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Love-Lies-Bleeding

Love Lies Bleeding

Die Wüste liebt

| Alexandra Seitz |
Kristen Stewart operiert am offenen Herzen, in „Love Lies Bleeding“ von Rose Glass.

Um das gleich einmal klar zu stellen: Es handelt sich bei Love Lies Bleeding mitnichten um „Thelma & Louise für das 21. Jahrhundert“, wie uns die PR-Lyrik glauben machen will. Nicht jeder Film, in dem zwei Frauen Auto fahren und sich am Ende selbst ermächtigen, rollt in den breiten Reifenspuren von Ridley Scotts bahn- und herzbrechendem Roadmovie aus dem fernen Jahr 1991. Vergessen wir bei der Gelegenheit auch nicht, dass die beiden Freundinnen Thelma und Louise am Ende auf einen Abgrund zufahren, während das Publikum heult, sich mithin gerade mal zu ihrem eigenen Tod ermächtigen und eben nicht zu jener Freiheit, unbehelligt von männlichen Interventionen zu tun und zu lassen, was sie wollen.

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Wohingegen das Publikum am Ende von Love Lies Bleeding durchaus in Gelächter ausbrechen könnte angesichts der grotesken Lösung, die Glass für die Bredouille findet, in die ihre beiden Protagonistinnen Lou und Jackie geraten sind. Ein Gelächter der Erleichterung, des Erstaunens oder der Schreckensabwehr, oder eine Mischung dieser drei, weniger ein Gelächter über etwas tatsächlich Lustiges. Lustig ist hier nämlich eher wenig, und komisch nur in der latenten Wortbedeutung von „seltsam“.

Aber vielleicht ist mit „Thelma & Louise für das 21. Jahrhundert“ ja auch nur gemeint, dass Lou und Jackie lesbisch sind? Und in diesem Sinne emanzipiert von verführerischen Waschbrettbäuchen und den Schwierigkeiten, die diese mit sich bringen? Doch halt! Eben das sind unsere Heldinnen nicht. Denn die eine hat einen, Waschbrettbauch nämlich, den die andere anhimmelt – und das führt dann zu Schwierigkeiten. Also doch „Thelma & Louise 2.0“? Oder womöglich eine bierernste Variante von Ethan Coens Drive-Away Dolls, der dieses Jahr das Lesben-Roadmovie entscheidend nach vorn brachte? Möglicherweise aber auch einfach ganz was anderes …

Konfliktzonen

Es verhält sich folgendermaßen: Lou (Kristen Stewart) arbeitet in einer Low-End-Muckibude, dem Crater Gym, wo sie nicht nur dafür zuständig ist, dass die Klos funktionieren, sondern sich auch ein Zubrot verdient, indem sie den Pumpern Anabolika verkauft. Die Bude gehört ihrem Vater, mit dem sie so wenig wie möglich zu tun haben will – warum, werden wir noch erfahren. Lou lebt allein, wird aber aufdringlich und unnachgiebig angebaggert von der ziemlich schmierigen Daisy, die im Laufe der Ereignisse für Ärger und Zuspitzung sorgen wird. Dann kommt eines Tages Jackie ins Fitnessstudio, um für einen Bodybuilder-Wettkampf in Las Vegas zu trainieren, zu dem sie unterwegs ist. Lou verknallt sich sofort und bedingungslos in die Streunerin. Die für ein Dach über dem Kopf vor Prostitution nicht zurückschreckt, wovon bereits Lous Schwager JJ profitierte, der nicht nur deswegen ein Schwein ist, sondern vor allem, weil er Lous Schwester Beth regelmäßig grün und blau schlägt. Was die wiederum immer und immer wieder wegsteckt, weil … tja, weil Frauen im Namen der Liebe halt des Öfteren unverständliche und blöde Dinge tun. Unschwer zu erkennen, das Konfliktfeld ist reich und vielfältig bestückt, in Sonderheit als Lou Sr. einen sehr großen, sehr dunklen Schatten darauf wirft. Lou Sr. betreibt nicht nur den Schießstand, auf dem Jackie einen Job findet, er steckt auch mit dem organisierten Verbrechen unter einer Decke, weswegen ziemlich schnell ziemlich viel auf dem Spiel steht, als die Dinge eher aus Versehen ins Rollen kommen. Lou Sr. – auch so eine Gestalt, die einen zum Lachen bringen könnte. Mit seinen viel zu langen Haaren, die die ansonstige Glatzköpfigkeit erst so richtig zur Geltung bringen, sieht er aus wie ein Althippie, der den Schuss nicht gehört hat. Wahlweise wie ein übelgestimmter japanischer Dämon. Da der Typ von Ed Harris gespielt wird, der es bekanntlich nicht so hat mit der Komödie, ist mit Kifferwitzen und Dopefiend-Phlegma jedoch nicht zu rechnen.

Im Independent-Kino wird ja immer gerne von „dreckigen, kleinen Filmen“ gesprochen, was meist als Ehrentitel gemeint ist, im Sinne von kostengünstig und authentisch. Mit den Produktionsfirmen Film 4 (Großbritannien) und A24 (USA) stehen jedenfalls keine Armenhäuser in den Kulissen der Herstellung von Love Lies Bleeding. Gedreht wurde in Albuquerque, New Mexico. Als Zeitraum des Geschehens behauptet wird das Jahr 1989, womit Mobilfon-Getippe und Computer-Hexerei als Mittel der Narration automatisch wegfallen. Lou wird sogar als Leserin charakterisiert. Was sofort auffällt, ist die ausgesucht beiläufige Räudigkeit der Sets und Locations, sie wirken wie immer schon da gewesen, in alltäglichem Gebrauch und allmählich müde. Das Grindige überzieht alle Oberflächen, Schweiß und Dreck haben sich über die Jahre in jeder Ritze nicht nur des Gyms angesammelt. Draußen gleißt unterdessen die Sonne vom Himmel. Die Körper sind feucht und schlecht ernährt und leicht bekleidet mit billigen Klamotten, von jedem Punkt des erbärmlichen, miesen, namenlos bleibenden Kaffs, das Ort der Handlung ist, ist die Wüste nah. Und in der Wüste sind die Löcher und Spalten, in denen schon so mancher auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Immer wieder schwingt sich die von Ben Fordesman geführte Kamera in die Lüfte, zeigt Wolkenstimmungen und Farben und landschaftliche Schönheit. Zeigt aber auch die Figuren von oben, zeigt den Raum, in dem sie sich bewegen, und setzt so beides ins Verhältnis. Der Raum bietet keinen Schutz, ist vollgerümpelt mit Zeug und Müll, und oft wirken die Figuren darin wie verloren, zerbrechlich und verletzlich.

Austesten von Grenzen

Insbesondere natürlich Kristen Stewart, die in der Rolle der Lou einmal mehr eine dieser feinnervigen Ziselierungen an einer bereits gehäuteten Figur vornimmt, verzeihen Sie die Metapher. Lou, mager, zerrupft und nachlässig gepflegt, raucht zu viel und isst zu wenig. In ihr ist etwas verdrängt und begraben, an das rührt die Narration nur in einigen wenigen Andeutungen – die aber ausreichen, um Gefahr wie Gefährdung gleichermaßen sichtbar zu machen. Die Kraft dieser Figur speist sich aus der Willenskraft und die wieder aus dem Mut einer Verzweiflung, die jederzeit vom Mut wieder verlassen werden kann. Dann bliebe nur noch die Verzweiflung und folglich der Zusammenbruch. Stewarts schauspielerische Qualität liegt nicht zuletzt darin, dass sie dergleichen komplexe Gefühlslagen spielen kann. Und doch kann man manchmal kaum hinschauen; es ist der berüchtigte Ritt auf der Rasierklinge und auf Gnade ist nicht zu hoffen.

Es pumpen hier keine fühllosen Muskelberge, es pumpt das Herz und es blutet und es geht ums Überleben und um die Liebe. An Stewarts Seite agiert als Jackie in ihrer ersten Hauptrolle Katy O’Brian, deren Muskeln übrigens echt sind, weil sie auch im wahren Leben diversen Kampfsportarten sowie dem Bodybuilding frönt. Aber auch diese Figur, davongelaufen aus der Eintönigkeit des ländlichen Oklahoma, wirkt gefährdet und ist angreifbar. Was spätestens deutlich wird, als sie beim Wettkampf, im Anabolika-Rausch, von traumatisierenden Erinnerungen eingeholt wird. Wie unter LSD-Einfluss verzerren sich da mit einem Male die Gesichter der Konkurrentinnen zu gruseligen Fratzen. Es ist nicht der erste und bei weitem nicht der letzte Moment, in dem dieser Film den Anschein des Realistischen aufgibt, das Fenster zum Horror öffnet und in eine andere Dimension hinüberlugt. Denn Rose Glass’ Spezialität, wenn man so will, ist ihr unbefangener Umgang mit Genreregeln; anders gesagt erblickt sie in Grenzen zuvörderst etwas, das sich überschreiten lässt, nein, das überschritten werden muss, um sich einem grundlegenden Trauma bildgebend nähern zu können.

Das Drehbuch zu Love Lies Bleeding hat Glass gemeinsam mit der in Polen geborenen und ausgebildeten, in London lebenden Regisseurin und Autorin Weronika Tofilska geschrieben. Letztere führte Regie bei vier der sieben Folgen der derzeit schwer angesagten Netflix-Mini-Serie Baby Reindeer. Glass wiederum, 1990 geboren, aufgewachsen in der englischen Grafschaft Essex, studierte in London und schloss ihr Studium an der National Film and Television School 2014 mit einem Master in Regie ab. Nach einigen Kurzfilmen und Musikvideos legte sie 2019 mit Saint Maud ihr vielbeachtetes und mehrfach preisgekröntes Langfilmdebüt vor, eine keinesfalls simple Übung in Psychohorror, die die Richtung vorgibt: Glass, die ein eigenes Drehbuch inszeniert, nimmt sich die Psyche von Titelheldin Maud vor, einer Privatpflegerin, die sich in einem englischen Küstenstädtchen um Sterbende kümmert, nachdem sie wegen eines nicht näher bezeichneten „Zwischenfalls“ ihre Anstellung im staatlichen Krankenhaus verloren hat. Die junge Frau ist tief religiös; als sie es mit der Tanz-Choreografin Amanda zu tun bekommt, sieht sie sich berufen, deren Seele zu retten. Was insofern nicht einfach ist, als Amanda gerne und so lange es eben geht auf die Pauke haut, außerdem ist sie lesbisch. Amanda beobachtet die religiöse Inbrunst ihrer Pflegerin fasziniert und freilich, da in Todesnähe, auch ein wenig verunsichert. Es entwickelt sich ein Kräftemessen, das unentschieden lässt, ob Maud sich immer tiefer in einen religiösen Wahn bohrt oder tatsächlich Gottes Geschöpf und Sprachrohr ist? Ebenso ist nicht zu entscheiden, ob in Amanda nicht tatsächlich der Versucher steckt. Vor allem dank des engagierten Spiels von Morfydd Clark in der Titelrolle gelingt es Saint Maud, zugleich Horrorfilm zu sein wie Psychostudie, und als Letztere in der Realität verankert zu bleiben. Glass legt ihre Perspektive im Inneren einer traumainduzierten Neurose an, und beleuchtet von dort aus Möglichkeiten des Verhaltens, des Handelns, der Interpretation. Sowie die daraus erwachsenden Konsequenzen – sie fallen, insofern die Gesellschaft den Wahn ihrer Mitglieder allzu oft allzu leichtfertig unterschätzt, fürchterlich aus.

Mit Love Lies Bleeding setzt Glass nun ein weiteres, eindrückliches Zeichen auf dem weiten Feld der Repräsentationsformen von Weiblichkeit. Sie zeigt, wie das aussehen kann, wenn eine Frau über sich selbst hinauswächst. Buchstäblich.