1966 in DDR und BRD – die Retrospektive der Berlinale 2016 beleuchtet das Jahr des Aufbruchs in den welthaltigen Film. Eine ausführliche Vorschau.
Ein Klima von Aufbruch und Neubeginn: Im Westen stellen sich junge Autorenfilmer, darunter viele Debütanten, den Schattenseiten von Wirtschaftswunder und Geschichtsverdrängung, im Osten richten junge Regisseure einen offenen Blick auf den Alltag im Sozialismus und dessen Widersprüche für den Einzelnen. Doch während dem Neuen Deutschen Film im Westen der internationale Durchbruch gelingt, werden in der DDR infolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Dezember 1965 rund die Hälfte aller DEFA-Spielfilme verboten, die 1966 in die Kinos hätten kommen sollen – neben dem ökonomischen Desaster stellt dieser „Kahlschlag“ ein Tribunal über kritische Kunst dar, welche in einer Reihe außergewöhnlicher Gegenwartsfilme auf virulente Missstände aufmerksam macht und nicht nur die Lebensansprüche der Jugend in den Blick nimmt. Damals war die Chance einer wechselseitigen Rezeption, beiderseits der Mauer, verbaut, die Perspektiven in Ost und West sollten sich in der Folge in unterschiedliche Richtungen entwickeln – fünfzig Jahre darauf widmet sich die Retrospektive nun einer Zusammenschau dieses einstigen filmischen Sprungs.
Film, auf Erkenntnis gerichtet
In Abschied von gestern (BRD 1966), dem programmatischen Auftakt des Neuen deutschen Films im Westen, schickt Alexander Kluge seine Hauptfigur, Anita G., verkörpert von seiner Schwester Alexandra Kluge, wie eine Sonde durch die Bundesrepublik, zeigt die Lebensstationen der aus der DDR in den Westen Geflüchteten und dort mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt Geratenden als Collage aus Spielszenen, Reportagen, Interviews, improvisierten Szenen und Literaturzitaten. Kluges Spielfilmdebüt ist für Frieda Grafe nach der Uraufführung „der Film von jemandem, der das Kino gerade entdeckt hat und mit aller Unbefangenheit das macht, was andere nur unter großen Anstrengungen im Kampf mit dem vergangenen Kino fertigbringen: neue Ausdrucksweisen finden.“ Anita G. agiert eigensinnig, als Herausforderung aller Instanzen, denen sie begegnet und die an ihr kenntlich werden. In Kluges Programmschrift „Die Utopie Film“ von 1964 war ein zentraler Ausgangspunkt, dass Film „auf Erkenntnis gerichtet“ sei. „Der Film vermag die menschliche Gedankenbewegung nachzuahmen; gleichzeitig ist im Film nichts unmittelbare Natur, sondern alles durch den Apparat vermittelt.“ Film sollte als eine mögliche Intelligenzform unter mehreren verstanden werden – und nicht nur als ein Branchenprodukt, bei dem der Gedanke an den Marktwert immer schon Stoff und Form bestimmt hätte.
Mit Abschied von gestern hatte Kluge nicht allein die Ernte des Oberhausener Manifests für sich eingefahren, sondern auch die Summe all der Regungen, die den Jungen deutschen Film alias Oberhausen einmal ausgemacht hatten. Er sollte damit bis in die Gegenwart einen Avantgarde-Status einnehmen, was das Ineinander von Spiel- und Dokumentarszenen angeht, in dem der Essay als immerfort erneuernder Entwicklungsmotor von Geschichten und Ideen pulsiert, ein intellektueller Actionfilm.
Für Kluges Schlüsselwerk gibt es auf den Internationalen Filmfestspielen in Venedig einen Silbernen Löwen. Kurz zuvor hat Volker Schlöndorff den Filmkritiker-Preis in Cannes für Der junge Törless (BRD/F 1966) erhalten, eine Adaption von Robert Musils Romanerstling, deren Darstellung autoritärer, ja sadistischer Charaktere auf das psychische Fundament des Faschismus verweist (Michael Hanekes Das weiße Band, D/A/F/I 2009, als Studie über die Disposition der Jugend zum Nationalsozialismus, hat dieses Thema wieder aufgegriffen). Schlöndorffs Scenario entwirft eine Triade aus sadistischem Tyrann, gepeinigtem Opfer und lustvoll angewidertem Beobachter, dies die Hauptfigur Törless, deren Schaulust sich darauf richtet, was ein Mensch dem anderen an Gewalt anzutun fähig ist bzw. wie groß das Ausmaß der Unterwerfung sein kann, faszinierter Zeuge eines Menschenexperiments auf dem nächtlichen Dachboden, der Folterkammer einer enthumanisierten zukünftigen Elite in der Vorzeit des Ersten Weltkriegs.
Der Habitus einer Klasse
Peter Schamonis Schonzeit für Füchse (BRD 1966) gewinnt auf der Berlinale einen Silbernen Bären. Das Treibjagd-Motiv gibt seiner Geschichte ihr durchgehendes Gleichnis. Angesichts der großbürgerlichen Rituale einer Oberschicht zeigt der Film eine Klassengesellschaft, die den Nationalsozialismus anscheinend unbeschadet überstanden hat. Der privilegierte Nachwuchs, zwei junge Intellektuelle, weiß sich in der Ruhrpott-Society zu benehmen, auch wenn man für diese bisweilen nur gelangweilte Verachtung übrig hat. Die Haltung ist ironisch gebrochen, vom Spagat zwischen den Klassen gleichsam paralysiert, die kleinbürgerliche Sphäre der Freundin des Protagonisten (Helmut Förnbacher), journalistisch tätig, schafft einen merkwürdigen Kontrast. Dem stabilen restaurativen Selbstbewusstsein der Väter können die von kapitalistischen Anreizen wenig motiviert scheinenden Söhne wenig entgegensetzen, schon gar keinen Sinn für deren Wirklichkeit. Ein Unwohlsein auf der Schwelle sich zu etablieren erfüllt viele Autorenfilme dieser Phase (so auch Der sanfte Lauf, BRD 1967, Haro Senft). Suchend, fasziniert und angewidert folgen sie den Ritualen der herrschenden Schicht, der Jagd, dem Ball, der Dichterlesung aus distanzierter Beobachtung, alles etwas wie im Antonioni-Modus aufgefasst. Einen genialen Einfall Schamonis stellt die Besetzung des alternden Jagdschriftstellers und Grandseigneurs mit dem ehemaligen NS-Staatsschauspieler Willy Birgel dar, Herrenreitertyp des deutschen Kinos der Ufa-Tradition, der hier einmal seine, wenn auch satirische, Paraderolle spielt als Repräsentant eines in der Wolle eingefärbten konservativen Milieus. Er habe das Milieu wiederentdeckt, heißt es über Peter Schamonis Schonzeit für Füchse; der Regisseur kennt die Landschaft am Niederrhein, weiß den souveränen Habitus seiner Klasse darzustellen, eine emotionale Ambivalenz gegenüber der patriarchalischen Sicherheit einer Vaterfigur zu vermitteln.
Der Bruder, Ulrich Schamoni, erringt mit Es (BRD 1966) mehrere Auszeichnungen beim Deutschen Filmpreis: Ein junges Paar, ein Immobilienmakler und eine technische Zeichnerin in Westberlin, das damals neue Wohn- und Lebensverhältnisse repräsentierte, verkörpert das moderne Zusammenleben einer neuen Mittelschicht, das durch eine ungewollte Schwangerschaft in die Krise gerät. Das war seinerzeit – nach großen Vorbildern, etwa Godards Une femme mariée (Eine verheiratete Frau, F 1964) – innovativ gedreht: eine junge Frau (Sabine Sinjen), die durch die Stadt eilt und mit ihrem Abtreibungswunsch immer wieder auf Ablehnung stößt. Er habe, so Schamoni, Es bewusst als ‚Publikumsfilm‘ so gemacht, dass die Zuschauer sich auf der Leinwand wiedererkennen konnten.
Ungewisse Wege
Der sanfte Lauf (BRD 1967), das Spielfilmdebüt des kürzlich verstorbenen Haro Senft, einem wesentlichen Initiator des Oberhausener Manifests von 1962, das die Bereitstellung der Produktionsbedingungen für einen neuen deutschen Film forderte, gehört zu den ersten sechs Filmen, die infolge jener Gruppenerklärung 1965 als Regieförderung teilfinanziert wurden. Wie die „Oberhausener“ und in der Folge manche Regisseure des Neuen Deutschen Films den Autorenfilm in der BRD begriffen, wird hier – mit Bruno Ganz in seiner ersten Filmhauptrolle – aus der Weltsicht des Filmemachers vermittelt, in einem subjektiven Gegenwartserzählen aus der Perspektive des Autors, de-dramatisiert, realistisch-prozessual, mit einem kritischer Haltung angemessenen offenen Ende inszeniert. Partys wohlhabender Kreise beim Twist bilden die Schnittmenge aus reaktionärer Reichenperspektive, NS-BRD-Kontinuität und der Identität der Folgegeneration, auf der Schwelle zum „Establishment“ noch einmal den sanften Lauf sozialer Anpassung bedenkend an die Wirtschaftswunder-Republik, darin das diffuse Unbehagen ihrer Kinder spürbar ist, während die weithin verdrängte NS-Zeit so kurz zurückliegt.
Es sind ungewisse Wege, die eingeschlagen werden, eine gewisse Vagheit, ungeliebte Kompromisse bestimmen die Lebensläufe der Figuren. Ganz so wie in Der sanfte Lauf die Karriere beim Schwiegervater gewählt wird oder wie in Schonzeit für Füchse das Ambiente des Reichtums genossen, aber nicht mehr in seinen Grundlagen akzeptiert wird. Sich treiben lassen scheint ein Charakteristikum des eben startenden Neuen Deutschen Films zu sein, von Rainer Werner Fassbinders erstem überlieferten Film Der Stadtstreicher (BRD 1966) über die eine gewisse Vagheit pflegenden Paare in Es und Playgirl (Will Tremper, BRD 1966) bis zur Inaktivität des „jungen Törless“. Die Grundstimmung, sich treiben zu lassen, findet sich jedoch ebenso gut in manchen DEFA-Filmen jenes Jahres, passt auf Al (Rolf Römer) in Jahrgang 45 (Jürgen Böttcher, DDR 1966) und auf den jungen Arbeiter Peter Müller im Dokumentarfilm Die Verantwortung (DDR 1966) von Kurt Tetzlaff.
DEFA-Produktionen, die sich offen mit den Widersprüchen im „real existierenden Sozialismus“ auseinandersetzen, werden verboten und erleben zumeist erst Jahre oder Jahrzehnte später ihre Uraufführung. Mit Hermann Zschoches Karla (DDR 1965/1990) und Jürgen Böttchers Jahrgang 45 (DDR 1966/1990) zeigt die Retrospektive zwei Verbotsfilme sowohl in den Zensurfassungen, die den Stand bei Abbruch der Arbeiten veranschaulichen, als auch in den Verleihfassungen von 1990. So lässt sich im Vergleich die Kluft ermessen.
Gerade die DEFA-Filme des Jahrgangs 1965/66 verhandeln, was es offiziell nicht geben durfte: die andere Haltung der jungen Generation, ihre Ansprüche, Forderungen und Hoffnungen. Eine Figur, die ein Lehrstück in Bewegung bringt, ist die frischgebackene Lehrerin Karla (Jutta Hoffmann) in Herrmann Zschoches gleichnamigem Film (DDR 1965-1966/1990). Ihre bedingungslose Anwendung der Prinzipien sozialistischer Erziehungsethik fordert ihren im Amt ergrauten Schulleiter, einen alten Kommunisten, heraus: „… [die Schüler] sollen eben nicht pauken. Sie sollen denken lernen. Darum geht‘s mir. Und um das Vertrauen. Das hat nämlich was mit Demokratie zu tun. Wenn ich das schaffe, verzichte ich auf meine ganze Autorität.“ Im Studium hatte sie Anfang der sechziger Jahre etwas von ‚Meinungsstreit‘, ‚eigener Meinung‘ gehört und von der Jugend als ‚Hausherr von morgen‘. In einer Schulstunde, zu der sich eine Kontrollkommission eingefunden hat, reicht sie die Aufsätze der Klasse unzensiert zurück und kritisiert die Heuchelei ihrer rhetorischen Schleifen zum Thema ‚Was mir die Schule gegeben hat‘. Karla wird strafversetzt.
Jahrgang 45, die Kunst der Abschweifung und das Parteiverständnis filmischer Wahrheit
Jahrgang 45, Jürgen Böttchers Spielfilm – uraufgeführt erst 1990 – vermittelt ein Gefühl für die inoffizielle Republik, darin die sperrigen, spröde verkapselten Sehnsüchte der jungen Generation aus einem unbestimmten Mangel, der (noch) nicht auszudrücken ‚gelernt‘ erscheint wie seither die Emotionen im Seelenleben. Der Film verströmt die Langeweile an Wochenenden, die Träume in den Höfen, das ziellose Dahindriften unterhalb aller unablässig dominierenden Anstrengungen an der Produktionsfront. Jahrgang 45 wirkt in der privaten Eigenwilligkeit seiner Figuren geradezu resistent gegenüber jedem sich Geltung verschaffendem Anspruch, jeder penetranten sozialen Kontrolle von Parteizelle oder Betriebskollektiv – das übliche Muster, private Konflikte immer auch mit der Dramatisierung von Problemen aus der Produktion, also Plansoll, Erfüllung, Leitung zu begleiten, es perlt unweigerlich ab am Eigensinn der Personen. Zudem entdeckt Böttcher so etwas wie die Kunst der Abschweifung, einen Sinn für die ungewöhnliche Dauer und Genauigkeit von Beobachtungen, die dramaturgisch befreiend wie Ausstiege ins Reich des Dokumentarischen wirken, wie selbstvergessene, gedankenverlorene Zustände des Betrachtens, in denen die Zeit vergeht – im Tierpark, im Stadtbild, über die Dächer ins Weite oder vom Gendarmenmarkt aus auf die Westtouristen, die sich hier wie Besucher eines Zoologischen Gartens ausnehmen. Jeder Kommerzproduzent und jede auf Nummer sicher zielende dramaturgische Kontrollinstanz hätte dergleichen getilgt oder auf Deutlichkeit hin symbolisiert. Böttcher indes, der Dokumentarist und Maler in seinem einzigen Spielfilm, folgt einer eigenen filmischen Ästhetik: „Es geht um ein junges Ehepaar, Al und Li, er Autoschlosser, sie Krankenschwester, beide etwa 20, eben Jahrgang 45, die drauf und dran sind, sich zu trennen. Al zieht aus, erst in seine alte Bude, dann zu seiner Mutter und dem Großvater, weiß nichts mit sich anzufangen, geht trotz Urlaubs wieder arbeiten, hat ein ungewisses Gefühl, daß es noch etwas anderes geben müßte als das, was sein Leben bestimmt. Schließlich kehrt er wieder zu Li zurück, die er ja liebhat und die an seinem Unbehagen nicht schuld ist. / Kausale Handlungszusammenhänge interessieren Böttcher nicht. Er ist vielmehr fasziniert von einer Art Lebenssinn oder Lebensgenuß oder Lebenssehnsucht, die sich in Als Haltung, so wie Rolf Römer ihn verkörpert, ausdrückt, in seinen Gesten, seinem Genuß an einem bestimmten Rhythmus, einer Bewegung, einem Gang, einer Musik, einem Licht, einer Stimmung, auf jeden Fall in etwas Nonverbalem. (…) Es gibt keinerlei auf Bedeutung dringende Gespräche. (…) Das, was gesagt wird, ist nur die erste, einfachste Schicht der Szenen, dahinter stecken andere Gedanken und andere Gefühle, die die Grenzen des Verbalen überschreiten. (…) Jahrgang 45 ist der welthaltigste Film dieser Verbotsserie. Er erfaßt die Gefühle der Zwanzigjährigen im Prenzlauer Berg sozial und regional konkret und zugleich in einer elementaren filmischen Weltsprache. Es ist, als ob er mit der Zeit mitgewachsen wäre,“ so hat es Erika Richter in „Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg 1946-92“ (1994) formuliert.
Von der für das Verbot zuständigen Abteilung Filmproduktion, die das gesellschaftlich Beispielhafte, das Vorbild vermisste, hört sich die Stellungnahme zum „Ausbuchen und Einbunkern des Rohschnitts“, ein schamloser Exkurs über das Parteiverständnis filmischer Wahrheit, so an: „Jahrgang 45 hätte ein sauberer sozialistischer Gegenwartsfilm werden können, der unserer Jugend durchaus gültige und unserer Ordnung entsprechende Erkenntnisse vermittelt. (…) So wie die Menschen in der Umwelt Als und Lis indifferent, nichtssagend, verworren und auf keinen Fall als Vertreter unserer gesellschaftlichen Ordnung gezeichnet wurden, ist auch das gesellschaftliche Milieu weit ab von den charakteristischen Merkmalen unserer sozialistischen Wirklichkeit. Trist, unfreundlich, schmutzig und ungepflegt wirken die verschiedenen Gebäude, Straßenzüge, Wohnungseinrichtungen usw. Ein Hinterhof, eine Keller-‚wohnung‘, Brandmauern, ein öder, von Unkraut bewachsener Schuttberg, eine einsame Straße usw. beherrschen das Bild. (…) Al (…) ist bewußt als ein indifferenter, gedankenloser und unreifer junger Mann gezeichnet, der seine Arbeit macht, dann aber ohne Phantasie und Initiative seine Freizeit verbringt (…) der Typ eines Jugendlichen, der in unserer Republik mehr und mehr verschwunden ist. Al wirkt in seinem Habitus nahezu asozial. (…) Personen und Umwelt sind vielmehr so gestaltet, daß sie eher der kapitalistischen als der sozialistischen Lebenssphäre zugerechnet werden könnten. Da der Film jedoch eindeutig vorgibt, einen Ausschnitt aus unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zu reflektieren, wird er zutiefst unwahr. Seine zur Schau gestellte ‚unverbindliche Objektivität‘ führt zu Aussagen, die gegen die sozialistische Gesellschaft gerichtet sind.“ (gez. Dr. Jahrow) Jahrgang 45 blieb der einzige Spielfilm des bedeutenden Dokumentaristen und Malers (unter dem Pseudonym Strawalde) Jürgen Böttcher.
Sich treiben lassen
So unterschiedlich die Voraussetzungen auch waren: Die Autorenfilme aus dem Westen und die Studioproduktionen aus dem Osten haben vieles gemein. Die Protagonisten driften dahin, eine Zeitlang ziellos, oder sind auf der Suche, on location, in der Wirklichkeit, in einem noch ungewissen Aufbegehren. So wie der Hafenarbeiter, der in einer schlaflosen Nacht durch die Straßen Hamburgs zieht (Jimmy Orpheus, Roland Klick, BRD 1966) oder Marquard Bohm, der einen Tag in Hamburg sehr halbherzig unterwegs ist auf der Suche nach einer Arbeit (Na und … Bohm / Helmut Herbst, BRD 1966). Wie der vom Star des DDR-Kinos, Manfred Krug, gespielte rebellische Brigadier Balla, als Bestarbeiter ein Anarcho-Autonomer in Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1966), nach dem DDR-Bestseller-Roman von Erik Neutsch gedrehten Superbreitwandfilm („Totalvision“), der drei Tage im Kino lief, bevor auch er verboten wurde. Oder wie Helene Raupe in Fräulein Schmetterling (Kurt Barthel, DDR 1965 / Deutschland 2005), die nach individueller Entfaltung sucht. Der Film, geschrieben von Christa und Gerhard Wolf, wurde zensiert und nie vollendet. In seiner experimentellen Formensprache, inspiriert vom Surrealismus tschechischer Filmschaffender (Véra Chytilová, Jan Némec), kontrastiert er Helenes ungeschönten Alltag, in dem sie scheitert, mit ihrer Fantasiewelt, die sich in pantomimischen Darbietungen poetisch entfaltet.
Na und … , in Hamburg gedreht, ist in den Anfangsjahren des Neuen deutschen Films ein Unikat von und mit der bundesrepublikanischen Antwort auf Jean Paul Belmondo, Marquard Bohm; die Aura der Unangepasstheit und Aufsässigkeit brachte er mit. Zu verfolgen ist eine einfache gereihte Kette von Begebenheiten, die dem Darsteller in Selbstinszenierung im Verlauf eines Tages auf der Suche nach Arbeit zustoßen, wobei sich eigentlich nichts ‚ereignet‘, außer dass die normierte Seite des Erwerbstätigenlebens einer Vollbeschäftigungsvolkswirtschaft dem durch den Tag Streunenden – wir erleben also eine Ballade – ihre Einstellungsbüros zeigt, dessen Personal den Helden mit einem Jargon von zweifelhafter Werbewirkung und durchsichtigen Versprechungen abstößt. Beiläufig und eher gleichgültig absolviert Bohm solche Termine, hält sich aus allem heraus und von Geschichten fern. Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft verfolgen die Hauptfigur auf Schritt und Tritt, doch sie können seiner ‚Autonomie‘ nichts anhaben, scheinen auf eine Immunität zu treffen, die jeglichem Integrationsversuch in ein standardisiertes Erwerbsleben entgegenwirkt. Der Film folgt der Selbstinszenierung seines Darstellers entlang einer Sequenz von Schauplätzen über den Tag hinweg und vermeidet ganz wie sein Held jede Anbandelung einer Story. Er streift die Oberfläche der Republik gegen den Strich, die Normalität ihres Arbeitsalltags, durchläuft Stationen einer ihn nichts angehenden Welt, wobei dies auch nur als ein literarischer Ausdruck verstanden werden kann für die Eigenheiten eines Darstellers in einer Vorstellung ‚puren‘ Kinos, welcher seine physische Präsenz die Richtung gibt. Der erzählerische Neuanfang ist spürbar als Idee, sich vom Dramatisierungszwang zu befreien, sichtbar im gelassenen, ruhigen Fokus auf der Person, deren Handlungen beiläufig und wiederholend ablaufen, in all ihren Tics und übertriebenen Gebärden. Dokumentarisch sind die Szenen insofern, als die Filmemacher sich ohne genaues Drehbuch situativ auf die Drehbedingungen einließen und reagierten. Das Kino wird aufgegriffen in seiner Personendarstellung an authentischem Ort – in Personalbüros, S-Bahnen, Imbisslokalen oder Wohnungen von Bekannten in Hamburg. Ganz im Stil der frühen Nouvelle Vague zeigt der Film Verhältnisse, die mit dem Leben seiner Macher zu tun haben, ist zum Teil in der eigenen Wohnung, in Gesellschaft eigener Bekannter aufgenommen. Mehr als das Nachspielen geliebter Szenen von identifikatorischer Kraft eignet einem Film wie diesem, Querulant schon aufgrund seiner eigenwilligen Länge von 30 Minuten, eine Protestenergie gegen den Konformismus, aus Anlass des Kinos eine Geschichte zu erfinden.
Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1966) nach dem Roman von Erik Neutsch (der ‚neue Typ des großen Gesellschaftsromans‘ stand ein Jahr lang an der Spitze der DDR-Bestsellerlisten, schien also wenig Risiken für eine Verfilmung zu bergen), sein kurzes Aufflammen im Sommer 1966 ist noch heute Legende, wurde kurz nach der Ost-Berliner Premiere auf Druck von ZK-Mitgliedern der SED aus dem Programm genommen. Offen geschildert wird der Konflikt auf einer Großbaustelle der DDR. Der Parteisekretär muss sich wegen unmoralischen Verhaltens und ideologischen Versagens vor der Parteileitung verantworten. Seine Verwicklungen mit dem anarchistisch-autonomen Brigadeführer Balla (Manfred Krug), dem Sprecher eines ungebändigten Haufens eigensinniger Bestarbeiter-Brigadisten, auf betrieblicher und mit einer jungen Ingenieurin auf amouröser Ebene werden in langen Rückblenden erzählt. „Hier ist nichts gelogen! Nichts grad gebogen! / Hier wird nix frisiert und blank poliert! / Hier ist das Leben krass und klar / Verrückt und wahr, verrückt und wahr!“ So endet ein Lied Wolf Biermanns zu diesem Film – „Nach dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 wurde zuerst der Film von diesem Lied gesäubert und kurz darauf die DDR von diesem Film.“ (Biermann)
Generationenkonflikt im Sozialismus – „Stellungnahmen“ des Zensors
Berlin um die Ecke (1965/1990, Regie: Georg Klein; Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase): Die Freunde Olaf und Horst sind Mitglieder in einem großen Metallbetrieb in Berlin-Oberschöneweide. Im Streit um Produktionsverbesserungen geht es auch darum, das Maschinen veraltet sind und der Nachschub von Werkzeugteilen nicht immer gewährleistet ist, und um auf ihren Lohn zu kommen, geben die Jungen geschönte Zahlen an, auch aus Protest gegen ihre im Vergleich mit den alten Betriebszugehörigen geringere Einstufung. Unmut in der Jugendbrigade: gleiche Leistung wird nicht gleich bezahlt. Als sie dafür in der Betriebszeitung angegriffen werden, attackiert Olaf den Redakteur, einen alten Antifaschisten, tätlich. Die Auseinandersetzung im Betrieb wird begleitet von Olafs privatem Problem: er hat sich in Karin, eine Sängerin in einem Tanzcafé, verliebt, die auf der Bühne den Star des Nachtlebens spielt und tagsüber in einer Großküche arbeiten muss. Lange Zeit wehrt sie ihn ab, bis sie merkt, dass er es ernst meint. Nach der Auflösung der Jugendbrigade verlässt der Freund, Horst, in Richtung einer Großbaustelle die Stadt, Karin will ein Studium beginnen und bricht am Ende mit Olaf in die Sommerferien auf.
Im Fall von Berlin um die Ecke blieb die Suche nach einer Zensurfassung, die den Stand der Produktion bei Abbruch dokumentierte, ohne Erfolg. Der Begleitband zur Retrospektive versammelt allerdings DEFA-Aktenauszüge aus dem Bundesarchiv, Diskussionsprotokolle und Stellungnahmen, welche die Auseinandersetzungen um den Film wiedergeben. Einer nach dem 11. Plenum des ZK der SED von der Partei eingesetzte Kontrollinstanz im DEFA-Studio für Spielfilm („Dr. Franz Jahrow“ / Hauptverwaltung Film des Ministeriums für Kultur) kam die Aufgabe zu, die ideologisch-künstlerische Diskussion zu beaufsichtigen und Stellungnahmen zu verfassen, deren in scharfem Ton geäußerte harsche ideologische Kritik letztlich zu „Ausbuchung“ des Films führte. Der Staatszensor als Hauptdarsteller des Abnahmeverfahrens attestierte (auch) diesem Film eine „antisozialistische, schädliche Grundhaltung (…), ein dem sozialistischen entgegengesetztes Lebensgefühl (…), zutiefst pessimistisch und subjektivistisch“. Die wohl größte Provokation für einen Staat, der sich darüber bestimmte, den „Hauptwiderspruch“, den Klassenantagonismus aufgehoben zu haben: „Der Film unterstellt von Anfang bis zum Ende, daß in unserer Republik ein Generationskonflikt besteht, der nicht aufzulösen geht (sic!). (…) Ebenso harte Kritik muß an der moralisch-erzieherischen Wirkung des Films geübt werden. In einer ausgesprochen naturalistischen, als ‚Reportagestil‘ deklarierten Erzählweise werden die Liebesbeziehungen zwischen jungen und zwischen jüngeren und älteren Menschen auf die sexuelle Befriedigung reduziert. (…) Dummheit und Arroganz, besonders der Vertreter der älteren Generation, kapitalistische Unmoral, Verindividualisierung des Menschen, fehlende kollektive Beziehungen, Oberflächlichkeit der Gefühle, Anarchismus in der Arbeit, Unfähigkeit Verantwortlicher, Egoismus (der Hausbewohner, des Ehemanns der Freundin Olafs), Gewinnsucht, Unehrlichkeit, Betrug, Doppelzüngelei und ähnliche ‚menschliche Eigenschaften‘ beherrschen in diesem Film, der vorgibt, unsere sozialistische Wirklichkeit nachzuzeichnen, das Bild. Das alles wird als ‚natürlich‘ und ‚gesetzmäßig‘ abgestempelt. Darin liegt die verlogene und antisozialistische Aussage des Films.“ Resumé: „Die Schöpfer des Films haben mit dieser Arbeit bewiesen, daß sie ernsten künstlerisch-ideologischen Irrtümern und falschen ideologischen Positionen erlegen sind.“
Das Beispiel einer Brigade
Es genügt nicht 18 zu sein: (Kurt Tetzlaff, DDR 1966), um die Hälfte gekürzt, dann verboten wegen „Verunglimpfung der Arbeiterklasse“, uraufgeführt 1990. Der Film blickt ins Produktionsmilieu, die Erdölförderung bei Grimmen zwischen Greifswald und Stralsund, als Motto, in Kleinschreibung, vorab wird Majakowski zitiert: „jung nenn ich jenen unverzagt, der zur belichteten / kampfschar der alten im namen der nachgeborenen sagt: / wir werden das dasein neu gestalten! / w. majakowskij“ – „Der Film fängt vorrangig die Freizeit und das Lebensgefühl einer Brigade aus mehrheitlich sehr jungen Männern ein, immer dabei: ein kleines Ferkel, das Maskottchen der Brigade. Die jungen Männer werden eingeführt wie die ›glorreichen Sieben‹, (Anti-)Helden, die mitten in der Provinz im Dreck schuften, Kleidung und Gesichter erdölverschmiert, und die in einer primitiven Bretterbude ohne fließend Wasser hausen, mit nichts als einem kaputten Radio zur Freizeitgestaltung und weitab von Familie, Freunden, Kneipen, Tanzlokalen und Mädchen. Am Anfang des Films steht ein fragender Off-Kommentar, gesprochen vom jungen Manfred Krug, eine Provokation: ‚Man hatte uns abgeraten, nach Frätow zu gehen. ›Sie finden dort nicht das Beispiel‹, hatte man uns gesagt. Aber suchten wir eigentlich ein Beispiel?‘, so die warme, wohltönende Stimme des Schauspielers und Sängers zum Bild eines Bohrturms im Gegenlicht, während gleichzeitig eine von Peter Rabenalt komponierte Beatmusik zu hören ist. Tetzlaffs Film versteht sich als Korrektiv zum Bild des Arbeiters im Sozialismus und dem pädagogischen Auftrag von Film und Fernsehen, dieses Bild zu vermitteln. Hier will einer ›bloß‹ den Alltag von arbeitenden Männern zeigen, von denen die meisten vorab wohl wenig darüber informiert worden waren, was sie bei der Erdölförderung in der ostdeutschen Provinz erwartet. An einer Stelle im Film nennt einer der Jungen die Arbeit auch unverblümt einen ‚Rotz‘ und kündigt an, dass er gehe, wenn sein einziger Kumpel hier aufhöre. Selbst Spannungen und Streit in der Brigade spart Tetzlaff nicht aus.“ (Britta Hartmann, 2016) Das Ende des Kommentars, als dessen Sprecher Manfred Krug zu hören ist, lautet: „… Sie haben auch nicht gesagt, dass sie den Sozialismus aufbauen, aber sind die, die da laut reden, immer die Besten?“
Dabei waren die verbotenen Filme nicht als Kampfansage an das sozialistische System gedacht, so mehrheitlich die Überzeugung der Filmschaffenden und der Studioverantwortlichen. Viele von ihnen waren selbst Mitglieder der SED, die darum ringen, sich und ihre Partei, dieses Abstraktum, in politische und ideologische Übereinstimmung zu bringen. Dennoch wurde auch von den Befürwortern einer strengen Zensurpraxis stets versucht, die Kommunikation mit den betroffenen Filmschaffenden aufrechtzuerhalten und sie in Kürzungen, Umstellungen, Nachdrehs etc. einzubeziehen – man wollte seine Talente nicht verlieren.
„Double-Bind“
In der Kurzfilmauswahl zum Jahr 1966 liegt der Schwerpunkt für die BRD auf frühen Werken, zum Teil Debüts junger Filmemacher: Fassbinders erster Film, Der Stadtstreicher (BRD 1966), gedreht in einem trüben Münchner Herbst 1965, war gewissermaßen ein Film, um das Filmen zu lernen. Ein Stadtstreicher (Christoph Roser) findet auf einer Brücke („Schinderbrücke“) eine Pistole. Mehrfach versucht er, sich unauffällig des bedrohlichen Gegenstandes, der ihm den Suizid nahezulegen scheint, zu entledigen, was ihm nicht gelingen will – das Problem, etwas nicht loswerden zu können, ist aus dem frühen Slapstick-Kino bekannt. Schließlich nehmen ihm zwei Männer, die ihn in einem Gartenlokal schon länger beobachtet hatten, die Waffe weg, aussichtslos läuft er hinter ihnen her wie ein Bestohlener hinter den Dieben, die sich den erbeuteten Gegenstand spielerisch zuwerfen. Für Thomas Elsaesser kreist Fassbinders erster Film um eine „Double-Bind-Situation“ durch die Pistole: Der Stadtstreicher könne sich „nicht entscheiden, ob er sie wegwerfen oder behalten soll. Sein Dilemma ist so komisch wie tragisch, weil das Mittel der Verteidigung auch das Mittel des Verderbens ist.“ (2012) Das Objekt verleiht Macht, weil es über den Tod gebieten kann, aber auch über den eigenen. Der Stadtstreicher ist laut Fassbinder von einem seiner damaligen Favoriten, Le signe de lion (Im Zeichen des Löwen, 1959) von Eric Rohmer, inspiriert. Nur erscheint der zehnminütige Film wie eine entnommene Episode aus einer Entwicklung, die bei Rohmer nach völligem Niedergang des Clochards zu einer unerforschlichen Wende, einem unerwarteten Erbe führt. Fassbinders Filme Der Stadtstreicher, danach Das kleine Chaos, lagen vor seiner Bewerbung an der 1966 neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), die bekanntlich erfolglos blieb. 1967 stieß Fassbinder zur Gruppe des „action-theaters“, er spielte zunächst, inszenierte, dann bearbeitete er Stücke, schrieb sein erstes selbst. Im Jahr darauf zerbrach die Gruppe, ein Teil davon, neben RWF, begründete das „antiteater“, dessen Mitglieder im April 1969 Liebe ist kälter als der Tod drehten (Uraufführung im Juni 1969 auf der Berlinale).
„Als ich 22 war“
Jeder ein Berliner Kindl, zweiter Film aus dem riesigen Oeuvre von Harun Farocki (damals noch: Faroqhi), eine 4-minütige Studie, in der der Autor die Motive der Werbekampagne einer Großbrauerei mit einem analytisch-ironischen Kommentar bedenkt und etwas umschreibt, was man heute womöglich „Tribal spirit“ nennen würde, bildet eine erste Probe von Farockis bildkritischem Gegenlesen zeichenhafter Gegenwart, eine Betrachtung von Gebrauchsbildern der Werbeoberfläche einer Wirklichkeit, deren imaginären Charakter der Autor stets zu dekuvrieren bestrebt war. Dass er sich in jener Zeit mit Roland Barthes‘ „Mythen des Alltags“ beschäftigt hat, meint man dem Film anzusehen. Im Begleitbuch „1966“ findet sich am Schluss ein Dokument unter dem Titel „Als ich 22 war“ – in Faksimile eines mehrseitigen Originaltyposkripts von Harun Farocki über das Jahr 1966, verfasst angeblich um 1980 für die Zeitschrift „Filmkritik“ aus Anlass eines Themenhefts gleichen Titels, das nie realisiert wurde. Eine autobiografische Facette, in seiner Bekenntnishaftigkeit ebenso blendend wie entblößend, eine hochassoziativ zwischen den Zeiten springende Montage aus schlaglichtartigen Erinnerungen, deren fast zwanghafte Genauigkeit der Autor im Text unter anderem aus dem Umstand ableitet, dass er „schon als Kind üben mußte, wie man sich an einer neuen Schule zu benehmen hat“. (…) „Ein Cineast“ sei er „damals, 1959, nicht gewesen, und auch nicht nachher geworden. / Die Bars mit Modern Jazz und Kellnern mit Epauletten, die Hotels mit den schiefen Treppen, in denen die Liebe gefilmt wird, indem man zwei Zigaretten auf dem Rand eines Aschenbechers verglimmen läßt, der Peugeot 403, der während er wendet, durch vier Türen von Männern mit Maschinenpistolen bestiegen wird: aus meiner Neigung zu diesen Bildern habe ich nie etwas machen können, diese Neigung habe ich wohl kaum in Verbindung mit meiner Produktion gebracht.“
Ein Außenposten – der Film als Selbsterfahrung
Der kroatische Maler, Autor und Filmemacher Vlado Kristl hatte 1963 aufgrund des Verbots eines Films sein Geburtsland Jugoslawien verlassen und drehte 1966 den experimentellen Film Der Brief. Nur mehr Rudimente einer erzählerisch wiedergebbaren Handlung – ein kafkaesker Plot, heißt es oft – sind erkennbar: „T. findet einen Brief. Anstatt ihn einfach in den Postkasten zu werfen, entschließt er sich, pflichtbewußt, wie er ist, ihn persönlich zu übergeben. Er wandert darum durch die ganze Welt, findet erstaunliche Formen der Existenz, läßt sich aber nicht aufhalten und sucht so lange weiter, bis er endlich die Adresse findet. Dort erfährt er, daß er sein eigenes Urteil mitgebracht hat.“ (Helmut Färber 1967 in der „Filmkritik“)
„Die Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Ausnahmezustand des Kampfes von jedem gegen jeden. Formal leben beide Filme (d.i. Vlado Kristls Der Brief und General I Resni Clovec/Der General und der ernste Mensch, YU 1962) von auseinander laufenden Ton- und Bildspuren, von einer vitalen, geradezu hektisch wirkenden Kameraführung, vom abrupten Wechsel der Einstellungsgrößen sowie von absurden, dabei kaum verzahnten Szenenfolgen. Der Brief weitet sich zudem zu einer permanenten Gruppen-Performance aus, an der die meisten Darsteller offenbar mit viel Spaß teilnahmen. Unter den Mitwirkenden sind fast alle damals im Münchner Umfeld in den Startlöchern stehenden jungen Filmleute: unter anderem Peter Berling, Klaus Lemke, Eckhart Schmidt, Gérard Vandenberg, Niklaus Schilling, Jörg Schmidt-Reitwein, Matthias Weiss sowie Peter, Thomas, Ulrich und Victor Schamoni. Der Brief stellt sich heute als eine wertvolle Flaschenpost heraus, gleichzeitig auch als ein Monstrum – nämlich als ein durchaus anstrengender, weil hysterischer Anti-Film, ohne den zum Beispiel Christoph Schlingensiefs Filme (und Theaterstücke) kaum denkbar wären. Kristl verstand sich als Filmemacher als praktizierender Anarchist und schwang gern entsprechende Sprüche wie: ‚Nur die Filme sind richtig, die Ordnungen zerstören.‘“ (Claus Löser, 2016)
„Der Künstler als Anarchist“. Mit Der Brief ist als „Experimentalfilm“ die Arbeit eines Autonomen vertreten, Vlado Kristl – „vielleicht“ – so Thomas Elsaesser – „der radikalste Filmemacher, den Westdeutschland je besaß“. Eigensinn, Widerständigkeit und Widerwille galten ihm als Kriterien der Kunst, die, immun gegenüber bildungsfetischistischer Einvernahme, Narration nur mehr in „Spurenelementen“ aufweist. Ein vorab prämiertes Drehbuch war Kristl nur „Mittel zum Zweck“ und fand sich im fertigen Film nicht wieder – quasi ein Streich, um an Fördermittel zu gelangen, überhaupt einen Spielfilm drehen zu können, um sodann die Fabel seiner Vorlage hinter sich zu lassen. Der Gebrauch einer List gegenüber den Gremien-Entscheidern, eine Textform durchzubringen als Vorwand für entfesseltes Kino. „…Sie können die größten Lügen verkaufen und die größten Sentimentalitäten, das Ende kennen Sie schon, Sie wissen schon, wie man den dramatischen Höhepunkt macht. Wieso ist es da überhaupt notwendig, einen Film zu drehen? Da packt man seine Papiere und geht nach Hause.“ (Kristl, 1967) Vlado Kristl blieb ein Außenposten selbst in der Post-Oberhausener-Manifest-Bewegung. Stritt für den Film als Selbsterfahrung, Selbstentdeckung der eigenen Motive, Aufklärung und Selbstentlarvung: „Der Film gilt ihm im wahrsten Sinne als Möglichkeit der Selbstkritik, als Erprobung eines Weltbezugs ohne Kontrolle. Daher die Häufung unverbundener Aktionen und Situationen, die jeden vorgefassten Plot zermahlen.“ (Christian Schulte, 2010) In der „Filmkritik“ schrieb Helmut Färber über Der Brief, es handle sich um ein regelrechtes „Schimpffest“ – Schreien, Schimpfen, in allen Aktionen Heftigkeiten, Boshaftes, das nach Ausdruck drängt. „Durch den Befehl an den Kameramann, seine Maschine nie ruhig und nie auf Wichtiges zu halten, und durch seinen Staccato-Schnitt bringt Kristl seine Szenen zu einem aktiven Eigenleben, wie wenn die Striche einer Zeichnung anfingen sich zu regen und vom Blatt zu lösen. Die Szenen demonstrieren nicht (nur) etwas, sie machen etwas. Sie zerstören einen in dieser Destruktion noch wahrnehmbaren filmischen Ablauf, indem sie nicht mehr in ihm aufgehen, ihm nicht mehr folgen. Die Szenen zerstören ihre eigene Erstreckung in der Zeit, und damit nicht nur als Einbildungskraft des Dichters, sondern als menschliche Bewußtseinskategorie.“ (Helmut Färber, 1967) – Entdeckungsfahrt in extremem Gelände: „Aber ich tue doch alles, um die Botschaft zu vernichten, wenn sie sich zeigt. Wenn man sie erkennt, dann ist das schwach. Dann ist der Film begrenzt.“ (Kristl, 1967)
Bedingungen für individuelles Glück
Fräulein Schmetterling (DDR 1965/2005, Regie: Kurt Barthel): Als Dokumentensammlung des überlieferten Materials nach Chronologie des Regiedrehbuchs liegen die Aufnahmen zu diesem Film vor. Ihr besonderer, „werkstattmäßiger“ Reiz liegt allein schon in dem Umstand begründet, dass die Filmaufnahmen (entstanden zwischen dem 30.9. und 8.12.1965), mitunter in Doppelungen einzelner Szenen, auf den verschiedenen gedrehten Schnittvarianten beruhend, noch nicht dem obligaten DFA-Nachsynchronisationsverfahren unterworfen waren, weil die Produktion des Films bereits vorher unterbrochen wurde; so sind auf dem zum Teil mitlaufenden O-Ton immer wieder Regie-Anweisungen für die Kamera bzw. das Acting der Darsteller aus dem Off zu hören. Für DDR-Verhältnisse ist Fräulein Schmetterling ein phantastisch-träumerisches Unikat der DEFA-Produktion on location in der Hauptstadt der Republik, infolge des Kahlschlags „nach dem 11. Plenum des ZK der SED … auf politisch-ideologische Fehler geprüft und die Endfertigung verboten. Negative und Positive wurden im Staatlichen Filmarchiv der DDR eingelagert.“ (Vorspann des digitalisierten Materials)
Ein „junges Fräulein“, das erst achtzehn wird, steht mit seiner kleinen Schwester nach dem Tod des Vaters als Waise da, in der Ladenwohnung einer Tabakhandlung im übriggebliebenen Altbau vor daneben aufragenden Plattenneubauten. Teils karikaturenhaft gezeichnete Behördenvertreter kümmern sich („Also, Fräuleinchen, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?“), und schon beginnt das Fräulein, sich in Phantasien einer modernen, mondänen Hauptstadt zu ergehen, Helene Raupe entpuppt sich und hebt sich beflügelt in die Höhe. Überhaupt finden sich Kamerablicke von großer Erwartung, Vorstellungen vom großen Leben auf dem Boulevard, gegenüber das „Café Moskau“, so sieht man sie einem Mercedes 190 SL Cabrio entsteigend, in Modeläden, Super-Garderoben, oder in Anspielung von Jet Set am Airport auf der INTERFLUG-Flugzeugtreppe. Das Mädchen also als Luftmensch, erst in einer langen Pantomime-Darbietung im Zirkus stellen sich ihre Talente heraus, schließlich verteilt sie, gemeinsam mit dem weißen Pantomimen-Clown, Blumen im realen Berliner Stadtbild, und vom durchquerten Alexanderplatz geht das Bild in die Überschau eines weiten Platzes, kreisenden Verkehrs, auf eine großzügige, entspannte Metropole, licht und weit. Das wirkt wie eine offene städtische Bühne für ein zukünftiges Gemeinwesen.
Die Praxis indessen sieht anders aus. „Den Sinn des Lebens findet man durch ordentliche Arbeit“, das weiß die Frau von der Jugendbehörde. Da findet sich eine Stelle im Konsum, wo Helene als Fischverkäuferin angelernt werden soll, mitunter ist das als dokumentarisches Material aus der Markthalle aufgenommen, mit versteckter Kamera oder mit Laien, Passanten arrangiert. Der Film stellt den Unwillen der Verkäuferin bloß („Wo bleibe ich mit meiner Prämie…?“), die sich durch das Anlernen des Mädchens in der Arbeit beschränkt fühlt und attestiert: „Du bist zu fein für den Fisch“. Die nächsten Versuche im Arbeitsleben, im Modehaus an der Karl-Marx-Allee oder als Busschaffnerin, sind ähnlich erfolglos. Fünfzig Jahre später erscheinen manche Sequenzen wie Denkbilder der DDR: Eine Mitfahrt mit dem Gang des Mädchens im hellen, großgeblümten Sommerkleid verbindet Szenerien unbestimmter Stadtbrachen vor architektonischen Kontrasten des Alten und des Neuen, dann bewegt sie sich gleichsam durch eine Strukturfotografie aus dicht gestaffelt abgestellten Autos – eine Monokultur vom Typ Wartburg.
Eine ‚Poesie des Bruchs‘ geht aus dem Nebeneinander von Gefäßen einer alten Welt und den Lebensmodellen einer zukunftsadaptierten Gegenwart hervor. Die Gefühlswelt liegt zeitlich ein, zwei Generationen zurück, ihr Inneres scheint dort, in den Sphären der Vergangenheit, ‚behaust‘. Kinder spielen in den Straßen und Höfen, dass es einen an den proletarischen Film vor 1933 erinnern kann. Und immer wieder werden Menscheneindrücke im Stadtbild eingefangen, wird aus einer Addition von Momenten Einzelner ein Gesellschaftsbild hergestellt. Als Helene sich in einem modernen, hellen Hochhausapartment mit Balkon aufhält, zieht es sie gleich wieder zurück in die alte, vertraute Ladenwohnung. „Keine Dankbarkeit“ für das Angebot des Jugendamts, offenbar wird damit keine hinreichende Bedingung erfüllt für individuelles Glück.
Die Retrospektive umfasst rund zwanzig Spiel- und Dokumentarfilme aus Kino und Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Zudem werden mehr als dreißig kurze und mittellange Filme, wie sie für die Zeit typisch waren, in Filmprogrammen und als Vorfilme zu sehen sein.
Zur Retrospektive erscheint im Bertz + Fischer Verlag eine reich bebilderte Publikation in deutscher Sprache: Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West. Hrsg. von Connie Betz, Julia Pattis und Rainer Rother. Berlin 2016, 204 Seiten, 25 Euro
Erstmals ergänzt die Programmgalerie der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen die Retrospektive: In einer Sonderausstellung zeigt sie eine große Auswahl von TV-Sendungen aus dem Jahr 1966.
The Museum of Modern Art, New York, ist seit 2011 Partner der Retrospektive und präsentiert die Filme im April 2016