Die Filmfiguren Louis Feuillades erweisen sich nicht nur als bürgerliche Schreckgespenster,sondern auch als Spiegelbilder gesellschaftlicher Umwälzungen. Immer wieder nimmt etwa „Les Vampires” direkt Bezug auf den Ersten Weltkrieg – und erzählt damit auch über den Anfang vom Ende einer Ära.
In der fünften Episode von Les Vampires geschieht Schreckliches: Die feine Gesellschaft von Paris hat sich zusammengefunden, um in einem Ballsaal ein prächtiges Fest zu feiern. Die Herren aus Adel und Finanz prosten einander in ihren schwarzen Anzügen zu, die Damen tragen ihre Abendkleider zur Schau. Für Mitternacht kündigt der Gastgeber eine Überraschung an, und tatsächlich wird die geheimnisvolle Prophezeiung wahr: Pünktlich zur vollen Stunde macht sich ein seltsamer Geruch bemerkbar, ungewohnt und betörend – Giftgas strömt aus den vergitterten Ventilationsschächten. Als man die Vorhänge zur Seite zieht und die Fenster öffnen will, erweisen sich diese als Attrappen. Die Türen sind versperrt. Schon sinken die ersten Körper reglos zu Boden, während die verzweifelte Menge hilflos die Arme in die Höhe streckt, als ob von oben die Rettung nahen würde. Nach nur wenigen und doch schier endlosen Minuten ist der Kampf verloren: Quer über dem Boden verstreut, auf- und durcheinander, liegen die Körper der Toten. Da öffnen sich im Bildhintergrund die beiden riesigen Türen, werfen ein gleißendes Licht in den Saal und lassen die Silhouetten der schwarz gekleideten Vampire erkennen. Langsam durchstreifen die Gestalten den Saal wie ein Schlachtfeld und stehlen – nein, plündern – Schmuck und Wertsachen der Toten. Die modernen Vampire als Leichenfledderer.
Was Feuillade 1915 hier in L’ Évasion du mort inszeniert, muss beim Pariser Publikum im zweiten Kriegsjahr grauenvolle Bilder wachgerufen haben: Seit Jahresbeginn standen Frankreich und Deutschland im Ersten Weltkrieg, versuchten, die Stellungen des eingegrabenen Gegners aufzulösen und setzten vor allem vor Sturmangriffen das – durch internationale Verträge eigentlich geächteten – Giftgas zum ersten Mal flächendeckend ein. Im April 1915 griffen die Deutschen bei der Schlacht von Ypern in großem Ausmaß darauf zurück, die Verluste auf französischer Seite waren buchstäblich verheerend. Und auch wenn Feuillade im Laufe der weiteren Handlung die scheinbar Toten aus einer Bewusstlosigkeit wieder auferstehen lässt – die Anspielung auf den schmutzigen realen Tod nur wenige hundert Kilometer entfernt war offensichtlich. Nicht zufällig spiegeln sich die Gasmasken der Soldaten in den Kapuzen der Vampire auf der Leinwand wider. „Männliche Akteure, Soldaten, müssen nach der Dauer des Fronturlaubs eingeplant werden“, schreibt Thomas Brandlmeier, „die Handlung ist spontan improvisiert und assoziativ erträumt, auch für Gaumont ein ganz ungewöhnliches Verfahren: künstlerische Freiheit, bedingt durch Kriegszeiten.“
Dass die Episodenfilme Feuillades besonders sensibel auf die psychologischen, aber auch physischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs reagierten, lag nicht nur an ihrer raschen Produktionsweise. Feuillade betrachtete das Gespenst des Kriegs wie einen großen unsichtbaren Schatten im Hintergrund, der seine bedrohlichen Fühler auf das Leib- und Seelenheil ausstreckt. Erhob sich schon Fantômas auf den Plakaten zum Film überlebensgroß über die Dächer der Stadt, war die Terrororganisation aus Les Vampires noch stärker dazu angetan, die täglichen Schreckensmeldungen von der Front zu absorbieren. Jener Ort, an dem Griffith scheiterte, war für Feuillade Inspirationsquelle: „Griffith, der Filmer von Kämpfen alten Stils“, schreibt Paul Virilio in Krieg und Kino, „sah sich unversehens außerstande, Ereignissen gerecht zu werden, die das Resultat einer wissenschaftlich-technischen Explosion waren.“ Zum ersten Mal in der Geschichte war der Kriegsgegner unsichtbar geworden, Griffith, für den die „Realität des modernen Krieges nicht mit dem Realismus des Kinos vereinbar war, wie er ihn verstand“ (Virilio), war nicht zuletzt deshalb nach eigenen Aussagen von der Front „schwer enttäuscht“.
Ein „Realismus des Kinos“ indes kümmert Feuillade sehr wenig: Immer wieder – vor allem in Fantômas – blicken die Darsteller, allen voran René Navarre in der Titelrolle, direkt in die Kamera, wie späte Nachfahren des frühen Kinos der Attraktionen. Immer wieder verschwinden die Verbrecher in geheimen Gängen, hinter doppelten Wänden und versteckten Schlupflöchern. Und immer wieder trägt der den Sieg davon, der aus der großen Verwirrung den größten Nutzen ziehen kann: In Verdun und an der Somme ließen sich Freund und Feind schon lange nicht mehr unterscheiden. „Diese nicht mehr durch das Niemandsland getrennte Nachbarschaft war auf die Dauer recht ungemütlich“, notiert Ernst Jünger in seinen Stahlgewittern. Man fühlte deutlich, dass es auch in den eigenen Gräben nicht geheuer war.“ Was Jünger trotz aller – an anderer Stelle anzubringender – Kritik auf den Punkt bringt, ist ein Gefühl, das von der Auflösung jedweder symmetrischer Ordnung bestimmt ist. Es ist ein Kommen und Gehen, ein Wachen und Ablösen, eine Angst, dass hinter jeder Biegung die Gefahr lauern kann und der Feind unsichtbar bleibt. Einmal werfen die Vampire einen Stein auf das Fensterglas ihres Opfers, und als sich dieses neugierig über das Fensterbrett beugt, steckt sein Hals schon in einer Schlinge und wird grausam zu Boden gezogen. In der siebten Episode von Les Vampires schießen die Verbrecher gar selbst mit einer Kanone aus einem Fenster.
Doch bei Feuillade geht es auch verstärkt um die Bedrohung von Identität und um deren Auflösung: Ständig verweisen Notiz- und Adressbücher sowie Visitenkarten auf ihre jeweiligen Besitzer – und sind dann doch bloß falsche Imitate (gleich in der ersten Episode von Fantômas übergibt der Superverbrecher seinem Opfer eine weiße Karte, auf der langsam sein Name durchzuschimmern beginnt), wird die Unterscheidbarkeit der einzelnen Protagonisten zunehmend unmöglich. So wie das Individuum zu Beginn des Jahrhunderts in der Masse verschwindet, löst es sich bei Feuillade in seine – auch physischen – Bestandteile auf: Immer wieder geht es um einzelne Körperteile, schon in der ersten Episode von Les Vampires wird der abgetrennte Kopf des Kommissars gefunden.
In einem Kapitel seines Buches Fenster zum Tod beschreibt der Filmwissenschafter Hans Schmid eine der „Sensationen“ bei Feuillade, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte: „Angesichts neuartiger Maschinengewehre wurden die farbenprächtigen Uniformen des 19. Jahrhunderts zum tödlichen Anachronismus, geschickte Tarnung war lebenswichtig geworden. Die Briten hatten sich schon nach dem Burenkrieg Khaki-Uniformen zugelegt, die Deutschen trugen statt Preußischblau nun Feldgrau. Nur die französische Führung hielt zunächst (…) an den roten Käppis und Hosen fest, entschied sich aber nach furchtbaren Massakern für horizontblaue Uniformen und beauftragte kubistische Maler mit der Ausarbeitung von Tarnkonzepten. Auch die Vampire passen sich ihrer Umgebung an, (…) verschmelzen mit dunklen Hintergründen, sind für die Ordnungsmächte kaum mehr auszumachen und werden zur allgegenwärtigen Gefahr.“
Im weiten Feld der populärkulturellen Bezüge und Abhängigkeiten, der Wirkungsgeschichte innerhalb der Künste sowie den verschiedenen Aneignungen der Figuren durch nachfolgende Strömungen: Der politisch-reale Hintergrund und das gesellschaftliche Klima Feuillades bleiben bis heute präsent. Denn was durch den Ersten Weltkrieg und den Zusammenprall jahrhundertealter Imperien gerade im Begriff war, zerstört zu werden, war auch eine bis dahin unbekannte Form der Globalisierung (auch wenn diese natürlich nicht so genannt wurde) und der Mobilität. Die oft angesprochenen Ängste des Bürgertums, die Fantômas und die Vampire freisetzten, beruhten nicht zuletzt auf einem durch den Krieg verursachten Verlust ganz bestimmter Privilegien: In wenigen Jahren bis 1913 wuchs die Weltwirtschaft schneller als jemals zuvor – und sollte in der Folge für mehrere Jahrzehnte wieder zurückgeworfen werden. „Die vibrierenden Metropolen – London, Paris, Amsterdam, Berlin – waren Monumente des Fortschritts der Menschheit“, schreibt der Historiker Niall Ferguson (Krieg der Welt, 2006), „auch wenn ihre Elendsviertel enthüllten, wie ungleich dessen Früchte verteilt wurden.“ Die Welt war zu einem Netz geworden – Schifffahrtslinien, Eisenbahnstrecken, Waren- und Kapitalströme sowie Telegrafie stellten erstmals ein flächendeckendes Verbindungssystem her, mit Metropolen wie Paris als pulsierende Motoren. Fantômas und die Vampire sind weniger Verbrecher außerhalb der Gesellschaft als mitten in ihr drin. Vielleicht als die ersten Modernisierungsverlierer.