Schauspieler als Regisseure: ein Streifzug durch zwölf Jahrzehnte Filmgeschichte.
Sie gehören zu den häufigsten Quereinsteigern in den Beruf des Regisseurs. Und im Gegensatz zu Drehbuchautoren, Cuttern oder Kameraleuten bringen sie ein bekanntes Gesicht mit. Aber warum wechseln Schauspieler so gern in den Regiestuhl? Sie erweitern damit den Radius ihrer Kreativität und Einfühlung. Natürlich wollen sie ihre eigene Kunst und die ihrer Kollegen noch besser zur Geltung bringen. Vielleicht hoffen sie, einem Rollenbild zu entkommen, auf das sie sich festgelegt fühlen; der Regisseur Ernst Lubitsch kultivierte eine andere Art von Komik als der Darsteller. Regie zu führen bedeutet, erst recht nach dem Ende des Studiosystems in Hollywood, auch einen Zugewinn an Macht, eigene Ideen und Stoffe zu realisieren. Die Präsenz vor und hinter der Kamera ermöglicht es, einer Weltanschauung stärkeren Ausdruck zu verleihen (wie im Fall von John Wayne, Robert Redford oder Warren Beatty). Manche ärgern sich über die Inkompetenz ihrer Regisseure (wie Clint Eastwood) und streben Vorbildern nach (Eastwood als Schüler Don Siegels und Sergio Leones). Jede Auswahl ist lückenhaft und ungerecht. Sacha Guitry schied aus, da er wie Woody Allen im Wesentlichen Autor ist; die Regiearbeiten Sergej Bondartschuks und Nikita Michalkows sind mitunter allzu staatstragend. Diese Auswahl folgt dem Gestus der Repräsentation: einer Epoche, eines Genres oder Stils. Ein Kriterium eint alle: zweifach begabt zu sein.
Der Poet der Verwandlung: Georges Méliès
Er sah sich selbst wahrscheinlich gar nicht als Schauspieler. Auch auf der Kinoleinwand blieb er vorerst noch der Bühnenmagier, der sich nach Gelingen des Kunststücks zusammen mit seinen Assistentinnen stolz vor dem Publikum verbeugt. Aber er verschrieb sich mit Haut und Haar dem neuen Medium. Er machte Phantasie und Staunen in ihm heimisch. Seine frühen Filme sind noch ganz der Dramaturgie seiner Bühnenauftritte verhaftet – Requisiten verschwinden oder verwandeln sich dank magischer Intervention – und als Sketch angelegt. Anders als bei den Brüdern Lumière entfalten sich die Ereignisse, Sensationen nicht im Verstreichen der Zeit, sondern geschehen abrupt, überraschend: Rasch eröffnen Stopp-Tricks und Doppelbelichtungen ihm ungeahnte Möglichkeiten. Eine kuriose Morbidität eignet seinem Werk, das eine vielfache Variation der zersägten Jungfrau ist. Auch darin trafen sich Kino und Zauberei: im Vertrauen auf die Unversehrtheit der Akteure. Immer aufwändiger produzierte er seine filmischen Feerien. Bald erzählen sie von Reisen an ferne, imaginäre Orte. Moderne Technologie geht ein Bündnis mit der Sehnsucht der Zuschauer nach dem Fantastischen und der Exotik ein. Und irgendwann hörten die Akteure auch auf, sich zu verbeugen.
Der Dandy: Max Linder
Er war der populärste Komiker seiner Epoche. Der aufstrebende Filmkonzern Pathé verdiente vor dem Ersten Weltkrieg ein Vermögen an ihm. Er war der filmische Inbegriff der Belle Epoque, brillierte als galanter Schürzenjäger und Erbschleicher. Sein Mienenspiel und seine Gestik erzählen von gesellschaftlichem Dünkel. Als erster Filmkomiker erkannte Max Linder, wie wichtig der Wiedererkennungswert eines Kostüms ist. Sein Ruhm wäre undenkbar ohne eleganten Gehstock, Zylinder, Krawatte, dreiteiligen Anzug und blankpolierte Schuhe. Als er dem Ruf Hollywoods folgte, behielt er seinen Stil der Charakterkomik bei, fügte ihm aber geistesgegenwärtigen Slapstick hinzu.
Charlie Chaplin, den Sie gewiss eigentlich an dieser Stelle erwartet hätten, nannte ihn seinen Lehrmeister. Tatsächlich war Linder richtungsweisend. Selbst wenn er nicht deren ausgesprochenes Vorbild war, ebnete er den Weg für Jacques Tati, Jerry Lewis, Pierre Étaix und alle anderen. Er übernahm Regie, um uneingeschränkte Kontrolle über Rhythmus und Timing zu haben, später experimentierte er mit Zeitlupe und witzigen Parallelmontagen. Sein inszenatorischer Blick war großzügig: Auch seine Partner durften einfallsreich sein, wobei seine gewitztesten Gegenspieler nicht selten der Tierwelt entstammten. Die Doppelpantomime aus Seven Years Bad Luck (1921), die das Zerbrechen eines Spiegels kaschieren soll, weist auf Duck Soup mit den Marx Brothers voraus. Und von den dreisten Anachronismen, mit denen er seine Parodie The Three Must-Get-Theres (1922) spickte, könnte Mel Brooks eine Menge gelernt haben.
Das geliebte Scheusal: Erich von Stroheim
Auch im Leben beherrschte er das Rollenspiel perfekt. Als er in die USA kam, erfand er sich komplett neu, legte sich eine adlige Herkunft zu und schmückte sich mit einer glanzvollen Karriere als Dragoner-Offizier. Während des Ersten Weltkriegs verlieh Erich von Stroheim dem Feind erotisch vieldeutige Gestalt. Hassen musste ihn das Publikum, weil er böse war, und lieben, weil er es darin einweihte. Im Charisma der schmissigen Verführer, die der strenggläubige Katholik und hingebungsvolle Familienvater von Blind Husbands (1919) an in seinen eigenen Regiearbeiten verkörperte, verschmolzen nahtlos Galanterie und Verworfenheit. Uniformen trug er wie eine zweite Haut. Fesch sah er aus, wenn er sich mit Epauletten und Orden schmückte. Das Monokel saß stets so stilecht, als sei er damit geboren. Wie wird er sich in diesem Kostüm gefühlt haben? War er nicht ständig verführt, dabei die Grenze zwischen Fiktion und Realität aus den Augen zu verlieren? Er war unerbittlich im großen erzählerischen Entwurf – Länge und szenischer Aufwand seiner Filme sprengten jedes bis dahin gekannte Maß – wie im Detail. Seine Besessenheit trieb die Produzenten zur Verzweiflung. Er bestand auf der Authentizität jedes einzelnen Kostüms, selbst die Statisten mussten Unterwäsche mit Monogramm tragen; das korrekte Salutieren ließ er sie tagelang üben.
Der Stratege des Betörens: Willi Forst
Anfangs war der Sohn eines bekannten Wiener Porzellanmalers auf zwielichtige Figuren abonniert. Mit dem Durchbruch des Tonfilms wurde er jedoch zum Star in Filmoperetten und Komödien. Die Leinwandaura des „eleganten Windhundes“ (Lotte Eisner) blieb als Grundierung von Willi Forsts Leinwandauftritten stets sichtbar; namentlich als gewissenhafter Verführer in Robert Siodmaks Zweig-Verfilmung Brennendes Geheimnis. Sein Regiedebüt gab er 1933 mit der Schubert-Biografie Leise flehen meine Lieder. Für ein paar Jahre verstand er sich auf die Magie des Zusammenspiels von Licht, Ton und gegensätzlichen Schauspielertemperamenten.
Man ahnt, dass er die ersten Tonfilme René Clairs und frühen screwball comedies genau kannte. Wie kein zweiter deutsch-sprachiger Regisseur besaß er ein Gespür für Dialog- und Bildpointen, einen ausgeprägten Sinn für Atmosphäre und eine leichte Hand bei der Schauspieler- und Kameraführung. Ernst Lubitsch war ein großer Bewunderer seiner Maskerade (1934). Forst stand stets auf der Seite der süßen Mädel und armen Künstler, die sich im geborgten Frack auf das Parkett mondäner Ballsäle wagen. Frivolität und Leichtsinn mögen auf den ersten Blick in seinen Walzerkriegen triumphieren, aber sie haben einen doppelten Boden, fordern nicht nur in den Melodramen ihren Preis. Seine besten Filme entführen nicht nur in ein verzuckertes Wien, ihre Melange aus Wehmut und Skepsis lässt eine Empfindsamkeit erahnen, die sich während des Zerfalls der k.u.k. Monarchie entwickelte.
Der selbstzerstörerische Titan: Orson Welles
Er ist selbstverständlich unverzichtbar für diese tour d’horizon – schon allein, weil seine weit charismatischeren Shakespeare-Verfilmungen die Erwähnung von Laurence Olivier und Kenneth Branagh überflüssig machen. Orson Welles verkörperte beinahe sämtliche Facetten des künstlerischen Schaffens vor und hinter der Kamera: den Eigensinn, der mit dem Studiobetrieb Hollywoods kollidiert und deshalb auf schauspielerischen Broterwerb angewiesen ist; die Eitelkeit, sich selbst gern die Großaufnahmen vorzubehalten; aber eben auch eine Vision, die über die eigene Rolle hinausreicht. Es ist also vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass Everett Sloane die schönste Szene in Citizen Kane (1941) hat, dass er in The Magnificent Ambersons (1942) nicht selbst auftritt und Micheal MacLiammoir ein so bezwingender Jago in seinem Othello (1952) ist. Andererseits ist sein Halbprofil natürlich so nobel, dass ihm weder seine Kameraleute noch die der anderen Regisseure widerstehen konnten. Und erzählte Welles nicht in jeder seiner Regiearbeiten stets auch seine eigene Lebensgeschichte? Es braucht schon ein großes Maß an Masochismus, so beharrlich und hellsichtig den Niedergang eines Titanen zu schildern und keine Variante der Demütigung auszusparen.
Die hartgesottene Feministin: Ida Lupino
Den Chefs der großen Hollywoodstudios war der Wunsch von Stars, auch Regie zu führen, eher ein Dorn im Auge. Die Vorstellung, ein Schauspieler könne mitdenken, erfüllte sie wohl mit Argwohn. Diese Hierarchien waren allenfalls durchlässig, wenn ein Darsteller vom Theater einen Ruf als Genie mitbrachte (wie Welles) oder sich durch ein weiteres Talent (wie der Choreograf Gene Kelly) empfahl. Ida Lupino war eine zweifache Pionierin, denn Regisseurinnen gab es Ende der vierziger Jahre in Hollywood so gut wie nicht. Nicht von ungefähr entstanden ihre ersten Regiearbeiten als unabhängige Produktionen. In sie investierte sie die gleiche Entschlossenheit, die ihre besten Rollen bei Raoul Walsh auszeichnet. Diese Regisseurin, meist auch Ko-Autorin und -Produzentin, war kein Zimperlieschen: Genrestücke wie Hard, Fast and Beautiful (1951) oder The Hitch-Hiker (1953) waren so rau und temporeich wie jene, in denen sie einige Jahre zuvor bei Warner aufgetreten war. Als Nicholas Ray während der Dreharbeiten zu On Dangerous Ground (1952) krank wurde, sprang sie kurzerhand ein. Der feministische Furor ihres Melos The Bigamist (1953) sollte im restaurativen Fünfziger-Jahre-Kino relativ folgenlos bleiben. Danach wandte sie sich dem Fernsehen zu und spielte furchtlose Frauen bei Don Siegel, Robert
Aldrich und später Sam Peckinpah. Hard, Fast and Beautiful: kein schlechtes Motto für die zwei Karrieren der Ida Lupino.
Der unabhängige Säulenheilige: John Cassavetes
Wie Orson Welles verstand er sich auf die doppelte Buchführung und nutzte die lukrativen Rollenangebote der Studios, um seine eigenen Projekte zu finanzieren. Um so eine Figur entsteht rasch ein Kult als frustriertes Genie, als Märtyrer seiner eigenen künstlerischen Bestimmung. Aber hat John Cassavetes in Filmen wie Edge of the City (1957), The Killers (1964), The Dirty Dozen (1967) oder Rosemary’s Baby (1968) und Paul Mazurskys Version von Tempest (1982) wirklich nur seine Haut zu Markte getragen? Zeigt er dort nicht schon die neurotische Verve, die auch seine Regiearbeiten prägt? Mit Shadows (1959) wurde er zur Vorhut des US-Independent-Kinos. In Husbands (1970) formierte er seine eigene stock company, zu der Seymour Cassel, Peter Falk, Ben Gazzara und natürlich seine Ehefrau, die große Gena Rowlands, gehören. Er wird hoch geschätzt als ein Regisseur, der Darstellertemperamenten ungekannte Freiräume zur Improvisation und Selbstfindung eröffnete. Es mutet wie Frevel an, die Frage zu stellen, ob er darüber nicht die anderen Ausdrucksmittel des Kinos vernachlässigt hat. Gleichviel, nun steht sie im Raum. Andererseits zählt Opening Night (1977) zu den wichtigsten Theaterfilmen überhaupt.
Der zärtliche Satiriker: Paul Mazursky
Das Klassenzimmer in The Blackboard Jungle (1955) muss eine gute Schule gewesen sein. Gleich vier Jungdarsteller wechselten später ins Regiefach über: Vic Morrow, Sidney Poitier, Jamie Farr und der in Brooklyn geborene Irwin Mazursky, der sich dann Paul nannte. In Next Stop, Greenwich Village (1976), einer nostalgischen Hommage an die eigenen bohèmehaften Träume und Gefühlsverwirrungen, rekonstruiert er die Probeaufnahmen für Richard Brooks’ Drama. Er war fast 40, als er mit Bob & Caroine & Ted & Alice (1969) seinen ersten Film inszenierte und damit ein Jahrzehnt älter als seine Zeitgenossen, die stracks von der Filmhochschule kommend, das New Hollywood umkrempelten. Seither hat er regelmäßig die größte Sünde des Satirikers begangen: nicht Distanz zu halten zu seinen Figuren. Er will, dass wir über sie lachen, aber vor allem will er, dass wir sie mögen. Der Kritik war er als Chronist der amerikanischen Mittelklasse immer ein wenig verdächtig, allzu komplizenhaft scheinen seine Seelenerkundungen in materiell abgesichertem Milieu. Dabei begleitet er dessen tragikomische Selbstsuche mit gleichsam renoirscher Großzügigkeit und bescherte so George Segal, Art Carney (Oscar für Harry and Tonto), Jill Clayburgh, Richard Dreyfuss und vielen anderen ihre besten Kinorollen. Obwohl er als Regisseur zuweilen enorme Erfolge feierte, musste er feststellen, dass ihn die Produzenten vor allem dann anrufen, wenn sie einen geeigneten Nebendarsteller brauchen.
Der Autarkist: Nanni Moretti
Künstlerisch und geschäftlich trägt dieser notorische Liebhaber von Sachertorten viele Hüte. Er arbeitet mit gleichem Elan als Darsteller, Regisseur, Produzent, Verleiher und Kinobesitzer. Vor allen Dingen ist Nanni Moretti jedoch ein engagierter Zeitgenosse, ein vergnügter, aber unerbittlicher Chronist der italienischen Zeitgeschichte und Politik. Sein Blick auf das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft, zu den gesellschaftlichen Problemen und Tendenzen ist so ironisch wie hellsichtig. Er kokettiert nicht nur mit dem autobiografischen Gehalt seiner Filme, sondern lässt das Publikum tatsächlich teilhaben an seinen intellektuellen Suchbewegungen. In der Tradition der commedia all’italiana schlägt der Komiker böse Widerhaken ins Fleisch bürgerlicher Selbstzufriedenheit. Als Schauspieler steht er mit Fleisch und Blut für seine Überzeugungen ein: nicht nur in seinen Regiearbeiten, auch in Filmen der Brüder Taviani (deren Einfluss auf sein Werk er gern und oft betont), bei Daniele Lucchetti und, ohne im Abspann genannt zu werden, bei Raúl Ruiz. Im Gegenzug hat er Laura Morante, Silvio Orlando und Michel Piccoli zu Glanzleistungen geführt. Er weigert sich, berechenbar zu sein. Als Darsteller wie als Regisseur bewältigt er mühelos Wechsel im Erzählton. Die vorgebliche Leichtigkeit von Caro diario (1993) und Aprile (1998) bereitete das Publikum nicht vor auf die Trauerarbeit, die er in La stanza del figlio (2001) leistet.
Der Melancholiker des Gags: Kitano Takeshi
Der Japaner ist ein mediales Amphibienfahrzeug. Das westliche Kinopublikum schätzt ihn als ernsten Autorenfilmer, in seiner Heimat hingegen ist er vor allem als Fernsehkomiker Beat Takeshi berühmt, der in seinen Shows manch rabiaten Schabernack mit ahnungslosen Kandidaten treibt; debütiert hat er auf den Jahrmärkten des Tokioter Vergnügungsviertels Asakusa. In der mimischen Reglosigkeit seiner frühen Filmfiguren sind auf den ersten Blick keine Spuren dieser Herkunft auszumachen; auch ihre Menschlichkeit erschließt sich nicht augenblicklich: Seine lakonischen Charaktere sind in dem Maße beseelt, in dem es auch die Kinofiguren von Buster Keaton oder Clint Eastwood sind. Er ist ein Filmemacher des Schwebezustands, der es nicht darauf anlegt, sein Publikum sogleich für sich zu gewinnen, zu überwältigen. Er führt es vielmehr durch lange Phasen, in denen noch nichts entschieden ist, die dafür aber Neugier und Erwartung schüren. Seine rigide kadrierten Einstellungen geraten ihm oft zu Stillleben. Die Plötzlichkeit, mit der sodann Gewalt ausbricht, ist unfassbar. Sie ist eine derart eruptive Kraft, dass man zuvor kaum merkte, wie sie bereits in seinen Figuren schlummerte. In seinen Yakuza-Filmen inszeniert er sie wie einen Gag: im Wechselspiel von Erwartung und Überraschung, und voller Faszination an Mechanik und Koordination. Die lakonischen Gewaltausbrüche seiner Helden sind eine Wette mit der eigenen Geschicklichkeit. Mit den Jahren hat sein Kino an Facetten gewonnen – leider auch an burlesken.
Die Ensemblesolistin: Agnès Jaoui
Als Autorin und Regisseurin ist sie nur im Doppelpack mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Jean-Pierre Bacri zu haben, als Darsteller hingegen gehen sie zusehends häufiger getrennter Wege. Während Bacri als vielbeschäftigter Charakterstar die Verdrossenheit zur schönen Kunst erhebt, wagt sie bei Engagements für andere Filmemacher gern Registerwechsel ins dramatische Fach. Gemeinsam hat das Gespann „Jabac“ ein eigenes Subgenre der Tragikomik entdeckt: die depressive Komödie, die espritvoll und hintergründig den Pulsschlag des Alltäglichen nimmt, um gesellschaftliche Konflikte sichtbar werden zu lassen. Ebenso wie eine andere, große Schauspielerregisseurin des französischen Gegenwartskinos, Nicole Garcia, wählt sie dafür das Terrain des choralen, des Ensemblefilms. Beide sind die legitimen Erbinnen Claude Sautets. Als Schauspielerin begnügt Jaoui sich hierbei damit, eine Stimme unter vielen zu sein, so wie in Comme une image (2004). Die Figurenzeichnung ist für sie zunächst ein Spiel mit dem Wiedererkennungswert von Konstellationen und Archetypen, die erst allmählich ein individuelles Innenleben bekommen. Es ist ihr nicht geringstes Verdienst, für die Leinwand Darstellerinnen neu oder wiederzuentdecken, darunter Anne Alvaro in Le Goût des autres (2000), Marilou Berry in Comme une image und Agathe Bonitzer in Au bout du conte (2013).
Das narzisstische Wunderkind: Xavier Dolan
Dieser Raymond Radiguet des Kinos war noch nicht einmal volljährig, als er 2009 sein Regiedebüt J’ai tué ma mère vorlegte – und es bleibt zu hoffen, dass er länger lebt als das früh vollendete Talent der französischen Literatur. Mit ausdauernder Neugierde filmt sich Xavier Dolan, wie er als sein eigener Hauptdarsteller der Kamera die Hassliebe seiner Figur zur Mutter anvertraut, voller Freude am Anblick seines Gesichts und seines Körpers. Er ist nicht schlecht beraten, dies zu tun; nicht nur, weil er tatsächlich hübsch anzusehen ist. Auf diese vergnügliche Zerfleischungsorgie lässt er rasch die verträumten Les Amours imaginaires (2010) folgen, mit denen er die Prüfung des zweiten Films glänzend besteht. Auch da macht er fast alles (Kostüme, Schnitt etc.) selbst, wechselt aber einfühlsam die Perspektiven. In dem furios die Geschlechterverhältnisse torpedierenden Liebesrausch Laurence Anyways (2012) spielt er nicht mit, sondern lässt Suzanne Clément und Melvil Poupaud wie Magneten unlösbar aufeinander bezogen sein. In Tom à la ferme (2013) hingegen darf man sich auf ein Wiedersehen freuen. Das Kino ist für den gelenkigen Narzissten aus Québec eine magische Schachtel, die er mit unbändigem stilistischem Eigensinn öffnet. Seine visuelle Phantasie ist stets sprungbereit, jede Einstellung eine maßlose Forderung nach Aufmerksamkeit. Noch immer gibt er sich als Wunderkind zu erkennen, aber nun als eines, das keine Furcht davor hat, reifer zu werden.