwa in „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode“ (1975) ausgeführt -, es ging um den Film als menschliches Ausdrucksmittel, dessen Schaffende nicht nur als Instrumente der Fabrikation eines entfremdeten Produkts fungieren, sondern einen Status als kreative Produzenten beanspruchen. Damit wurde auch das Konzept eines Kinos denkbar, das sich vom Ort bloßen Konsums zu einer Produktionsstätte verändert.

Die kurze, griffige, konstruktive Lösung in der Krise war die Idee „Zehn Filme für fünf Millionen“ sowie die Gründung einer Stiftung, die allen künstlerischen Hoffnungen eine Startmöglichkeit geben sollte. Tatsächlich hatte das Bundesinnenministerium angesichts zu verzeichnender Verluste an Bundesbürgschaften für die etablierte Filmbranche Andeutungen gemacht, hier zu helfen, da man eine Erneuerung allein jenseits der „kurzen Scheinblüte seichtester Unterhaltung und Schnulzen“ (so der damalige CSU-Bundesinnenminister Hermann Höcherl), also von künstlerischer Seite und über die Heranbildung eines hochqualifizierten Nachwuchses erwartete. Einer der Köpfe der damaligen Erklärung (und vielleicht der einzige aus der Gruppe, dessen Name es in die Weltliga der Regisseure/Filmemacher geschafft hat), Alexander Kluge, erinnert sich in dem jüngst erschienenen Band „Personen und Reden“ (Berlin: Wagenbach 2012) unter dem Titel „Kein Abschied von gestern. Der Neue Deutsche Film von 1962 bis 1981 – gesehen von 2011“ u.a. an die damaligen Forderungen: „Eine Erneuerung der geistigen Haltung des Filmemachens in Richtung Authentizität und abseits vom Kommerz. – Ein geistiges Zentrum für den deutschen Film, also Filmausbildung. – Eine Chance für den ersten Film eines jungen Filmemachers. Aus der zuletzt genannten Forderung entstand das Kuratorium Junger Deutscher Film, ausgestattet mit fünf Millionen Mark. Die Kurzfilmförderung von Nordrhein-Westfalen, welche die Basis der Oberhausener Gruppe bildete, betrug 800.000 Mark, verteilt auf sechs Jahre. Aus diesem Anfang entstand eine Wende im deutschen Film. Die Filmgeschichte war damals 70 Jahre alt. Was aus der Oberhausener Bewegung später entstand, hat bis zu Fassbinders Tod [1982; J.B.] ein Viertel der Filmgeschichte ausgefüllt.“ Kluge spricht darüber, dass die Geltung der Oberhausener Bewegung als Traditionsbruch, als Konflikt zwischen Jung und Alt, als Generationenwechsel irrtümlich sei: „Die Oberhausener sind sämtlich ‚Weiße Jahrgänge‘, was bedeutet, dass sie im Krieg keine Soldaten und bei Einführung der Bundeswehr zu alt waren, um eingezogen zu werden. Sie gehörten zu den Leuten, die durch das Vakuum zwischen 1945 und 1949 entscheidende Eindrücke gewonnen haben. Diese Eindrücke enthalten fast das Einzige, was sie außer ihrem Temperament oder gewissen Freundschaften gemeinsam hatten: Rückwendungen zu den Traditionen der zwanziger Jahre, zu den ANFÄNGEN DER FILMGESCHICHTE. / Der Leitsatz war: professionelle Nichtprofessionalität. Freiheit durch Können. Dies war das Programm der jungen Filmkunst in ihren Anfängen. Es gab etwas zu entdecken. Der Elan der Anti-Akademie. (…) Das Pathos des Neuen Deutschen Films heißt: mehr Öffentlichkeit. Das Gegenteil davon hieße: Eskapismus, Wirklichkeitsflucht. (…) Es geht 1962 um keinen Generationenkonflikt, sondern um einen Unterschied in der HALTUNG. Die Haltung: Ich bin nicht der Zuschauer meines Lebens und meiner Arbeit, sondern deren Produzent, und das Mitlaufen in einer Gesellschaft bildet den wirklichen Gegensatz, die heute, unterteilt in ganz unterschiedliche Gruppen, aber durchgängig, einen Marsch in das Imaginäre antritt. Man muss sich zwischen diesen beiden Haltungen ENTSCHEIDEN.“ (Großschreibung im Original; J.B.)

Das „Oberhausener Manifest“ von 1962 galt sofort als ein kulturpolitisch bedeutsames Ereignis, im Kontinuum eine Marke, verbunden mit Ort und Datum, es eignete sich als Schlagwort fürs Geschichtsbuch, das voll ist von symbolischen Markierungen und Erinnerungshilfen und, zumindest was die Filmgeschichte betrifft, voll ist von Zäsuren und Brüchen, mithin also immer falsche Diskontinuitäten aufzeichnet. „Oberhausen“ – das war oberflächlich gesehen die Chiffre für allen Fortschritt, der in Gestalt des „Jungen“ beziehungsweise später „Neuen Deutschen Films“ und seiner verschiedenen Repräsentanten folgen sollte. In einer Phase, in welcher das kulturelle Renommee des deutschen Films (1961 wurden nicht einmal mehr Bundesfilmpreise für einen Spielfilm und einen Regisseur verliehen) eine solch Schwundstufe erreicht hatte, dass seine Präsenz im Kontext des internationalen Festivalbetriebs die Insuffizienz seiner Stellvertreter zusehends bedenklicher zu Bewusstsein brachte, vor allem aber, da sich dieser Mangel irgendwann auch betriebswirtschaftlich kritisch auszuwirken drohte, konnten Außenseiter, Newcomer, mehr oder weniger enthusiastische Macher verschiedenster Herkünfte die Bühne betreten und ihren Willen nicht allein zur Veränderung bekunden, sondern auch dazu, Verantwortung zu übernehmen. Als sahen sie die Chance, sich für größere Aufgaben zu empfehlen und sich als Kreative zukünftige Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.

Gegen reines Renditedenken der Altbranche, die bis 1956 noch boomte, war nun eine visuell-geistige Frischzellenkur gefragt, eine Besinnung auf die Substanzen der Siebten Kunst,  die der realitätsfremd gewordene Filmbetrieb nicht mehr leisten konnte. Nicht von ungefähr stand im Zentrum der Oberhausener Forderungen der Autor als Initiator und Ideenschöpfer, Stoffentwickler und Filmemacher. Die historische Analogie mit den bundesdeutschen Bildungsreformen der 1960er Jahre liegt nahe (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAFöG), auf einmal galt es, Ressourcen zu heben und damit auch in eine Versuchs- und Experimentierphase zu investieren, weil es nötig wurde, talentierten Nachwuchs einmal ungeachtet von Klassenschranken und angestammten Privilegien zu akquirieren. Die Lage der deutschen Filmwirtschaft war so verfahren, dass ihr ästhetisch abgewirtschaftetes System von Produzenten, Autoren und Regisseuren ‚neuen Typs‘ abgelöst werden sollte, die sich bis dahin allein durch Kurz- und Industriefilme hervorgetan hatten. Artur Brauner soll sogar bereit gewesen sein, in „riskante Stoffe“ zu investieren, in bezeichnender Verkennung der Neuen, denen der Autor mehr galt als ein „Stoff“.

Man kann von einer „klug genutzte[n] Gelegenheit“ (Dietrich Kuhlbrodt) sprechen, nicht mehr und nicht weniger, denn es handelte sich bei den Oberhausener Forderungen weder um Provo-Aktionen noch 68-Vorläufer, sondern um eine Initiative zur Reform staatlicher Filmpolitik, die den Filmtätigen eigene Produktionsbedingungen, Stellen bzw. Unternehmen ermöglichen sollte. Da selbst das zuständige Ministerium die „Gesundung nur von filmkünstlerischer Seite“ erwartete, konnten die Oberhausener der Kooperation des reaktionären CDU/CSU-Staates („Nur keine Experimente!“ – Konrad Adenauer) entgegensehen. Das Aufmüpfige am Auftritt der Oberhausener Gruppe sei gewesen: Der „auf wirtschaftliche Vernunft setzende Habitus“ (Dietrich Kuhlbrodt). Man schlug wesentlich günstigere Produktionsmodi vor, senkte die hohen Produktionskosten einer Filmproduktion als Selbstbedienungsladen der Branche, an die man sich gewöhnt hatte, indem man kaum noch Studios in Anspruch nahm, man strich die Star-Gagen, indem man auf arrivierte Schauspieler verzichtete und zum erheblichen Teil mit Neulingen und Laien drehte, und senkte damit das Gesamtbudget erheblich. Um Gewinne einzuspielen, brauchte es also erheblich weniger Zuschauer bzw. über einen Kassenerfolg ließen sich ungleich mehr Filmflops ausgleichen. „Unser Autorenfilm fing an als Produktionsform“, schrieb Frieda Grafe in der Süddeutsche Zeitung (17./18.1.1981), „ästhetische Veränderungen kamen in der Generation nach den Oberhausenern.“ Es gehört zu den Ungerechtigkeiten der Filmgeschichte, dass die Manifestunterzeichner von Oberhausen in der Folge nur zum Teil von der Entwicklung profitierten, die sie angeschoben hatten.

Der Anspruch der „Oberhausener“, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen, ließ sich von ihnen nur in Ansätzen realisieren. In den vier Jahren nach Oberhausen 1962 kommen keine nennenswerten Produktionen heraus. Regisseure wie Fassbinder, Herzog, Wenders, Schlöndorff (sein Debütfilm Der junge Törless entstand 1966 mit Mitteln des Altproduzenten Franz Seitz), die man mit der Blütezeit des Neuen Deutschen Films in den siebziger Jahren identifiziert, hatten mit der Oberhausener Gruppe nichts zu tun, was selbst manch einem Zeitzeugen nicht mehr ganz bewusst ist, wie Erinnerungstexte aus dem Sammelband „Provokationen der Wirklichkeit“ zeigen. Formale, filmästhetische Gemeinsamkeiten hat das Manifest nicht begründet, und von einer „Nouvelle Vague des deutschen Films“ zu sprechen, scheint ohnehin verfehlt. Die Leistung der Oberhausener Forderungen liegt eher in der Institutionalisierung des Neuen Deutschen Films, Kluge und Reitz übernahmen die Leitung der Filmabteilung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm – bis dahin war learning by doing, das Hocharbeiten vom Praktikanten/Assistenten im Betrieb angesagt. 14 Mitglieder der Oberhausener gründeten eine Stiftung, aus der 1965 das „Kuratorium junger deutscher Film“ hervorging, ausgestattet mit Mitteln des Bundesinnenministeriums; Kluges Abschied von gestern, 1966 in Venedig ausgezeichnet, entstand auf dieser Grundlage. 1967 folgte ein Filmförderungsgesetz, ein reines Wirtschaftsgesetz, das der Altbranche mit ihren Monumental- und Sexfilmen zugutekam, und erst 1971 wurde es durch eine „Minderqualitätsklausel“ ergänzt. Zu einem Dialog, den sich die Oberhausener nach eigenem Bekunden mit den Regieautoren der 1950er Jahre – Wolfgang Staudte, Helmut Käutner, Bernhard Wicki u.a. – vorgenommen hatten, ist es nie gekommen.

Den Sammelband zum Erinnerungsanlass „50 Jahre Oberhausener Manifest“, Titel: Provokation der Wirklichkeit, zeichnet die konsequent egalitäre Form aus, in der die großen Textgruppen: Quellen – Essays – Gespräche – in ihm angeordnet sind. Als Quellentext zum ‚Geist von Oberhausen‘ sticht besonders die Transkription einer Forumsdebatte auf der Internationalen Filmwoche Mannheim 1962 heraus, ein aus dem Walter Benjamin-Archiv der Akademie der Künste Berlin gefördertes Dokument einer Veranstaltung, an der Theodor W. Adorno neben Alexander Kluge teilnahm und der Eindruck entstehen kann, scheinbar aus dem Nichts wäre in der BRD ein Filmdiskurs vernehmbar geworden von interdisziplinärem Interesse und auf einem gedanklichen Niveau, wie es der in der Folge schleppend anlaufende Neue Deutsche Film kaum überschreiten konnte: Auf größte Ablehnung Adornos trifft die (sozialpädagogische) Ideologie der Konsumentenorientierung, eine Auftragsbindung, die von der Wirkung her an eine geistige Gattung ergehe. Bilder, die der Film in Bewegung setzt, seien immer die des Kollektivs, und in Augenblicken, wo sich das Potenzial dessen zeigt, was Film vielleicht einmal sein könnte, „…das Gefühl, dass das Kollektiv da hindurchrauscht.“ Der bisherige Fehler habe immer darin bestanden, sich den Massen, sie als Gegebenes nehmend, anzupassen. „Worauf es aber ankäme, wäre  (…), den Film so zu gestalten, dass er den kollektiven Reaktionsformen Rechnung trägt, aber sie in einer Weise wendet, durch die sie über die Ideologie hinausgetrieben werden…“, auf die Formel gebracht …“, …dass sie hinauslaufen auf eine Reklame für die Welt. (…) [D]ie veränderte Praxis, die dem Film ansteht“, wäre „der Schluss mit der Reklame“. Im Augenblick, da er aufhört, Reklame für irgendetwas zu machen, fängt er an, „gesellschaftlich an seine richtige Stelle zu kommen“. / „Die Schleier, die Film selbst verstärkt, müssen fallen.“

Einen fast bizarren Kontrast gegenüber solchem kritischen Zugang bietet dagegen neben anderen Zeitzeugeninterviews ein Gespräch, das zwischen dem Hochschullehrer Dietrich Leder, dem ehemaligen Filmkritiker und Regisseur H.C. Blumenberg und den beiden Filmemachern Christoph Hochhäusler und dem legendären Klaus Lemke, Pionier aus der ‚Münchner Szene‘ und nach wie vor tätig, im Sommer 2011 in Berlin zum Thema Förderpolitik und Filmästhetik einst und jetzt stattfand. Klaus Lemke (u.a. Brandstifter, 1969, und Rocker, 1971, begann 1964 mit Kurzfilmen, zuletzt Berlin für Helden, 2012) bekennender Verächter jeder Staatsfinanzierung und –einflussnahme („Papas Staatskino ist tot!“) wie sonst wohl nur die FDP, der Filmemacher, dessen Sexszenen ähnlich drastisch rüberkommen wie seine lapidaren, wuchtigen Lebenslehren („Nur ein Schlag aufs Maul hilft im Leben“), die unzensierte, antiintellektuelle Stimme als Markenzeichen, arbeitet er nur noch nach der Regel „Keine Kohle vom Staat, keine Schauspieler, kein Drehbuch“ und liefert die krassen Ausfälle zu den Oberhausenern, die sich an ihrer eigeninitiierten Förderpolitik bereichert hätten – alte Fronten: „Die Oberhausener wollten immer Häuser haben… Haben sie auch alle heute. Wir haben Drogen.“ Ihr „Intellektuellenkino“ sei „auf dem deutschem Bauhaus aufgebaut. Ausgerechnet diese Söhne aus bürgerlichen Häusern sahen sich plötzlich als Revolutionäre aus dem Osten. (…) Die Oberhausener wollten erziehen (…) Du kriegst ne Woche lang keinen mehr hoch, wenn du dir das anguckst“ (er meint Filme der Oberhausener Gruppe, aus dem Gesprächskontext heraus wohl insbesondere die frühen Langfilme Kluges) – „Die Texte von Kluge sind großartig“ entgegnet Hochhäusler – Und Lemke: „Du immer mit deinem Kluge! Da hat uns Adorno ein Ei gelegt mit Kluge…“ Vive la différence!

Eine beträchtliche Herausforderung für den vorliegenden Band zum Oberhausen-Jubiläum grandios bewältigt hat der Filmpublizist Olaf Möller mit seinem Dossier „25 ästhetische Profile“, dem längsten Beitrag und der tragenden Säule des Bandes als Schlusskapitel, worin er alle Unterzeichner des Manifestes in Porträts von annähernd gleichem Umfang würdigt – das ist aufwändig recherchiert und aus Kenntnis zahlreicher, selbst frühester rarer Filme der Beteiligten kompiliert, deren spezifische Charaktere klug umrissen und damit Persönlichkeiten unterschiedlicher Talente angenähert werden, die sich vor 50 Jahren zu dieser einmaligen Konstellation zusammengefunden hatten.