Chloé Zhao ist der neue Star des amerikanischen Kinos. Wie niemand sonst erzählt die in China geborene Regisseurin vom Leben im Herzen der USA. Aber „Nomadland“ trifft auch auf globaler Ebene einen Nerv – ein Oscar-Favorit für unsere Zeit.
Werner Herzog hatte wie so oft die Nase vorn. Bereits 2017 ehrte er Chloé Zhao als zweite Gewinnerin überhaupt mit dem nach ihm benannten und eigens von ihm verliehenen Filmpreis. Damals hatte die chinesische Regisseurin gerade mit ihrem famosen Neo-Western The Rider auf internationalen Festivals für Furore gesorgt, und Herzog geriet sofort ins Schwärmen. Etwas ganz Besonderes sei dieser Film, begründete er die Auszeichnung und würdigte Zhao im gleichen Atemzug als einen aufregenden neuen Stern am amerikanischen Filmhimmel. Und das obwohl oder vielleicht genau weil Zhao ursprünglich aus Beijing stammt und auf den ersten Blick mehr als eine ganze Welt zwischen ihrer Heimat und dem Teil des Mittleren Westens der USA zu liegen schien, den sie in The Rider mit viel Augenmaß und Feingefühl beschreibt. Die allgemeine Begeisterung für den Film machte schließlich auch Frances McDormand auf die junge Regisseurin aufmerksam, die sich in Toronto spontan in eine Vorstellung schlich, während sie eigentlich Presseinterviews für Three Billboards Outside Ebbing, Missouri geben sollte. Und weil die große Schauspielerin selbst keinen Preis zu vergeben hatte, sondern kurz davor stand, ihren zweiten Oscar entgegenzunehmen, schlug sie Zhao stattdessen ein Projekt vor, das sich langfristig für beide und das Kino insgesamt als großer Glücksfall erweisen sollte.
Drei Jahre, zwei Golden Globes und einen Goldenen Löwen später ist Nomadland der große Gewinnerfilm dieser von der Pandemie geschüttelten Awards-Saison. Und nicht nur das: Es ist ein Roadmovie der etwas anderen Art, ein Film, der von der Freiheit der Straße erzählt, in einer Zeit, in der unser aller Bewegungsradius extrem eingeschränkt ist, und dessen Geschichte allein deshalb nicht nur tief berührt, sondern insgeheim auch eine leise Sehnsucht und Hoffnung schürt. Basierend auf dem Buch „Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century“ von Jessica Bruder, zeigt Zhao in eindrucksvollen, poetischen Bildern das Porträt einer wachsenden Gruppe älterer, verarmter Menschen in den USA, die sich heute an ihre Wohnwagen klammern wie an das letzte Vermächtnis des großen amerikanischen Traums, weil ihnen die Wirtschaftskrise alles andere genommen hat. Auch Fern, gespielt von McDormand mit Überzeugung, Zurückhaltung und Intensität, ist eine von ihnen; eine Frau, die ihren Alltag stets einfach und aufrichtig gelebt hat und sich mit Anfang sechzig plötzlich trotzdem vor dem Nichts sieht: Der Mann gestorben, der Job gekündigt und selbst die Stadt Empire in Nevada, die sie bisher ihr Zuhause nannte, wurde vor kurzem samt Postleitzahl einfach von der Landkarte gestrichen, nachdem der einzige Arbeitgeber in der Region Pleite gemacht hat. Allein ihre Haltung hat sie sich bewahrt, gepaart mit einem ausgeprägten Überlebenssinn, sodass sie sich kurzum auch in ihrem alten Transporter auf den Weg macht in eine ungewisse Zukunft, von einem Ort und einem Mini-Job zum nächsten – hauslos zwar, aber gewiss nicht heimatlos, wie sie einmal ausdrücklich betont. Der Unterschied, das merkt man schnell, könnte für die unfreiwillige Einsiedlerin in ihrer ganzen Gebrochenheit größer kaum sein.
Auch Zhao weiß diese Unterscheidung zu respektieren und versteht es, sich den Menschen, denen sie in Nomadland begegnet, auf behutsame, ehrliche und unerschrockene Weise zu nähern. Dazu zählen wie in The Rider immer auch echte Charaktere, diesmal etwa Linda May und Charlene Swankie, die zu den eingefleischten Nomadinnen im US-Hinterland gehören. Und auch sie kommen im Film nicht nur vor, sondern tragen wesentlich zum Erfolg von Zhaos außergewöhnlicher Herangehensweise bei, die einerseits auf einem gegenseitigen Einverständnis vor und hinter der Kamera beruht, wie in diesem Fall insbesondere auf der bemerkenswerten Fähigkeit von McDormand, sich so überzeugend und undurchdringlich mit ihrer Figur zu verbünden, dass am Ende eine neue Identität, ja ein ganz neuer Mensch entsteht. Halb Fern, halb „Fran“, McDormand spielt nicht nur, sie ist die Person, der sie in Nomadland ihre ganze ungeschminkte Präsenz verleiht. Rohheit und Schönheit, Weiblichkeit und Männlichkeit. Verlust und Stolz. Das alles hat sie in ihrem Gesicht, in einem Blick, der ihren Weggefährten und den Zuschauern unmittelbar zu verstehen gibt, dass diese Frau, um die es hier geht, längst keinem mehr etwas beweisen muss, am wenigsten sich selbst.
Zhaos Trick, und ihre große Kunst, liegt zudem darin, ihre Charaktere immer als Teil eines natürlichen Zyklus zu begreifen, sie im Leben und in der Landschaft zu sehen, in der sie sich bewegen, vielmehr als lediglich vor einem Panorama, das sich in seiner ganzen Pracht im Angesicht der Kamera ausbreitet. So war bereits in The Rider der Mittlere Westen für die junge Regisseurin mehr als nur Hintergrund, Projektionsfläche oder pures Klischee. Es war ein realer Raum für echte Cowboys und Indianer, die irgendwo zwischen Nostalgie und Wahrheit ihren Platz zu suchen schienen, mit allen Altlasten, allen Schicksalsschlägen, festgewachsen in einer Umgebung, die keine Gnade kennt und keine Scheu. Nomadland greift diese Sichtweise nicht nur auf, sondern perfektioniert sie in einem Maße, das seinesgleichen sucht. Vermittelt wird hier wie dort nicht weniger als das, was menschliche Gemeinschaften im Idealfall zusammenhält: Gefühle wie Sympathie, Vertrauen, Mitgefühl, Angst und Frust, Unsicherheit und Verständnis. Wir sehen, wie die Menschen auf der Leinwand sie einander entgegenbringen. Und wir bringen sie den Menschen auf der Leinwand entgegen, ganz gleich, ob es sich um abgesattelte Rodeo-Reiter in Süd-Dakota handelt oder um die Vergessenen und Ausgestoßenen der Baby-Boomer-Generation in den Weiten des „American Heartland“. Es ist ein ständiges Geben und Nehmen, aus dem Zhao mit der Ehrfurcht einer eingeweihten Fremden ihr Gesellschaftsbild formt und dabei einen Blick freigibt, der von außen dokumentarisch anmutet, aber immer wieder mitten ins Herz trifft.
Seit ihrem Regiedebüt Songs My Brother Taught Me (2015) ist Zhao, die über einen Internatsaufenthalt in London als Teenager in die Vereinigten Staaten kam und heute in den Bergen außerhalb von Los Angeles lebt, mit dieser ungewöhnlichen Perspektive auf ihre Wahlheimat ziemlich gut gefahren. Die Preise, die Anerkennung, die allgemeine Begeisterung für Nomadland sprechen für sich. Dabei hatte die mittlerweile längst auch in Hollywood gefragte Regisseurin den Film sogar zeitweilig auf Eis legen müssen, um für Marvel The Eternals zu drehen, mit Top-Besetzung (darunter Angelina Jolie, Kit Harington und Salma Hayek) versteht sich, aber auch mit mehr Freiheiten, um ihren eigenwilligen Stil auch im Blockbuster-Comic-Format zu gewährleisten. Wäre im vergangenen Jahr alles so gekommen wie geplant, dann hätte Zhao beide Produktionen im gleichen Atemzug fertiggestellt. Doch dann kam die Pandemie und mit ihr die Chance, zumindest ihr Roadmovie zu Hause am eigenen Laptop fertig zu schneiden, während der Filmstart von The Eternals vorerst auf November 2021 verschoben wurde, natürlich ohne jede Garantie. Ob Nomadland in der Zwischenzeit auch bei den Oscars abräumen kann, wird sich zeigen. Fest steht jedenfalls, dass der Film in der aktuellen Lage einen speziellen Nerv trifft und mehr ist als ein aufmerksamer Kommentar zur wirtschaftlichen Entwicklung in den USA nach der Großen Rezession. Fern geht ihren Weg und wir mit ihr. Die unermüdliche Beharrlichkeit, mit der sie sich durch ihr neues Leben kämpft, entspricht Zhaos Kraft und Ausdauer, den Film auch unter mühsamen und undankbarsten Umständen fertig zu stellen. Werner Herzog an ihrer Stelle hätte ganz sicher das Gleiche getan.