Von Wittenberge nach Hannover, oder: Wie Yella über den Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart, die offenen Gesten des Kapitalismus und den heimlichen Todestraum einer jungen Frau erzählt.
Yella hat ihr altes Leben hinter sich gelassen. Das sieht man schon an der Art, wie sie durch die Straßen ihrer alten Heimatstadt Wittenberge stolziert: Schnell, zielstrebig und ohne sich umzublicken, eilt sie durch die Gassen, um auf niemanden aus ihrer Vergangenheit zu treffen. Selbst ihren Mann Ben (Hinnerk Schönemann) versucht sie zu ignorieren. Nachdem dieser die gemeinsame Firma in den Konkurs getrieben hat, will Yella nichts mehr von ihm wissen und ihr Glück selbst in die Hand nehmen. Ein neuer Job in Hannover scheint ihr die Chance zum finanziellen Aufstieg zu bieten, und weder die Liebe ihres Mannes noch die Einsamkeit ihres Vaters können sie davon abhalten, diese einmalige Gelegenheit wahrzunehmen. Ben will sie ein letztes Mal noch zum Bahnhof begleiten, und Yella willigt ein, der alten Zeiten wegen. Doch ihr Aufbruch in ein neues Leben wird zum Abschied, denn Ben steuert den Wagen statt zum Bahnhof in die Elbe. Yellas Reise scheint beendet – und geht doch gerade erst los. Denn anstatt im Sterben ihr Leben im Zeitraffer an sich vorbeiziehen zu sehen, entsteigt Yella mit nassen Kleidern wieder dem Fluss und erwischt sogar noch den Zug nach Hannover. Doch dort angekommen, beginnt sie ein Leben, das ebenso trostlos ist wie ihr bisheriges: Die Firma, in der sie arbeiten sollte, ist bankrott gegangen, ihr alter Chef ein notgeiler Schwätzer, der sich mehr für ihren Körper als für ihre beruflichen Qualifikationen interessiert. Erst als ihr der smarte Philipp (Devid Striesow), der sein Geld als Risikokapitalmanager verdient, einen Job anbietet, scheint sich ihr Traum vom kapitalistischen Glück zu verwirklichen. Doch genau in dem Augenblick, in dem sie sich am Ziel ihrer Träume wähnt, holt sie die Gegenwart auf den Boden der Tatsachen zurück.
Bonnie und Clyde beim Pokern
Yella ist bereits die dritte Zusammenarbeit von Regisseur Christian Petzold und Schauspielerin Nina Hoss, die für ihre Darstellung der Yella heuer auf der Berlinale den Silbernen Bären als Beste Darstellerin erhielt. Bereits in Toter Mann (2002) und Wolfsburg (2003) war Hoss als kühle, schöne Frau zu sehen, die auf Rache sinnt. Doch dieses Mal nicht für den Tod ihres Kindes wie in Wolfsburg oder den ihrer Schwester wie in Toter Mann, sondern für ein Leben voller finanzieller Entbehrung, das ihr die Kapitalisten aus dem Westen bereitet haben und von denen sie sich ein Stück Glück zurück holen will. Koste es, was es wolle.
Inspiriert von Harun Farockis Dokumentation Nicht ohne Risiko (2004) und dank dessen Hilfe am Drehbuch zeichnet Petzold mit Yella ein dokumentarisches Porträt dieser im kapitalistischen Sinne erfolgreichen Menschen, die Erfolg über alles – selbst über die Liebe – stellen. Eine Haltung, regiert vom Streben nach Macht, die auch im Auftreten und der Artikulation erkennbar wird. Am deutlichsten ist dies an Yella selbst zu sehen, deren Blick im Verlauf des Filmes immer unnachgiebiger und deren Haltung immer gerader und verbissener wird. Auch ihr ehemaliger Mann Ben spürt diese Veränderung. „Du hast einen Job. Einen guten, einen richtig guten. Ich kann das sehen. Daran, wie du läufst“, stellt er bei Yellas Ankunft in Wittenberge fest.
Im Gegensatz zu Ben ist Philipp ein selbstbewusster Macher, der weiß, was er will. Er ist der personifizierte Kapitalismus, dem für das Erreichen seiner Ziele jedes Mittel recht ist, selbst wenn es sich jenseits der Legalität bewegt. Er wird dabei von Petzold als smart, cool und attraktiv geschildert, als Mann, der auf Familie, Kinder und ein Haus im Grünen als Statussymbole keinen Wert legt. Beim kapitalistischen Pokern mitzubieten, das ist es, worum es Philipp geht. Wie leer diese Gesten des Kapitalismus sind, wird vor allem in einer Szene deutlich, in der er Yella bittet, ihm während des Meetings etwas zuzuflüstern, wenn er die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Was, sei völlig egal. Es sei bloß eine „Broker-Pose“, welche die Anwälte in „beschissenen Grisham-Filmen“ einnehmen würden, um ihren Gegner zu verunsichern. Yella spielt mit, der Trick funktioniert. Philipp und sie werden zu Bonnie und Clyde des Private-Equity-Geschäfts, die tun und lassen können, was sie wollen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Doch die Vergangenheit lässt Yella nicht los. Dieser Einbruch der Vergangenheit in die märchenhafte Traumwelt ist die Horrorfilm-Ebene, die Petzold in seinen Film einfließen lässt. Angelehnt an Ambrose
Bierces Kurzgeschichte Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke und den Horror-Klassiker Carnival of Souls (1962) von Herk Harvey greift Petzold den Albtraum aller Menschen auf: Schon tot zu sein, obwohl man sich noch am Leben wähnt. Diese grauenhafte Vermutung, die auch immer wieder Yella befällt, lässt Petzold vor allem über die
Tonebene einfließen: durch Wassergeräusche, welche die Gespräche übertönen, Krähenschreie, die aus dem Nichts zu kommen scheinen oder durch Beethovens Mondscheinsonate, die im Allgemeinen häufig als Symbol für den Übergang vom Leben in den Tod benutzt wird. Auch auf der Bildebene ist das Grauen zu spüren, ehemals vertraute, im Freud’schen Sinne „heimeliche“ Dinge tauchen in einem neuen
Zusammenhang auf und werden un-heimlich. Wie die Orange, die
Yellas Vater ihr am Abschiedsmorgen schält, und die auch Philipp, als sie morgens neben ihm aufwacht, ihr anbietet.
Deutschland-Trilogie
Doch Petzold ist mit Yella nicht nur ein herausragender Film über die Gesten des Kapitalismus, sondern auch eine unheimlich märchenhafte Traumgeschichte gelungen. Zugleich komplettiert er mit diesem
Todestraum das Deutschlandbild, das aus seiner Gespenster-Trilogie Die Innere Sicherheit (2001), Gespenster und Yella entsteht. Waren es in Die Innere Sicherheit die Gespenster der RAF, welche die deutsche Gegenwart immer wieder einholen und das politische Geschehen bis heute prägen, so ist es in Yella die soziale Teilung Deutschlands in Ost und West, die trotz der Wiedervereinigung noch deutlich zu spüren ist. In Gespenster ist der Bezug zu Deutschland zunächst nicht so offensichtlich: Im ersten Moment scheint der Film bloß ein Drama über eine Mutter zu sein, deren Kind in einem Berliner Supermarkt entführt wurde. Doch auf den zweiten Blick eröffnet sich, welches Deutschlandbild Petzold hier durch die Wahl Berlins als Setting zeichnet: Petzold wählt eine Stadt, die sich ständig im Umbruch befindet und aus lauter Baustellen besteht. Eine Stadt ohne Mitte, ohne konkretes Stadtbild, die als neue Hauptstadt des wiedervereinten Deutschland als Symbol für die Suche nach einer neuen Identität des Landes steht. Auch die drei Frauen in Gespenster sind auf der Suche nach ihren Wurzeln – die Mutter Françoise (Marianne Basler) sucht ihre Tochter, Nina (Julia Hummer) ihre Mutter und Toni (Sabine
Timoteo) eine beste Freundin.
Auf dieser Suche bewegen sie sich an Orten des Durchgangs: Bahnhöfe, Hotels oder Heime, die der französische Anthropologe Marc Augé einst als Nicht-Orte charakterisierte; Orte, die mono-funktional genutzt werden und denen es im Gegensatz zu traditionellen Orten an Geschichte und sozialer Bedeutung fehlt. Sinnentleerte Orte, die erst durch die Zuschreibung von Icons und Slogans mit Sinn gefüllt werden. Auch in Die Innere Sicherheit gibt es diese Nicht-Orte: das Hotel, aus dem die RAF-Familie fliehen muss, die leer stehende Villa, in die sich Jeanne (Julia Hummer) mit ihren Eltern vor der Polizei versteckt, oder das Auto, mit dem sich das ehemalige Terroristenpärchen seit Jahren von einem Versteck zum nächsten bewegt. Mehr noch: Jeannes Eltern versuchen ihr ganzes Leben zu einem Nicht-Ort ohne Vergangenheit zu machen, um ihrem alten Leben zu entkommen. Auch Yella will ihre Vergangenheit hinter sich lassen und flüchtet in die Welt der Manager, deren Leben sich nur an Nicht-Orten abspielt. In Zügen, Hotels, Konferenzräumen. „Ich liebe dich“, sagt Ben bevor er das Lenkrad herumreißt, und die beiden von der Brücke in die Elbe stürzen. Dass diese Liebe mehr wert ist als ihr Traum vom kapitalistischen Glück, erkennt Yella erst im letzten Moment.