Dunkirk

| Andreas Ungerböck |

Das Warten auf den Messias hat sich großteils gelohnt: Christopher Nolans mit Spannung erwartetes Weltkriegsdrama startet endlich im Kino.

Nach all der Geheimniskrämerei, den Vorschusslorbeeren, Gerüchten und Prognosen, die Christopher Nolans Projekt über die Evakuierung eingekesselter britischer und französischer Soldaten aus der Stadt Dunkerque im Sommer 1940 umgaben, kann nun überprüft werden, ob der 47-jährige Brite tatsächlich jenes Genie und der Retter des Kinos ist, als der ihn vor allem angelsächsische Medien in den letzten Wochen stilisiert haben. Und jetzt, wo der Film zu sehen ist, ist die allgemeine Begeisterung noch einmal gewachsen. Schon werden Oscar-Chancen und die Zahl der abzuholenden Statuen ventiliert, obwohl die Konkurrenz noch nicht bekannt ist und man doch weiß, dass Filme, deren Start so lange zurückliegt, im Februar üblicherweise (zu) wenig Berücksichtigung finden.

Eines kann man prognostizieren: Einen Oscar für den besten Hauptdarsteller wird es nicht geben – denn es gibt keinen Hauptdarsteller. Und damit sind wir schon bei einer der großen Stärken von Dunkirk: Die Überlegung, in einem Film, der die Rettung von mehr als 400.000 Menschen beschreibt, keinen expliziten Helden und keine heroischen Buddies zu haben, ist ebenso kühn wie richtig. Es gibt aber mehrere stille Helden, etwa Mr. Dawson (Mark Rylance), einen von vielen Britinnen und Briten, die sich mit ihren kleinen Booten aufmachten, um bei der Evakuierung mitzuhelfen. Heldinnen und Helden sind auch all jene, die auf den Rettungsbooten, unter ständiger Bedrohung durch deutsche Bomber, arbeiteten, um die Soldaten heimzuholen, es gibt die mit Helm und Fliegermaske nahezu anonymen Piloten der Royal Air Force, die versuchen, die Schiffe zu sichern – einer davon wird sich spät im Film als von Tom Hardy gespielt herausstellen. Hardy ist einer der vier Stars des Films (neben Rylance, Cillian Murphy und Kenneth Branagh), aber sie werden nicht herausgestellt, sie fügen sich nahtlos in ein großes Ensemble ein – das ist die zweite gelungene Entscheidung Nolans. Kein Heldenkino also für eine Situation, an der auch gar nichts heldenhaft war. Tatsächlich gehört es bis heute zu den großen militärhistorischen Rätseln, warum Hitler und seine Generäle die nahezu schutzlos am Strand von Dunkerque auf Rettung wartenden Franzosen und Briten vergleichsweise unbeschadet abziehen ließen. Es war wohl taktisches Kalkül, das mithelfen sollte, Großbritannien aus dem Krieg „herauszuisolieren“ – die Geschichte, wie wir wissen, verlief anders.

Dass Christopher Nolan keinen Kriegsfilm von der Stange abliefern würde, war klar, aber die Virtuosität seiner dreigeteilten Erzählung (Wasser, Land, Luft), die anfangs sogar per Insert erklärt wird, mit zeitlichen Überlappungen, Vor- und Zurückspringen verblüfft dennoch. Dass die Bilder des Films (die Kamera führte, wie schon bei Interstellar, der niederländisch-schwedische DoP Hoyte van Hoytema) brillant sein würden, war auch klar, aber die Art und Weise, wie Nolan zwischen extremer, kaum zu ertragender Nähe zum Geschehen und fast schon surreal distanzierten „Überblicksbildern“ aus großer Höhe wechselt, ist schlicht atemberaubend. Auch dass es so gut wie kein Blut zu sehen gibt, keine Kriegsfilm-standardisierten zerfetzten Gliedmaßen und hervorquellenden Gedärme, ist einzigartig und hebt Dunkirk fast in ein neues, eigenes Genre, das man als „Angstfilm“ bezeichnen könnte: Die nackte Angst ums Überleben ist das bestimmende Motiv des Film, signifikant dargestellt in einer längeren Sequenz, in der mehrere Soldaten glauben, mit einem am Strand liegenden alten Boot fliehen zu können – nur um wenig später unter schweren Beschuss und durch das eindringende Wasser in höchste Gefahr zu geraten.

Auch die grausame Absurdität des Krieges hat man selten so drastisch vor Augen geführt bekommen: Wenn Soldaten sich tagelang angestellt haben, um einen Platz auf einem der spärlichen Boote zu ergattern und dann – nach einem deutschen Bombentreffer – gleich wieder ins Wasser und, im besten Fall, zurück an Land müssen, dann hat das etwas besonders Perfides. Und, bemerkenswert, die Schiffe sinken verdammt schnell bei Nolan: Binnen weniger Minuten sind sie untergegangen, da heißt es, rasch zu handeln und sich zu retten – es ist kein elegisch-wehmütiges Vor-sich-hin-Sinken, wie man es aus vielen Kinofilmen kennt.

So weit, so sehr gut. Ist Christopher Nolan also der Messias, der gekommen ist, um das Weltkino zu retten? Ja und nein. Wenn man Nolans Karriere über die Jahre verfolgt hat, dann kennt man das Problem, das sich bei der endgültigen Bewertung seiner Arbeiten ergibt: Man sieht mit freiem Auge den großen Entwurf und die Genialität seiner Ideen, man anerkennt sein erzählerisches Talent und seine Gabe, in unglaublichen Bildern zu denken – und doch bleibt des öfteren, so auch hier, ein kleiner Stachel des Missvergnügens: Dass Nolan gegen das (hier nicht gespoilerte) Ende hin dann doch in den Niederungen des fast schon Banalen landet, ist ebenso erstaunlich wie befremdlich: Ist es den Konventionen Hollywoods geschuldet? Seinen eigenen Vorstellungen davon, wie ein Kriegsfilm zu enden hat? Man weiß es nicht, und man wird es auch nicht erfahren: Den Messias fragt man so etwas nicht. Genauso wenig, wie es irgendjemand wagen würde, ihm einmal einen anderen Komponisten als Hans Zimmer vorzuschlagen. Jammern auf hohem Niveau, gewiss, aber der enervierende Soundtrack des Spezialisten für eh alles drückt leider auf das Gemüt.

 

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