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70 Jahre Cinerama

Ein besonderes Wiedersehen

| Leo Moser |
Das Wiener Gartenbaukino begeht 70 Jahre „Cinerama“. Ein Rückblick auf eine Technik, die alles verändern sollte.

Am 30. September 2022 jährt sich die amerikanische Premiere des Großformat-Films This Is Cinerama, der eine neue, bis dahin noch nie gesehene und gehörte Bild- und Tontechnik vorstellte, die die Filmpräsentation für immer veränderte, zum 70. Mal. Im Schatten der aufstrebenden Fernsehunterhaltung, die Millionen von Zuschauern in ihre Wohnzimmer lockte, schickte sich Hollywood an, neue, technisch aufwändige Wege zu beschreiten, um das Publikum wieder in den „Palast der Träume“ zurückzubringen. Anlässlich der kleinen, feinen Retrospektive „Cinerama & The Bigger Picture“ von 9. bis 11. Oktober im Wiener Gartenbaukino, die neben Cinerama-Filmen auch 70mm-Vorführungen zeigt, im Folgenden ein nostalgischer Rückblick auf eines der imposantesten analogen Filmsysteme aller Zeiten.

EVOLUTION EINES FASZINOSUMS
Über ein Jahrhundert vor „Cinerama“, im Jahr 1781, präsentierte der Franzose Philippe-Jacques de Loutherbourg erstmals seine Erfindung „Eidophusikon“ („Wolkentheater“), eine Serie von gemalten Landschaften, die auf einer Bühne mittels Bild, Licht und Ton das Publikum in ihren Bann zogen. Etwa eine Dekade nach ihm hatte der schottische Porträtmaler Robert Barker die Idee, seine Bilder in 360-Grad-Ansichten zu malen und bot diese unter dem Titel „Panorama“ Galerien und Museen an. Mit Erfolg: Die Beliebtheit der „Panoramen“ zog zahlreiche Nachahmer in Paris, Berlin, Moskau und Amerika nach sich. Ernsthafte Konkurrenz bedeutete der Franzose Louis Jacques Mandé Daguerre, der 1822 in Paris sein innovatives „Diorama“ vorstellte. Dabei handelte es sich um riesige, auf durchsichtigem Material gemalte Bilder, die zusammen mit mechanischen Tricks und entsprechender Beleuchtung (Kunst- und Tageslicht) auf der Vorder- und Rückseite verschiedene Illusionen erzeugten. Wie schon Barker war Daguerre bestrebt, das Publikum in einen magischen Bildertrip zu entführen, unterstützt noch dadurch, dass sich die Bühne langsam um die Bilder bewegte. Daguerres Diorama, das bereits spätere Vergnügungspark-Attraktionen vorwegnahm, überlebte bis zum Tod seines Erfinders 1851, Dioramen in vereinfachter Form gibt es bis heute.

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Inspiriert vom Diorama entwickelte man, indem man mittels Projektor ebenfalls gemalte Bilder auf 360-Grad-Leinwände projizierte, neue Präsentationsmöglichkeiten der berühmten „Laterna Magica“. Es war wiederum die Erfindung eines Franzosen, die dieses System ablösen sollte: Raoul Grimoin-Sanson, der bereits 1895 mit Filmkameras und Projektoren experimentierte, präsentierte bei der Weltausstellung in Paris 1900 sein sensationelles „Cinéorama“-System, welches Luftaufnahmen von Paris zeigte, die aus einem Ballon mit zehn parallel geschalteten 35mm-Kameras gefilmt und dann mittels ebenfalls zehn parallel geschalteten Filmprojektoren auf eine 360-Grad-Leinwand projiziert wurden, die rund um eine Plattform in Form eines Ballonkorbes angebracht war. Spektakuläre Vorstellungen, die jedoch nach drei Tagen wegen feuerpolizeilicher Anordnungen wieder eingestellt werden mussten, da man befürchtete, dass es durch die Hitze der Projektoren zu Bränden kommen könnte. Die Vorführungen von gewissen Brüdern mit dem Namen Lumière, die einen speziellen 75mm-Film auf einer überdimensionalen Leinwand präsentierten, waren da brandschutztechnisch weitaus ungefährlicher.

DER WEG ZUR CINERAMA CORPORATION
Es sollte bis 1925 dauern, ehe sich mit Abel Gance der nächste Pionier dazu entschloss, mit mehreren Kameras gleichzeitig zu drehen. Zwar blieb es im Falle seines als Beginn eines sechsteiligen Epos geplanten, mit Innovationen gespickten Napoléon (1925–1927) schließlich wegen finanzieller Schwierigkeiten und dem Aufkommen des Tonfilms nur bei einem einzigen Film. Jedoch konnte dieser unter anderem mit der Attraktion von zwei längeren, mit drei 35mm-Kameras gleichzeitig gedrehten Szenen als Triptychon und einem Soundtrack des Komponisten Arthur Honegger aufwarten. Gerade die zwei Sequenzen in „Polyvision“, wie Gance seine Technik, die er gemeinsam mit André Debrie entwickelte, nannte, und deren Projektion mit drei Projektoren auf eine spezielle Leinwand, nahm Fred Waller, der Leiter der Special-Effects-Abteilung bei Paramount, zum Anlass, für die Weltausstellung 1939 in New York ein neues Filmprojektions-System zu entwickeln, das mit elf (!) 16mm-Kameras und ebenso vielen Projektoren arbeitete. So kamen verschiedene Dokumentarfilme zur Aufführung, unter wiederum einem erneuerten Namen: „Vitarama“. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelte Waller für die US Army den „Waller Flexible Gunnery Trainer“, einen Flugsimulator, der sich das Vitarama-System in reduzierter Form – fünf 35mm-Kameras und fünf 35mm-Projektoren, von denen wiederum zwei an die Decke und die anderen drei nach vorne projizierten – zunutze machte. So sollte es angehenden Piloten ermöglicht werden, mittels Spielzeug-Kanonen Treffer auf Flugzeuge zu simulieren, ähnlich dem, was später Videospiele heißen sollte. Und nach Kriegsende gründete Waller schließlich die „Cinerama Corporation“, um seine Technik – mit „nur“ noch drei Kameras und Projektoren – zu perfektionieren.

Kurioserweise kam ihm der Beginn des Fernsehzeitalters mehr als recht. Während in den USA bis 1945 erst etwa 4.500 Geräte im Umlauf gewesen waren – die meisten davon in Bars –, erklomm der Verkauf bereits 1950 die 11-Millionen-Marke. Als Konsequenz blieben potenzielle Kinogeher im großen Stil zu Hause: Von den 80 Millionen Amerikanern, die 1946 noch wöchentlich ins Kino gingen, waren 1950 nur mehr 60 Millionen übrig. Um das Publikum zurückzugewinnen, setzte man bekanntermaßen vor allem auf Bibelfilme, historische Themen und Musicals, aber eben auch auf neue Techniken. Tatsächlich geriet so Fred Wallers mittlerweile ausgereiftes „Cinerama“-System zur ersten derartigen, die für Furore und volle Kassen sorgte. Mit This Is Cinerama (1952) entstand ein knapp zweistündiger Reisefilm, der die Zuschauer in atemberaubenden Bildern hautnah an die schönsten Plätze der Welt brachte: in Amerika, außerdem nach Venedig, Mailand, Schottland, Spanien und auch nach Wien – inklusive zwanzig Wiener Sängerknaben in Lederhosen in der Blumenpracht des Volksgartens! Obwohl der Film vorerst nur in New York gezeigt wurde, machte die „dreifache“ Projektion auf eine riesige, gekrümmte Leinwand, untermalt von bombastischem Sound in 7-Kanal-Magnetton (erstmals zu hören seit Disneys Fantasia, 1940) ihn in kürzester Zeit zum Film des Jahres in den USA. Der unermüdliche Experimentator Fred Waller und sein Produzent Merian C. Cooper (u. a. Regisseur und Produzent von King Kong, 1933) wurden für ihr Verdienst zudem mit Ehren-Oscars für Innovation und Technik geehrt. In Europa hingegen wurde der Film relativ spät gezeigt, mussten doch dafür erst Kinosäle technisch adaptiert werden. 1954 folgte die Präsentation in London, 1955 in Paris, 1959 in Deutschland. Die längst fällige Erstaufführung in Österreich feiert er erst jetzt, am 9. Oktober im Gartenbaukino.

ERFOLG, ABSTIEG UND WIEDERENTDECKUNG
In froher Hoffnung, dass vielleicht sogar ein paar der Sängerknaben von damals dieses Rendezvous mit einem Stück Kinogeschichte, dessen Teil sie sind, wahrnehmen werden, bringt das Restauratoren-Duo Randy Gitsch und David Strohmeier Cinerama im Zuge einer Europa-Tour nach Wien. In das erste Kino in Österreich, das von 1961 bis 1963 technisch in der Lage war, dieses einzigartige Filmsystem wiederzugeben. Neben dem Film, mit dem alles begann und The Wonderful World of the Brothers Grimm (1962, R: Henry Levin & George Pal) – das erste von zwei Ergebnissen einer Art Zweckgemeinschaft mit dem Hollywood-Studio MGM –, wird Windjammer: The Voyage of the Christian Radich (1958, R: Louis De Rochemont III & Bill Colleran) gezeigt, allesamt von Gitsch und Strohmeier und deren Team in 4K restauriert. Windjammer steht mit dem Gartenbaukino in besonderer Beziehung: Mit 37 Wochen Laufzeit lief die filmische Schiffsreise auf der Kolumbus-Route bei seiner Erstveröffentlichung länger als in jedem anderen Kino.

Für das neugeschaffene System „Cinemiracle“ stehend, war Windjammer ursprünglich die einzige amerikanische Antwort auf Cinerama und lief bereits als erster Drei-Streifen-Film noch Jahre vor This Is Cinerama in den deutschen Kinos. Unerwartete Konkurrenz hatte Cinerama aus der Sowjetunion bekommen, dem Lieblingsfeind der Amerikaner während der Kalten Kriegs-Jahre: 1958 drängte man mit der Kinotechnik „Kinopanorama“ auf den Markt. Zusätzlich ausgestattet mit 9-Kanal-Magnetton produzierte man bis Mitte der sechziger Jahre zahlreiche Dokumentarfilme ganz im Stil von Cinerama. Ein Zusammenschnitt aus den Filmen Great is my Country (1958, R: Roman Karmen) und The Enchanted Mirror (1958, R: Leonid Kristi & Victor Komissarievsky) kam 1961 unter dem Titel Zwischen Nordpol und Krim auch in einige wenige deutsche Kinos. In den USA ließ die Reaktion der mächtigen Industry, irritiert vom anfänglichen Erfolg von Cinerama, natürlich auch nicht lange auf sich warten, doch hier erarbeitete man eigene Großformate: Das renommierte Studio 20th Century Fox entschloss sich, die vom Franzosen Henri Chrétien bereits in den zwanziger Jahren entwickelte „CinemaScope“-Optik zu übernehmen, um Filmbilder in einem Format von 2.55:1 inklusive 4-Kanal-Magnetton im Gegensatz zu den Standard-Formaten 1.33:1 beziehungsweise 1.66:1 Mono-Ton auf großen Leinwänden zeigen zu können. Mit dem ersten in dieser Technik gedrehten Film The Robe (1953, R: Henry Koster) mit Richard Burton offerierte man nicht nur einen der beliebten Bibel-Filme sondern auch gleich eine neue Filmtechnik, die in mehr Kinos präsentiert werden konnte als Cinerama. Ein Jahr später legte das Hollywoodstudio Paramount mit dem Musical White Christmas (R: Michael Curtiz) mit Bing Crosby nach, gedreht im eigens entwickelten System „Vista-Vision“, mit dem Filme sowohl im Format 1.66:1 als auch 1.85:1 gezeigt werden konnten.

Unbeeindruckt durch die Bestrebungen der anderen Studios, mit eigenen großformatigen Filmen zu punkten, produzierte Cinerama mit Cinerama Holiday (1955, R: Robert L. Bendick & Philippe De Lacy) den nächsten Reisefilm, der zwei junge Paare auf ihren Reisen durch Europa und Amerika begleitete. Obwohl der Film neben Disneys erstem CinemaScope-Trickfilm Lady and the Tramp (R: Clyde Geronimi, Wilfred Jackson & Hamilton Luske) erfolgreich in den Kinos lief, waren die Kritiker mit der Technik von Cinerama nicht mehr gänzlich zufrieden. Als störend empfanden sie nunmehr, verwöhnt durch CinemaScope, VistaVision und dem mit Fred Zinnemanns Musical Oklahoma (1955) vorgestellten 70mm-Format Todd-AO, die drei nicht immer perfekt projizierten Filmteile. Nach dem erfolgreichen Reisefilm Seven Wonders of the World (1956, R: Tay Garnett, Paul Mantz, Andrew Marton u. a.) konnten weitere Reisefilme, obwohl noch immer mit mehr als beeindruckenden Bildern ausgestattet, nicht mehr an die Erfolge der Anfangsjahre anschließen. Darüber hinaus platzte die etwas andere Cinerama-Produktion The Eighth Day (1956) über das Atomzeitalter.

Um dem nachlassenden Interesse an Cinerama-Filmen zu begegnen, kam es schließlich zur erwähnten Zusammenarbeit mit MGM, der zwei Spielfilme entsprangen. Während die Märchenwelt der Wonderful World of the Brothers Grimm eher mittelmäßig aufgenommen wurde, entstand mit How the West Was Won (1962) einer der größten und bekanntesten Western Hollywoods, für den man alles aufbot, was Rang und Namen hatte: Top-Regisseure wie John Ford, George Marshall und Henry Hathaway sowie Hollywoodstars wie James Stewart, Gregory Peck, John Wayne und Henry Fonda. Der Kassenschlager war zwar weit entfernt von den früheren Dokumentarfilmen, trotzdem verwendete man Szenen aus This Is Cinerama ebenso wie Second-Unit-Material aus einstreifigen Filmen wie Raintree Country (1957, R: Edward Dmytryk) und The Alamo (1960, R: John Wayne). Noch kurz vor dem Ende des für Kinobesitzer zu aufwändigen Systems, für das man zahlreiche Vorführer und Tontechniker benötigte, kamen ein Zusammenschnitt der besten Cinerama-Filme unter dem Titel The Best of Cinerama (1962) und 1966 ein Kompilationsfilm mit russischem Kinopanorama-Material unter dem Titel Cinerama’s Russian Adventure in die Kinos.

Das unter Filmfans nie vergessene Filmsystem erfreut sich seit einigen Jahren wieder größerer Beliebtheit. Nur drei Kinos, in Seattle, Los Angeles – coronabedingt mittlerweile geschlossen – und Bradford (England), sind weltweit technisch in der Lage, die alten Filme adäquat analog wiederzugeben. Der Initiative von Gitsch/Strohmaier, die nicht nur eine Dokumentation zur Geschichte von Cinerama realisiert, sondern Initiativen gesetzt haben, alle Filme zu restaurieren, ist es zu verdanken, dass das Cinerama-Erlebnis 70 Jahre nach seinem Ursprung in brillanter Bild- und Tontechnik im eigens entwickelten digitalen „Smilebox“-Format einer neuen Generation zugänglich gemacht werden kann. Welcome back, Cinerama!

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