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EIN FESTTAG / MOTHERING SUNDAY

Filmstart

Ein Festtag

| Pamela Jahn |
Die französische Regisseurin Eva Husson beweist in ihrem dritten Spielfilm großes Gespür für die subtile Erzählkunst britischer Literatur.

Es ist ein Blick so gedankenverloren, eindringlich und sanft zugleich, dass er bereits in dieser ersten Einstellung vieles, vielleicht insgeheim alles über den Film verrät, der folgt. Es sind die Augen des Hausmädchens Jane Fairchild (Odessa Young), die hier einen Moment zu lange ins Leere starren, verträumt aus dem Fenster in den Garten schauend. Dann besinnt sie sich plötzlich, putzt weiter an der Scheibe, während auf der Tonspur das Geräusch eines Stifts auf Papier zu hören ist. Denn Jane ist nicht nur die Hauptfigur der Geschichte, sondern zugleich deren Erzählerin, eine Art Alter Ego des Schriftstellers Graham Swift auf dessen gleichnamigem, 2016 erschienenen Roman Mothering Sunday beruht.

Ein Festtag soll es sein, jener erste warme Sonntag im März 1924. Die Sonne strahlt, erfüllt noch die dunkelsten der herrschaftlichen Villen in der englischen Provinz mit ihrem gleißenden Licht. Doch es gibt wenig Grund zur Freude im Haus der Nivens, bei denen Jane schon eine ganze Weile angestellt ist. Sie hätten alles verloren, was sie verlieren konnten, sagt Lady Niven (Olivia Colman) am Abend zu ihr und meint damit die unfassbare Lücke, die der Erste Weltkrieg in ihrem Leben hinterlassen hat: Auch ihr Sohn James ist nicht von der Front zurückgekehrt, ebenso wie die Söhne der zwei befreundeten Familien, mit denen sie sich an jenem Tag zum Picknick verabredet haben. Der einzige Lichtblick an der trostlosen Tafel ist die Aussicht auf die unmittelbar bevorstehende Hochzeit zwischen Paul (Josh O’Connor), dem jüngsten Nachwuchs der Sheringhams, und Emma Hobday (Emma D’Arcy), der ehemaligen Verlobten von James. Aber auch Paul macht sich rar, verbringt die Zeit lieber mit seiner heimlichen Geliebten Jane als dem verbitterten Geplänkel der feinen britischen Upperclass beizuwohnen, dessen Last und Trauer er als scheinbar einziger überlebender Erbe einer ganzen Generation nun auf seinen schmalen Schultern trägt.

Die französische Regisseurin Eva Husson, 1977 in Le Havre geboren, beschreibt Swifts Roman selbst als den Höhepunkt all dessen, was im Leben ihre Leidenschaft erwacht: „Schreiben, Sex und pures Kino.“ Mit diesem Gedanken im Hinterkopf und einem ungemeinen Feingefühl für die Sinnlichkeit, den Schmerz sowie das Leid menschlicher Beziehungen und Erfahrungen beschreibt sie in ihrem dritten Spielfilm die Selbstwerdung eines englischen Dienstmädchens: das aufrichtige und offenherzige Porträt einer jungen Frau, die sich erinnert und auf der Leinwand in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu einer reifen, gefeierten Schriftstellerin wird.

Inszeniert hat die Regisseurin, die erstmals 2015 mit dem Coming-of-Age-Drama Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus auf sich aufmerksam machte, ihr zeitenübergreifendes Historiendrama als eine Komposition von konzentrierten Close-Ups und atemberaubenden Landschaftsbildern, unterlegt mit der feinen Musik von Morgan Kibby und gefilmt in dem herrlich leuchtenden Licht, in dem die Bilder von Kameramann Jamie Ramsay oftmals zugleich traumartig entrückt und doch seltsam greifbar wirken. Nicht selten sind es zunächst nur einzelne Körperteile, die wir zu sehen bekommen: Hände, Augen oder ein Mund. Und ebenso behutsam gewählt sind auch die Worte, die das Drehbuch von Alice Birch den Figuren zuschreibt. Erst im Verlauf der Handlung fügen sich die einzelnen Teile langsam zu einen großen bisweilen wie gemalt erscheinenden Mosaik zusammen, das zugleich die Grausamkeiten der Welt und all ihre Geheimnisse in sich trägt.

Zwar gelingt der Wechsel zwischen den Zeitebenen vor allem in der zweiten Hälfte des Films nicht immer reibungslos. Auch das gemäßigte Tempo wirkt sich zunehmend problematisch auf die Kraft der emotionalen Bindung zu den einzelnen Figuren aus. Aber darüber kann insbesondere das bemerkenswerte Spiel der 23-jährigen Australierin Odessa Young hinweghelfen, die mit einer natürlichen Wahrhaftigkeit auftritt, von der man in Zukunft noch einiges erwarten kann. Darüber hinaus macht auch Colin Firth in der Rolle des hilflosen Ehemanns, der seiner totunglücklichen Gattin ihr verbleibendes gemeinsames Leben mit Oberflächlichkeiten zu erleichtern versucht, eine überzeugende Figur. Und so bleibt Mothering Sunday dank seiner hinreißenden Bilder und der hervorragenden schauspielerischer Leistungen von allen Beteiligten von der ersten bis zur letzten Einstellung ein Fest für die Sinne – verführerisch, poetisch und herrlich anzusehen.