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Dossier Viennale – Allein gegen die Mächtigen

Allein gegen die Mächtigen

| Axel Estein |

Ein Tribute der Viennale würdigt den großen philippinischen Filmemacher Lino Brocka.

Abrupt endet am Betonsockel einer Straßenlaterne auf der West Avenue in Quezon City in Metro Manila in den frühen Morgenstunden des 21. Mai 1991 ein Leben. Nach einer durchzechten Nacht verliert Lino Brockas jugendlicher Freund die Kontrolle über den Wagen. Die genaue Ursache wird nie geklärt. Noch am Unfallort erliegt Brocka seinen Kopfverletzungen. Das philippinische Kino hat seinen herausragenden Exponenten verloren. Für den jungen Regisseur Lav Diaz, immer gut für eine obskure Politspekulation, ist der Fall heute klar: „Die haben ihn gekillt. Das waren Regierungsagenten. Man wollte ihn aus dem Weg räumen.“ Fakt ist: Er war vielen äußerst unbequem, und das war und ist in einem Land mit extremer Gewaltkultur eine heikle Position.

Brocka, geboren 1939 auf dem Lande, verstand sich stets und hauptsächlich als Homo politicus. Er leitete die Bewegung Free-the-Artists und die Vereinigung Concerned Artists of the Philippines. 1986 wurde er nach dem friedlichen Sieg über den Diktator Marcos von der demokratisch gewählten Präsidentin Corazon Aquino in die verfassungsgebende Versammlung berufen, die er unter Protest schnell wieder verließ. Das neue Establishment, das stillschweigend Hintertüren für Marcos-Anhänger öffnete, um sich zu stabilisieren, besonders aber die fortgesetzten Verstöße gegen Menschenrechte und demokratische Grundsätze, waren ihm zuwider. Daher verschärfte er seine politische Agitation. Ihre radikalste filmische Form fand sie in dem bis heute auf den Philippinen nicht aufgeführten Orapronobis (1989) über die Verbrechen der gleichnamigen, fiktiven rechtsgerichteten Todesschwadronen. Seine Opposition und seine Attacken hat ihm Aquino nie verziehen. Zu seiner Beisetzung sandte selbst die Diktatorengattin Imelda Marcos eine Beileidsbekundung, von Seiten der gewählten Staatspräsidentin kam dagegen eisiges Schweigen.

Für Lav Diaz ist Brocka jedenfalls ganz klar ein Nationalheld: „Er war nicht nur ein Filmemacher, er war auch eine große politische Persönlichkeit und hat immer versucht, das System zu bekämpfen. Er war sich seiner Rolle als Unruhestifter und politischer Aktivist sehr bewusst und hat das immer in seine Filme einfließen lassen. Er benutzte das Medium, um die Menschen dazu zu bewegen, sich zu emanzipieren. Er benutzte Film als Werkzeug, um das Establishment und die Unterdrückung zu bekämpfen.“

Sozialkritik und Genrekino

Zwischen Mitte der Siebziger und den frühen Neunziger Jahren zählt Brocka zu den bekanntesten Regisseuren Asiens. Auch im Westen ist er damals ein Begriff: Insiang (1978), der Inbegriff des philippinischen Slum-Films, war der erste philippinische Film, der bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde. Mit Jaguar (1979) und Bona (1980) kehrt er dorthin zurück. Es sind Filme abnehmender Qualität. Dennoch bilden sie das Fundament seiner Bekanntheit im Westen. Damit ist er der erste philippinische Festival-Darling: Der Name zählt mehr als die Leistung. Nach Bayan ko: Kapit sa patalim (1985), den Diktator Marcos für subversiv erklären ließ, Macho Dancer (1988), der ein eigenes Subgenre begründete, und Orapronobis geriet Brocka aber, bedingt durch seine frühen Tod, im Westen in Vergessenheit und ist nur noch wenigen Spezialisten ein Begriff.

Doch zurück zu den Anfängen: Trotz seines erfolgreichen Debüts Wanted: Perfect Mother (1970) hat Brocka in der Industrie einen schweren Stand. Die etablierten Regisseure seiner Zeit sind Praktiker und Leute des Volks. Intellektuellen wie ihm misstrauen sie – wie das Publikum. Er legt sich daher eine Erfolgsstrategie zurecht und studiert die Muster Hollywoods: Gangsterfilme, Musicals, Abenteuerfilme, Melodramen. Besonders letztere scheinen ihm in Kombination mit Anklängen an den Film noir am besten geeignet, die schwierigen Verhältnisse auf den Philippinen so zu beschreiben, dass die Filme auch ihr Publikum finden. Er will die Zuschauer nicht verschrecken und verpackt seine kritischen Kommentare und aufrüttelnden Appelle so, dass auch Menschen mit sehr geringer Bildung ihn verstehen. Dennoch ist es ein ständiges Tauziehen mit den Produzenten und Geldgebern, dass Brocka so beschreibt: „To make some movies I like to make, I’d make one that would be a sure box-office success. Then the next one would be with new actors and would be more artful. I’d make one based on comics, then one on an original script. When I made five a year, four would be commercial and one that Marcos would not like, one that would enrage Imelda“ (John A. Lent, „The Asian Film Industry“, S. 168).

Dadurch erklärt sich auch, warum von den 65 Filmen, die Brocka während seiner rund 20-jährigen Regiekarriere dreht, gerade einmal ein halbes Dutzend als Klassiker bestehen. Ein Donnerschlag ist Tubog sa ginto (1971): Der blutjunge Mario O’Hara spielt hier einen schwulen Beischlaf-Erpresser, der Eddie Garcia, einen typischen stahlharten Macho, unter Druck setzt. Zur damaligen Zeit hat das in einem der katholischsten Länder der Welt eine Sprengkraft, vergleichbar einem Western, in dem John Wayne ausgiebige Sexszenen mit Dustin Hoffman hat. Umso erstaunlicher, dass der homosexuelle Brocka seine Neigungen nur noch in Ang tatay kong nanay (1978) und Macho Dancer ausführlich thematisiert. Am besten aber ist Brocka, wenn er mit dem Blick von unten beschreibt, wie das Leben im städtischen Dschungel des Molochs Manila unterhalb der niedrigsten Sprosse der sozialen Leiter ist, wenn er menschliches Strandgut zeigt, das in einem menschenunwürdigem Umfeld inmitten urbanen Horrors mit Zähnen und Klauen gegen Scheitern und Untergang kämpft.

Wohlwollend kann man ein weiteres Drittel seiner Arbeiten als bemerkenswerte bis leidlich interessante Genrefilme bezeichnen. Die wichtigeren davon sind jene mit starkem Sozial- und gesellschaftskritischem Engagement, wie  Lunes, Martes, Miyerkules, Huwebes, Biyernes, Sabado, Linggo (1976) oder Sa kabila ng lahat (1991), sowie ausgewiesene Schauspielerfilme wie Ina, kapatid, anak (1979). Darunter gruppieren sich Werke aus unterschiedlichen Genres, mit denen Brocka brisante politische Themen aufgreift, z.B. Gumapang ka sa lusak (1990). Neben Brocka-typischen Familien- und Beziehungsmelodramen meist mittlerer Qualität, mehr oder weniger von Stereotypen überfrachtet und überdreht, die immer Konflikte zwischen höheren und niedrigeren Gesellschaftsschichten thematisieren wie Cadena de amor (1971), Cain at Abel (1982), Miguelito: Batang rebelde (1985) oder Natutulog pa ang diyos (1988) finden sich jede Menge flacher Mainstream-Melo-Schmonzetten ohne Wiedererkennungswert für das Massenpublikum, gesichtsloser, eskapistischer B-Film-Allerweltunterhaltungsfirlefanz (gutaussehende Menschen in schwierigen Situationen, überwiegend im deutlich finanzstarken Executive-Umfeld angesiedelt) wie die Komödie Dalaga si misis, binata si mister (1981). Dann lieber einen billigen Gangsterfilm wie Hayop sa hayop (1978), der hauptsächlich am Fuß des mystischen Vulkans Mount Banahaw spielt und Brockas einziger Ausflug in die freie Natur ist, oder der Serialkiller-Thriller Biktima (1990). Aber auch für echte Trash- und Sexploitation-Perlen wie Kontrobersyal (1980) und White Slavery (1985) war sich Brocka nicht zu schade. Selbst diese so genannten Bomba-Filme reicherte er immer mit einem gehörigen Schuss Sozialkritik an. Es gelingt ihm, selbst das Sexfilm-Genre für sich tanzen zu lassen, indem er seine Kritik an der Gewalt gegen Frauen oder ihrer Verschleppung und Ausbeutung durch erzwungene Prostitution unter einer publikumsgefälligen Verpackung versteckt. Noch hier behält Brocka seine Integrität.

Oeuvre von unterschiedlicher Qualität

Das ist eigentlich kein Gesamtwerk für einen Regisseur von mutmaßlichem Weltrang. Über die Gründe kann man streiten; warum zum Beispiel fast alle von Brockas besten Filmen in den Siebziger Jahren, der ersten Hälfte seines Schaffens, entstanden sind, als er mit schlechteren Arbeitsbedingungen und geringeren Ressourcen und Budgets zurechtkommen musste als in der zweiten Hälfte seiner Karriere, in der er auch deutlich mehr Filme drehen konnte. Woher kommt dieses deutliche Ungleichgewicht? Lav Diaz meint: „Mir bedeutet Brocka mehr als Visionär denn als Filmästhet. Wäre er nicht so früh gestorben, hätte er gewiss zu einer ganz eigenen Ästhetik gefunden.“

Brockas Stärke liegt in seinem Wissen um der Menschen tiefste Antriebskräfte. Er ist Menschenbildner, vollzieht Schwerstarbeit am widerspenstigen Subjekt. Für fein ziselierte Bildperformance bleibt da keine Zeit. Hat er einmal das Glück, die geeigneten Schauspieler und ein anständiges Drehbuch gefunden zu haben, dazu noch einen fähigen Kameramann wie Conrado Baltazar und einen ebensolchen Cutter wie Augusto Salvador, schafft er Szenen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen. Gerne hat Brocka immer wieder mit denselben Schauspielern und Technikern gearbeitet – Teamarbeit ist seine Stärke und seine Schwäche. Durch die Vorgaben unterschiedlicher Drehbuchautoren gelangt er in ganz verschiedene Qualitätsbereiche: mit Mario O’Hara in die klassischen, mit Pete Lacaba in die politisch engagiertesten, mit Jose Y. Dalisay in die flachsten, aber publikumswirksamsten, mit Ricardo Lee erreicht er das Beste beider Welten.

Brockas wichtigste Entdeckung ist zweifellos das Multitalent O’Hara, durch dessen Mitarbeit einige seiner bedeutendsten Filme entstehen. Zu seinem festen Kreis gehörten ebenfalls die Schauspieler-Urgesteine Anita Linda und Eddie Garcia, daneben der jüngere Philip Salvador, der von Brocka entdeckte Christopher de Leon oder die von ihm aufgebauten Hilda Koronel und Bembol Roco. Das ist Brockas Material, daraus schafft er Unvergängliches: Koronels unglaubliche Augen in Insiang: mesmerisierend, kindlich, erschreckt, erschreckend, gefährlich, ätherisch, hilflos, kaum von dieser Welt, voll tragischer Faszination – die klassische unergründliche schwarz-romantische Heroine. Ein Abgrund lauert hinter jedem Augenaufschlag, verspricht das bittersüße Wissen und die Gewissheit der reinen Auslöschung, ein emotionaler Speedball, eine Lawine, in der die Welt zu Tal stürzt. Da ist sie gerade einmal 19. Das genaue Gegenteil ist Nora Aunors handfeste Gegenständlichkeit, die in Bona noch heute das Publikum zu spontanem Beifall mitreißt, wenn sie sich eines notorischen Schürzenjägers und Schwerenöters, dem sie verfallen war, mit einem Guss kochenden Wassers übers Gemächt entledigt. Aunor ist die Konzentration auf den Punkt, das Borges’sche Aleph, in dem die ganze Welt sich wiederfindet. Oder Lolita Rodriguez in Ina, kapatid, anak: Die Kamera braucht nur wenige Momente auf ihrem Gesicht zu verweilen, um die ganze Verzweiflung über ein ungelebtes Leben einzufangen, aber auch die dunkle, unbändige Kraft ihres Willens, weiterzugehen. Der junge Bembol Roco am Ende von Maynila: Sa mga kuko ng liwanag (1975), in seiner ersten Hauptrolle: schreckensstarre Augen, weiter aufgerissen als nötig, um in alle grauenvollen Tiefen der Unendlichkeit zu dringen, brennendes Leid, eisstarre Einsamkeit, tierisches Entsetzen und vernichtende Gewissheit über den Trümmern verlorener Jugend und Illusionen, eine Sensibilität, die nicht zu den Mordtaten seiner Hände passt – Brockas bester Film.

In seinen gelungeneren Filmen versteht es Brocka, solche Momente gekonnt herauszuarbeiten. Sie ketten den Zuschauer unverbrüchlich an die Protagonisten. Brockas Metier ist das Drama, die lineare Erzählung. Die Essenz des philippinischen Kinos ist noch immer narrativ. Der Ursprung hierfür liegt in der Fortdauer hispanischer epischer Traditionen im Kulturraum des philippinischen Archipels. Daher hat Brocka außer sensationellen Darstellermomenten bildästhetisch wenig zu bieten. Kamera- und Montagemöglichkeiten lässt er weitgehend ungenutzt. Viele seiner Filme bleiben daher flach und enttäuschend oder geraten zur plakativen politischen Agitation, wenn das Drehbuch nichts zu bieten hat und er keine guten Schauspieler bekommen kann. Eine bildgewaltige surreale Szene wie etwa die Drogenvision an der Uferpromenade in Ishmael Bernals Manila by Night (1980) sucht man daher bei ihm vergebens. Für so etwas war er nicht zu haben – vielleicht aber auch nicht in der Lage. Andererseits spricht genau diese Einfachheit und die Bezogenheit auf Familienstrukturen – philippinische psychologische Ursubstanz – seine Zuschauer an.

Direkte Bezüge auf Brocka oder zu seinen Werken finden sich in vielen späteren Filmen, u.a. in Lav Diaz’ Ebolusyon ng isang pamilyang pilipino (2004) in Sigfried Barros Sanchez’ Mockumentary Anak ni Brocka (2005) oder in Ato Bautistas Carnivore (2008), dessen Figur des durchgedrehten Ex-Soldaten Kapitan eine Hommage an Orapronobis ist, in dem der Anführer der Todesschwadronen ebenfalls vom großartigen Bembol Roco gespielt wird. Ein Denkmal setzt ihm Peque Gallaga mit Pinoy Blonde (2005), in dem er ganz Tarantino-like, dekonstruktivistisch-rekonstruktivistisch, von seinen beiden Protagonisten selbst noch in den unmöglichsten Situationen in allen Einzelheiten durchdiskutieren lässt, welcher der beiden Regie-Großmeister nun der bessere sei: Brocka oder seine ewige Nemesis Bernal. Natürlich bleibt die Frage bis auf weiteres ungeklärt.