ray Filmmagazin » Themen » Marcello Mastroianni – Die Wette gilt
La dolce vita (1960)
La dolce vita (1960)

Marcello Mastroianni

Die Wette gilt

| Gerhard Midding |
Das Filmarchiv Austria feiert den 100. Geburtstag des großen Schauspielers Marcello Mastroianni mit der Retrospektive „Marcello Magnifico“.

Seine Karriere zeigt, was für eine großartige Triebfeder der Zweifel sein kann. Zu Anfang fürchtete er, dass er nie etwas anderes als sympathische Taxifahrer spielen würde. Später verstand er dann partout nicht, weshalb er als Inbegriff des „Latin Lover“ galt. Hatte denn niemand die Filme gesehen, in denen er zauderte, impotent war oder homosexuell? Außerdem waren seine Beine doch viel zu dünn!

Manchmal spürt man, dass Marcello Mastroianni sein blendendes Aussehen gerne vor der Kamera zum Verschwinden gebracht hätte, als sei es ein unverdientes Talent. Das ließen die Regisseure und Kameraleute zum Glück nie zu. Der Wunsch, mit dem eigenen Leinwand-Image zu brechen, ist nicht Verlegenheit geschuldet, wohl aber einer Demut, die sich Rechenschaft ablegen will über das Mischungsverhältnis zwischen Illusion und Identität. Auf die Idee, er sei ein Jahrhundertschauspieler, wäre er vor lauter Bescheidenheit wohl nie gekommen. Diese war zwar echt, aber dennoch ein Irrtum. Kaum ein anderer Darsteller hat das italienische und europäische Nachkriegskino so sehr geprägt wie er. Die Komplizenschaft, die er von der Leinwand aus in den Kinosaal hinein herstellt, ist umfassend. Sie trägt die Züge einer tiefen Verwandtschaft. Man konnte ihn immer als den älteren Bruder betrachten, den man manchmal beneidete und um den man sich oft genug Sorgen machte. Marcello, auf dessen Nachnamen dieser Artikel deshalb fortan verzichten kann, besitzt die Gabe, dass man mit ihm fühlt.

Das lässt sich nun im Filmarchiv Austria überprüfen, das seinen 100. Geburtstag mit einer fulminanten Retrospektive begeht. Aus seinen Anfangsjahren in den frühen fünfziger Jahren ist nichts zu sehen. In sie fällt die Begegnung mit Luciano Emmer, der zu einem seiner wichtigsten Regisseure wird. Von Domenica d‘agosto (Ein Sonntag im August, 1950) an arbeitet er sich in dessen Zeitbildern vom Nebendarsteller zum Protagonisten empor. Mit Peccato che sia una canaglia (Schade, dass du eine Kanaille bist) nimmt 1954 eine noch wichtigere Partnerschaft ihren Beginn, die 40 Jahre und 12 Filme andauern wird – mit Sophia Loren. Sie bilden ein unfehlbares Gespann (auch an der Kinokasse), in dem sich früh eine Hierarchie etabliert: „Sophia agiert, ich reagiere.“ Auf der Leinwand wirkt das Paar so lebensecht, dass seine private Beziehung wohl tatsächlich platonisch bleiben konnte.

Als er 1958 im Ensemble von I soliti ignoti (Diebe haben’s schwer) auftritt, ist er in Italien längst ein Star. Mit Mario Monicellis Film – im Kern eine Parodie auf Rififi, nur mit armen Schluckern und Amateuren – erlebt die volkstümlich-widerspenstige Commedia all‘italiana ihren ersten Höhepunkt und verliert zugleich ihre Unschuld: Mittendrin lassen die Drehbuchautoren Age & Scarpelli eine tragende Figur (keine Sorge, nicht Marcello) bei einem Verkehrsunfall sterben und demonstrieren, dass in einer Komödie alles möglich ist. Es ist gescheit, dass die Hommage mit dem Komödianten Marcello beginnt. Er ist die Grundierung seiner Filmkarriere, die sich vielfach übermalen, aber nur selten tilgen lässt. Auf der Bühne fängt er ganz anders an, aber im Kino stellt sie einen Instinkt dar, dem er vertrauen kann. Mit ihm kommt eine eigene Perspektive auf das Tragische ins Spiel. Stets geht er eine Wette ein, wie viel Tiefgründigkeit sich aus dem Leichten schöpfen lässt. Das gelingt ihm besonders gut in dramatischen Filmen wie Monicellis Meisterwerk I compagni (Die Peitsche im Genick, 1963), der von den Weberaufständen im Turin des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählt, und in dem Marcello in der Rolle eines politischen Agitators als Schlingel zu Hochform aufläuft.

PRÜFUNGEN ITALIENISCHER MÄNNLICHKEIT

1924 wird er im Hinterland von Rom in Fontana Lini geboren. Als er neun Jahre alt ist, zieht die Familie in die Hauptstadt um – passenderweise gleich in die Via Tuscolana, an der die Studios von Cinecittà liegen. Mit 13 steht er zum ersten Mal als Statist vor der Kamera. Sein Bruder Ruggero wird später einer der besten Schnittmeister des italienischen Kinos werden. Während des Zweiten Weltkriegs machte Marcello eine Ausbildung als Bauzeichner und arbeitet für die Stadtverwaltung. Nach Kriegsende studiert er Betriebswirtschaft und wird Buchhalter, unter anderem bei einem Filmverleih. Das ist zwar ein ernsthafter Broterwerb, aber nach Feierabend lockt ihn das Theater. Er spielt zuerst in einer Truppe an der Universität, bevor er sich langsam in Bühnenkreisen einen Namen macht. Luchino Visconti entdeckt ihn und überträgt Marcello die Hauptrolle in „Endstation Sehnsucht“ (Teatro Eliseo, Rom, 1949). 1957 besetzt Visconti ihn auch im Film: In Le notti bianche (Weiße Nächte) spielt Marcello an der Seite von Maria Schell und Jean Marais. Darin gelingt ihm, inmitten seiner Komödienengagements im Kino, eine erste Studie von Verzweiflung und Vergeblichkeit der Liebe. Nun eröffnet sich Marcello ein Zwischenbereich des Unentschiedenseins, seine Figuren sind auf der Suche nach authentischen Gefühlen, aber entdecken nur deren Flüchtigkeit. Spätestens ab La dolce vita, seinem ersten Film mit Federico Fellini, handelt sein Werk vom modernen Terror der Zerstreuung. Nichts lässt sich festhalten in diesem monumentalen Gesellschaftsfresko, trotz der Abbildungssucht der Moderne, alles löst sich auf, der Wankelmut des Lebens siegt. In der Rolle des Boulevardjournalisten, der seinen Vornamen trägt, scheint er alle Illusionen und Gewissheiten zu verlieren. Dennoch bewahrt Marcello sich einen Bodensatz an verschüttetem Idealismus und eine romantische Aura: als ein Optimist der Begegnungen, der hoffnungsvoll in jede einzelne geht und für einen Moment vergisst, dass in seinem Leben die Flüchtigkeit regiert. Aber in der letzten Episode, als die Nachtschwärmer von einer Orgie an den Strand kommen und das Meeresungeheuer finden, als Marcello die junge Kellnerin wiedersieht und die Brandung ihre Worte übertönt, stirbt jede Hoffnung auf eine innere Klarheit.

In dieser Epoche ist Marcello nur indirekt eine Figur des Wirtschaftsbooms. Als Geschäftsmann, der eine prächtige ökonomische Zukunft schafft, ist er schwer vorstellbar. Er durchlebt vielmehr die Entfremdung, die mit dem Boom einhergeht. Sein von Selbstzweifeln geplagter Schriftsteller befindet sich in Michelangelo Antonionis  La notte (Die Nacht, 1961) zwar im Vorzimmer des Ruhms, hat aber den Glauben daran verloren, er könne noch etwas Ernsthaftes zu Papier bringen. Seine bürgerliche, durchaus mondäne Ehe droht zu scheitern, trotz der zärtlichen Aufmerksamkeit, die Marcello und Jeanne Moreau verblüffend entspannt und gelöst in ihre Gesten legen. Die verhinderte, ausgeschlagene Kommunikation und die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit sind auch kardinale Themen des neben Antonioni zweiten großen Melancholikers im italienischen Nachkriegskino, Valerio Zurlini. Cronaca familiare (Tagebuch eines Sünders, 1962) gehört zu den schwärzesten und besten Filmen des Schauspielers.

Derweil hört er nicht auf, in Komödien die Anfechtungen und Prüfungen italienischer Männlichkeit wacker durchzudeklinieren. Eine der bizarrsten Varianten stellt La decima vittima (Das zehnte Opfer, 1965) von Elio Petri dar, wo er als träger, gleichwohl zusehends nervöser Playboy in eine medienwirksame und lukrative Menschenjagd verstrickt ist. Dass es sich um einen Science-Fiction-Film handelt, merkt man vor allem daran, dass Marcello (wiederum sein Rollenname) mit blondierten Haaren agiert. Die wahrscheinlich größte Bizarrerie in seiner Karriere ist freilich Touche pas à la femme blanche (Berühre nicht die weiße Frau), wo Marco Ferreri 1974 die Schlacht am Little Big Horn in der Baugrube des neuen Hallenviertels in Paris nachstellt. Es ist eine der ganz seltenen Gelegenheiten, Marcello zu Pferde zu sehen: als überaus langhaarigen Colonel Custer, der unbeeindruckt durch das moderne Paris trabt. Er spielt ihn als deftige Karikatur militärischer Arroganz und virilen Ungenügens. Vor dem Liebesspiel muss Catherine Deneuve ihn zum Bett tragen.

ZEIT DER ERNTE

Nicht nur für Fellini ist er ein guter Soldat, der seinen Regisseuren an jeden Abgrund folgt. Marcello spielt aus Abenteuerlust, denn er spürt, es gibt viel zu entdecken, wenn man sich in einer Rolle zugleich verbirgt und offenbart. Sein Beruf ist ihm rätselhaft, er erstaunt ihn jedes Mal. Vermutlich hat er die Begegnung mit großen Regisseuren stets als eine Prüfung begriffen, durchaus wie ein verwöhntes Kind, das sich seiner Qualitäten nicht sicher ist und dennoch auf die Bewährung hofft. Er tritt ihnen entgegen als ein Erwachsener, der sich eine Kindlichkeit bewahrt hat. Sein Beruf ruht in einem ursprünglichen Spieltrieb. Vielleicht behauptet er deshalb, er sei eigentlich faul. Das ist keine kokette oder törichte Selbsteinschätzung, wenn man über 150 Filme gedreht hat. Eher schon ein Indiz für die Gründlichkeit, mit der er träumt. Kinder wissen, wie ernst das Spiel werden kann.

Die Magie des Kinos erlischt für ihn nie. Sie bleibt auch nach Jahrzehnten sein Lebenselement. In den letzten Jahren kann er an die früheren anknüpfen, nicht als Selbstzitat (obwohl der Striptease Lorens, bei dem er in Robert Altmans Prêt-á-Porter selig einschlummert, sehr vergnüglich ist), sondern als neugierig Suchender in der Vergangenheit, der eigenen und der seiner Charaktere. In Oci ciornie (Schwarze Augen, 1987) brilliert er als tschechowsche Figur, wiederum ein Leichtfuß (man achte auf das Vorgelpfeifen!), der der verflossenen Ursprünglichkeit mit kindlichen Enthusiasmus hinterherjagt. In seinem letzten Film Viagem ao Princípio do Mundo (Reise an den Anfang der Welt, 1997) erinnert sich Manoel de Oliveira daran, was für ein treffliches Alter ego er für Fellini gewesen ist. Nun trägt Marcello den Panamahut und blauen Pullover seines letzten Regisseurs. Er trägt dessen Vornamen und begibt sich auf eine Reise in dessen Erinnerungen. Er ist gebrechlich geworden, stützt sich auf eine Krücke. Aber der Impuls des Scherzes, der Fabulierlust ist ungebrochen. Er nimmt noch immer die Witterung des Lebens auf. In der zweiten Hälfte des Films ist Marcello vor allem Beobachter, er lauscht aufmerksam den Erinnerungen seiner Reisegefährten. Er besinnt sich auf das, was er schon immer prächtig konnte – er reagiert.