Zugänge zum musikalischen Schwellenjahr 1970 anhand von Beispielen aus dem Kanon und zu Unrecht ignorierten Werken. Ein Jahr des Aufbruchs, der Triumphe und der tragischen Todesfälle.
Was an der Schwelle des neuen Jahrzehnts sich ausdifferenzierte in eine Vielfalt von Stilmixturen: Folk-, Country-, Blues-, Jazz-, Acid-, Raga-, Classic- und Electronic-Rock – und sogleich in neuen Formationen zu neuen Sounds fusionierte, könnte man als eine zweite Revolution der Popmusik bezeichnen. Psychedelische Toncollagen und Hörbilder, Akte freiflottierenden blinden Verstehens im Drifting ausgiebiger Improvisationen dauerten oft länger als 20 Minuten, sprengten geläufige Formate und konnten nur auf ganzen Langspielplattenseiten konserviert werden („wie ein Esperanto aus sämtlichen Musik-Dialekten der Welt“ – „Spiegel“, 25/1970). Eines der ersten Stücke des Rock, die sich über eine ganze Plattenseite erstreckten, „In-A-Gadda-Da-Vida“ (eigentlich hatte es „In the Garden of Eden“ heißen sollen), hatte die 1966 in San Diego gegründete Hard- und Psychedelic-Rockband Iron Butterfly in einem einzigen Take mit zentralem langen Drum-Solo aufgenommen. Volle 140 Wochen befand sich dieses Album von 1968 in den US-Charts, wirkte mithin intensiv ins Jahr 1970 hinein, als ihr Album „Live at Fillmore East“ eine für Kenner dieses anhaltenden Dope-Party-Hits deutlich bessere, durchgängig auf Bass und Gitarre basierende und zudem noch längere Version präsentierte.
We Are Stardust
In dem Jahr, als Bob Dylan eine Sammlung zahlreicher Cover-Versionen, teils im „Country croon“-Gesangsstil, aber auch Instrumentals und Liveaufnahmen früherer eigener Stücke – „Like A Rolling Stone“ etwa – in seinem kontrovers rezipierten Doppelalbum „Self Portrait“ herausbrachte, hörte man auch Singer/Songwriter James Taylor (zu seiner Rolle als „Driver“ in Monte Hellmans Film Two-Lane Blacktop von 1971 neben Beach Boys-Drummer Dennis Wilson siehe: „ray“ online 09/17 – „Pathos des Scheiterns“) auf seiner zweiten Langspielplatte „Sweet Baby James“ solche nie alternden Songs wie „Fire And Rain“ und „Country Road“ singen; Taylors „Steamroller Blues“ wurde 1973 von Elvis Presley gecovert. Joni Mitchell, deren Beziehung zu James Taylor sie zu dem Album „Blue“ (1971) inspiriert haben soll, besingt mit ihrer glockenhellen Stimme und reinsten Höhensprüngen auf ihrem vorangegangenen Album „Ladies Of The Canyon“ bereits ein „grünes“ Bewusstsein: Es enthält u.a. „Big Yellow Taxi“ sowie die Urfassung der eigentlichen Hymne zu „Woodstock“: „We are stardust / We are golden / And we got to get ourselves / Back to the garden“, ehe diese von der Folk-Rock-Band Crosby, Stills, Nash & Young, mitunter als erste „Supergroup“ bezeichnet, aufgenommen wurde. Ihre LP „Déjà vu“ (1970) erreichte Platz 1 der US-Charts, 1971 gefolgt von dem Live-Doppelalbum „4 Way Street“. Im selben Jahr debütierte Steven Stills mit einem Solo-Album, und Neil Young verband auf seinem bereits dritten Album, „After The Goldrush“ – u.a. mit „Only Love Can Break Your Heart“ –, Hardrock mit Country und Folk. Die Aufnahmen zu dieser Platte fanden im improvisierten Kellerstudio seines Hauses statt.
Im September 1970 zum Release ihrer vierten Studio-Langspielplatte sah man auf dem Cover von „Deep Purple In Rock“ am Mount Rushmore anstelle der Felsskulpturen der US-Präsidenten die Köpfe der Bandmitglieder. Hard Rock und Heavy Metal, das ergab so etwas wie Speed Metal. Das extrem erfolgreiche Album enthält die Urversionen von „Speed King“ und „Child In Time“. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts bildete es ein offenbar gefragtes Gegengift zu friedvoller Flower Power. Eine noch härtere Gangart vertraten Iggy and the Stooges mit ihrem zweiten Album „Fun House“ – massiv und ungestüm und vom Todestrieb verführbar: In „1970 – I Feel Alright“ gibt der E-Bass das stereotype Klangfundament für heulend metallisch am Reizpunkt zerrenden Leadgitarren-Sound, bis er ausrastet, seine Rolle im Rhythmusdienst endgültig aufgibt, sich fortan frei bewegt, das Ganze mit harten Einschüben des Saxophons in orgiastische Atonalität kulminiert und allmählich in einer Sphäre agonalen Feedback-Fiepens auswabert.
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Too bright to live
Was sich in der Musik jener Jahre entwickelte, sinnliche, vitale Interaktion, ausufernde Improvisation, erweiterte nicht nur den Rahmen der Songs, die Dauer suitenhaft ineinander übergehender Stücke, es förderte auch die Lust am Live Act, den Drang danach, das Bühnengeschehen, die akustische Verständigung, die Einzigartigkeit der Performance festzuhalten. Die Zahl der Live-Alben, ganz abgesehen von kursierenden Schwarzpressungen in oft abenteuerlicher Tonqualität, stieg beträchtlich. Grateful Dead aus San Francisco erlaubten Bootleggern die Aufnahmen ihrer Liveshows, anfangs mitunter mobil, auf der Ladefläche von LKWs, und dokumentierten selbst fast jeden ihrer Auftritte mit mobilem 16-Spur-Rekorder. „Live/Dead“, die Doppel-LP von Ende 1969, brachte der Band erste Einnahmen, „Workingman’s Dead“ folgte 1970 (das damals von den „Rolling Stone“-Lesern zur Nummer eins gekürte Album soll in Neu-Edition erscheinen), und „Skull & Roses“ (1971) sowie „Europe ’72“ bringen die Band wieder live zu Gehör. Wenn Jerry Garcia, Leitfigur und Gitarrist der Band, im Übergang vom Stimmen und Testen der Instrumente beim unmerklichen Eintauchen in die Harmonien eines Stückes wie nebenbei „We are rolling“ ins Mikro verkündet, meint man sogleich eine sanft einsetzende Schubkraft zu spüren, eine Welle aus Folk, Country, Bluegrass, R’n’B, Rock’n‘Roll, Psychedelic and Space, die einen unausweichlich auf- und mitnimmt in ihrem entspannten Tonus.
Als Joe Cocker in der Folge seines legendären Woodstock-Auftritts 1970 mit Mad Dogs & Englishmen und Leon Russell auf US-Tournee ging, 56 Tage im 50-köpfigen Team wie in einem Wanderzirkus verbrachte, sorgte man mit Filmaufnahmen und Mitschnitten für die Dokumentation einer enormen Soulfeeling-Atmo, die von den überwiegenden Cover-Versionen ausgeht, eingebettet wie in eine Hippie-Kommune, deren eine Hälfte, die 21-köpfige Band, allabendlich auf der Bühne steht, eine dauerhaft wohl nur unter Drogen durchhaltbare Anstrengung. Der britische Gitarrist und Singer/Songwriter Kevin Ayers, Abkömmling der unvergleichlichen Canterbury-Musikszene, Mitbegründer von The Wilde (!) Flowers und von Soft Machine, erscheint mit der galant lapidaren Lyrik seiner Songs wie ein später Vertreter eines britischen Dandyismus des Pop, seine Auftritte seltene Schauspiele von Anmut. Nach „Joy of a Toy“ (1969) hatte er mit seiner Band The Whole World (dazu gehörig auch Mike Oldfield, der 1973 mit „Tubular Bells“ groß einschlug) eines der bedeutendsten, eigenartigsten, rätselhaftesten Alben jener Zeit hinterlassen: „Shooting at the Moon“, am ehesten wohl noch dem Art Rock von Velvet Underground nahe (aus den siebziger Jahren sind Auftritte mit John Cales Band dokumentiert). Im Rückblick spricht Kevin Ayers (siehe YouTube) über die Herausforderung im Konzerttournee-Geschäft des Pop, sich andauernd wiederholen zu müssen auf der Bühne, sodass mitunter das Spontane als Stage Act in den Kontrakt geschrieben worden war – „every fucking night“. Er dachte dabei an Hendrix, den er bereits mit Soft Machine auf Tournee als Vorband begleitet hatte. Vieles, was in jener Phase an Musik geschaffen worden war, sei einfach „too bright to live“ gewesen.
Mercedes Benz
Weniger schwarz als die Stimme Joe Cockers, dafür mit einem charakteristischen Vibrato, war die von Roger Chapman, Sänger der Progressive Rock-Band Family. Das Album „A Song For Me“ mit zehnminütigem Titelstück sowie „Anyway“, das Live-Pendant, erschienen 1970. Das Merkmal „progressive“ beanspruchten viele der britischen Bands für sich, die den elektrischen Blues fusionierten und stilistisch auf der Suche waren. Den wohl stärksten Einfluss des Blues auf einen britischen Sänger ließ wohl Eric Burdon erkennen, der bereits 1961 für Alexis Korners Band, die Talentschmiede Blues Incorporated, sang; Eric Burdon and the Animals existierten seit 1964 bis zur stilistischen Wende durch die Gründung von Eric Burdon & War und deren Debütalbum „Eric Burdon Declares War“, ein Amalgam aus Jazz, Blues, Soul und Latin. Ein stark perkussiver Background prägte die Band, die, ebenfalls 1970, die LP „The Black Man’s Burdon“ mit diversen Coverversionen einspielte, darunter das auch von Edgar Winter im selben Jahr auf seinem ersten Studio-Album „Entrance“ aufgenommene, 17-minütige „Tobacco Road“.
Der Stil lässt etwas an den Latin-Rock der Gruppe Santana denken, 1966 in San Francisco von Carlos Santana gegründet, deren erste LP (1969) bereits 108 Wochen in den US-Charts zubrachte, die zweite, „Abraxas“ (mit dem Gassenhauer „Black Magic Woman“) von 1970, erzielte enorme Verkäufe. Unbedingt zu nennen ist noch Van Morrison aus Belfast, der mit seinem eigenen Song „Gloria“ und dem Dylan-Cover „It’s All Over Now, Baby Blue“ seine größten Erfolge hatte, und mit „Astral Week“ ein von der Kritik gepriesenes, schlecht verkauftes Blues-Jazz-Fusion-Album vorlegte; die 1970 anschließende LP „Moondance“ hat längst Klassikerstatus erreicht und ist fester Bestandteils des Repertoires, das Morrison bis heute spielt.
Was wurde aus der Ex-Cream-Superkonstellation nach der Trennung („Goodbye Cream“, 1969)? Eric Clapton und Ginger Baker nahmen in der von Produzenten gecasteten Band Blind Faith ein sehr erfolgreiches Album auf, das sie mit einem Free-Open-Air-Konzert im Londoner Hyde Park bewarben. Nach dieser Episode formierte der Schlagzeuger Baker unter dem Namen Ginger Baker’s Air Force 1970 zwei Alben, die stark von afrikanischem Sound, Perkussion und Gesang geprägt waren. Zu der Band gehörte zeitweilig Graham Bond, dessen eigene Band, Organization („The Sound of ’65“, 1965), einmal den Kern der britischen Jazz-Rock-Szene dargestellt hatte (u.a. mit John McLaughlin, Dick Heckstall-Smith, Jack Bruce und Baker); er hatte die Hammond-Orgel und das Mellotron in die Rockmusik eingeführt.
Das „Love-And-Peace-Festival“, im September 1970 an der Ostsee in Fehmarn, wurde nicht nur dadurch berühmt, dass Jimi Hendrix hier seinen letzten Festival-Auftritt hatte – der Gig von Air Force am Vortag galt als der gelungenste der regenreichen Veranstaltung. Jack Bruce brachte 1970 mit „Things We Like“ ein Jazz-Album heraus und nahm, etwa für „Harmony Row“, Balladen auf, die anhaltende Bedeutung für sein künftiges Spiel haben sollten; sein Gesang für Carla Bleys 1968 bis 1971 produzierte Jazz-Composers-Orchestra-Oper „Escalator Over The Hill“ hat hier eine Art Sonderstatus inne. „Slowhand“ Clapton gründete 1970 die Bluesrock-Band Derek and the Dominos (es hieß, aus Frust über den künstlichen Hype um „Supergroups“). Auf einer US-Tournee sah er einen Auftritt der Allman Brothers Band, die 1971 mit „Live at Fillmore East“ ihren großen Durchbruch hatten. Duane Allman, der Slide-Guitar-Matador des Southern Rock, verstand sich anscheinend bestens mit der britischen Bluesrock-Ikone und trug sein Bestes zu Claptons/Dereks berühmt gewordener Platte „Leyla and Other Assorted Love Songs“ bei; mit den Brothers hatte er vordem das Studioalbum „Idlewild South“, das Cover-Versionen von Blues-Standards enthält, eingespielt. Zu jener Zeit gab es einen R’n’B-Boom, der u.a. den älteren schwarzen Bluesgitarristen John Lee Hooker 1970 in die Charts brachte, es kam zu gemeinsamen Auftritten, etwa von Muddy Waters, B.B. King mit den jungen Wilden, Johnny Winter etwa, für welche sie jetzt Vorbilder, Lehrer, Vermittler waren.
Im September 1970 war Janis Joplin in Los Angeles für Aufnahmen zu ihrem dritten Columbia-Album „Pearl“, das mit (Kris Kristoffersons) „Me and Bobby McGee“ einen Number One-Hit enthielt. „Mercedes-Benz“ war das letzte Stück, das sie aufnahm, ehe sie am 4. Oktober 1970 – zwei Wochen nach Jimi Hendrix und wie er 27 Jahre alt – starb.