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Gloria (1980) – Gena Rowlands
"Gloria" (1980)

Gena Rowlands

Eine Frau mit Einfluss

| Marc Hairapetian |
Von der schönen Garderobiere zur schönen Rebellin: Zum 90. Geburtstag der US-Schauspielerin Gena Rowlands.

Oskar-Werner-Vernissage im niederösterreichischen Schloss Grafenegg an einem heißem Junitag des Jahres 1994: Eigentümer und Kulturförderer Franz-Albrecht Metternich-Sándor, in blaublütigen Kreisen auch als Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey bekannt, lässt es sich nicht nehmen, jeden der geladenen Gäste mit Handschlag zu begrüßen. Während die meisten Gäste nach der feierlichen Ansprache erst einmal im Schlosspark feiern, beugt sich eine mondäne Erscheinung mit wallendem Blondschopf über die Glasvitrinen. Bei der mit Schreibmaschine getippten und einigen handschriftlichen Bemerkungen versehenen Auflistung von 300 lukrativen Filmangeboten, die der „Unbestechliche“ aus „Verrat am künstlerischen Geschmack“ ablehnte, nimmt die trotz fortgerückten Alters immer noch auffallend schöne Frau endlich ihre Sonnenbrille ab. Das ist doch… Gena Rowlands, die sich wirklich jedes Detail der umfangreichen Sammlung aus dem Nachlass des Theatergotts, der ein Filmstar wurde, ansieht!

Darauf angesprochen, entgegnet die Queen des Hollywood-Independent-Kinos, lächelnd: “Oskar Werner war – abgesehen von meinem Mann John Cassavetes natürlich – mein absoluter Lieblingsfilmpartner. Wir haben zwar 1975 nur einmal zusammengespielt, aber Playback hat Peter Falk nicht umsonst als beste Columbo-Folge bezeichnet “, schwärmt sie auch noch Jahrzehnte nach den Dreharbeiten. „Peter meinte, wir könnten auch im wirklichen Leben ein wundervolles Ehepaar abgeben, wenn wir nicht schon anderweitig liiert gewesen wären. Wie im Film, wo er mich, die im Rollstuhl sitzend seine Frau Elizabeth mimen musste, zärtlich sein „kleines Mädchen“ nannte, war er auch im wirklichen Leben äußerst charmant und fürsorglich. Als genialer Geräte-Erfinder Harold Van Wick, der mit seinen teuren Spielereien wie den damals noch absolut neuen digitalen Armbanduhren die Firma Midas Electronics meiner Filmmutter Martha Scott in den Ruin treibt und diese, als sie ihm zum Rücktritt drängt, ermordet, wobei er ein scheinbar perfektes Alibi hat, hievte er die schauspielerische Qualität der ohnehin niveauvollen Serie noch einmal auf ein anderes Level. Einige Szenen baute er selbst ein, wie den übertriebenen Hofknicks vor Martha, indem er sich, nachdem sie ihm eine Standpauke gehalten hatte, die Form wahrend, dennoch über sie lustig machte. Auch in den Szenen, wo ich nicht dabei war, sah ich ihm zu. So kollegial er sich allen Cast-Mitgliedern, Regisseur Bernard L. Kowalski und dem Stab, vom Kameramann bis zum Botenjungen, gegenüber verhielt, so feindselig betrachtete er Produzent Everett Chambers, den er als „Wichtigtuer“ und „Störenfried“ empfand. Oskar wollte schon die Dreharbeiten hinwerfen, Peter bat ihn inständig, es nicht zu tun. Und so machte er zwar weiter, bestand aber darauf, dass Everett das Studio nicht mehr betreten durfte. Dieser beugte sich letztlich dem kompromisslosen Genie.“

Aufgrund dieser unvergesslichen Erfahrungen, die sie mit dem Golden-Globe-Gewinner (Bester Nebendarsteller 1966 für The Spy Who Came in from the Cold) und Oscar-Anwärter (Nominierung als Bester Hauptdarsteller für Ship of Fools, ebenfalls 1966) machte, hätte sie die weite Reise von Los Angeles zum 14 Kilometer östlich von Krems entfernt gelegenen „Märchenschloss“ gern auf sich genommen: „Oskar meinte bei einem Dinner zu mir, dass ich ihn ein wenig an Simone Signoret, mit der er in Ship of Fools so wundervoll zusammen agierte, erinnern würde, was ich als großes Kompliment auffasste.“ An dem Vergleich ist tatsächlich etwas dran: Schon äußerlich ähneln sich die französische Ausnahme-Darstellerin und ihr US-amerikanisches Pendant, obgleich die Schönheit der Signoret etwas herberen Ursprungs ist und Gena Rowlands mehr Liebreiz hat. Beide Aktricen wurden zuerst aufgrund ihrer verführerischen Ausstrahlung besetzt. Nie kamen sie „billig“ oder gar obszön herüber, selbst, wenn sie Prostituierte verkörperten. Im Gegenteil: Ihre Intelligenz macht sie sexy! Die Zwei haben immer über den Tellerrand des künstlerischen Geschehens hinausgeblickt, gesellschaftliche Zusammenhänge beziehungsweise Missstände erkannt und sich bereits emanzipiert, als dieser Begriff nur den wenigsten selbsternannten „Herren der Schöpfung“ im Filmgeschäft bekannt war.

Im weiteren Verlauf ihrer Karrieren scheuten sie sich bei allem Glamour nicht davor, auch Müdigkeit und Alterungsprozesse vor der Kamera transparent zu machen. Sie avancierten dabei zu reifen (Leinwand-) Rebellinnen: Signoret beispielsweise in Ship of Fools (1965), wo sie als drogenabhängige spanische Aristokratin aus Kuba ausgewiesen wird, weil sie Aufständische bei sich aufgenommen und mit Waffen versorgt hatte, Rowlands unter der Regie ihres Gatten John Cassavetes in Gloria (1980): In dem mit dem Goldenen Löwen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnete Action-Thriller „über die Allgegenwärtigkeit von Gewalt, der die Muster des Gangsterfilm-Genres ironisierend umkehrt und durch seinen märchenhaften Schluss auch die Traumwelt des Kinos akzeptiert.“ (Lexikon des Internationalen Films), spielt sie eine Frau in mittleren Jahren, die dem kriminellen Milieu New Yorks entstammt und mit ihren alten Freunden in Konflikt gerät, als sie einen Nachbarsjungen (John Adames) rettet, dessen Familie von der Mafia kaltblütig ermordet wird. Im Lauf der turbulenten und trotz permanenter ständiger Bedrohung auch wortwitzigen Handlung nimmt sie erst widerwillig, dann mit ganzem Herzen die Rolle der mütterlichen Freundin für den hyperaktiven Knirps an. Berechtigterweise erhielt sie 1981 für ihr nuancenreiches, zwischen Tatkraft, Abgebrühtheit und Empathie lavierendes Spiel eine zweite Oscar-Nominierung – nach 1975 für A Woman Under the Influence – als Beste Hauptdarstellerin. Nebenbei bemerkt hatte auch Simone Signoret zwei Oscar-Nominierungen vorzuweisen, wobei sie 1960 sogar für Room at the Top den begehrten Preis ergattern konnte, während Gena Rowlands bei acht Golden-Globe-Nominierungen diese Trophäe immerhin zweimal gewann: 1975 für A Woman Under the Influence, 1988 für The Betty Ford Story.

Bis Gena Rowlands’ überdurchschnittliches künstlerisches Talent in richtige Bahnen, will heißen: Filme, gelenkt wurde, dauerte es allerdings eine Weile. Die am 19. Juni 1930 in Madison, Wisconsin, als Virginia Cathryn Rowlands geborene Tochter des Bankiers Edwyn Myrwyn Rowlands und dessen Frau Mary Allen Neal (später unter dem Namen Lady Rowlands selbst als Schauspielerin auftretend), wuchs im gleichen US-Bundesstaat in Cambria auf. Aus dieser von Wäldern und Farmen geprägten Gegend im Mittleren Westen stammend, sollte sie Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in die Phalanx bedeutender männlicher Filmschaffender wie Spencer Tracy, Orson Welles, Nicholas Ray, Joseph Losey oder Fredric March einbrechen. Nach Aufenthalten in Minnesota und Washington, D. C., wo ihr Vater für drei Jahre in ein politisches Amt berufen wurde, kehrte sie mit ihrer wohlhabenden Familie nach Wisconsin zurück, wo sie die High School absolvierte und eine Zeit lang studierte, bis sie eine klassische Schauspielausbildung an der American Academy of Dramatic Arts in Manhattan absolvierte. Dort lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann John Cassavetes kennen. Ihr Bühnendebüt feierte sie, die alle Welt nur „Gena“ nannte, im Provincetown Playhouse in New York City, wo sie zuvor als Garderobenfrau gejobbt hatte. Bis Ende der 1950er Jahre spielte sie ausschließlich am Theater, unter anderem am Broadway in „The Seven Year Itch“, mit der sich im gleichnamigen Film von 1955 Marilyn Monroe endgültig als Ikone etablieren sollte. Ihr Leinwanddebüt als Vertragsschauspielerin der MGM gab Gena Rowlands 1958 in José Ferrers High Cost of Loving. Vier Jahre zuvor, am 9. April 1954, hatte sie Cassavetes geheiratet, in dessen Filmen sie nun häufig auftreten sollte. So auch in dessen Regie-Debüt Shadows (1959), der aus Cassavetes´ Workshop für arbeitslose Schauspieler mit viel Method Acting und Improvisation für nur 40.000 US-Dollar entstanden war. Die Geschichte von drei afroamerikanischen Geschwistern (Ben Carruthers, Lelia Goldoni und Hugh Hurd), die sich in der New Yorker Jazz- und Beatnik-Szene bewegen, wobei ihre Probleme mit Rassismus und Beziehungen gezeigt werden, kann man als Geburtsstunde des US-New-Wave-Kinos bezeichnen.

Zwei gemeinsamen Arbeiten von Gena und John für das Hollywood-System folgten: Die Stanley-Kramer-Produktion A Child Is Waiting (1962), in der sie die Mutter eines geistig zurück gebliebenen, zwölfjährigen Jungen spielt, der wiederum in einem von Burt Lancaster geleiteten Pflegeheim verkümmert, ist in künstlerischer Hinsicht seiner quasi dokumentarischen Poesie Too Late Blues (1961) vorzuziehen. Doch lieber drehte das Paar selbst finanzierte Independent-Filme. Das nötige „Kleingeld“ verdienten sie sich als Schauspieler für die „Traumfabrik“. Sie an der Seite von Kirk Douglas in dem ambitionierten Western-Abgesang Lonely Are the Brave (1962) oder dem Frank-Sinatra-Krimi Tony Rome (1967), er in Robert Aldrichs markigem Kriegsfilm-Klassiker The Dirty Dozen (1967) oder Roman Polanskis Horror-Meisterwerk Rosemary’s Baby (1968).

Unter Cassavetes’ Regie prägte Gena Rowlands fortan das Bild der wehrhaften Frau, die sich gegen eine von Männern dominierte, sie bedrängende Welt auflehnt. Faces (1968), Minnie and Moskowitz (1971) und vor allem A Woman Under the Influence analysieren Emotionen und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, die in konventionelleren Filmen selten bis gar nicht auftauchen. In letztgenanntem Drama überzeugt Gena Rowlands als überforderte, psychisch labile Frau von Peter Falk, mit dem sie darauf, wie eingangs geschildert, Columbo: Playback drehen sollte. Die über zweieinhalbstündigen, nervenaufreibenden Szenen einer Ehe, bei denen ihre Figur Mabel Longhetti nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik einen Suizid-Versuch unternimmt, haben einen latent positiven Schluss: Als Rowlands ihren Mann nach der Versöhnung fragt, ob er sie noch liebt, zögert dieser sehr lange und schlägt dann vor, den Tisch abzuräumen. Es ist im Wortsinn eine Familienproduktion: Genas Mutter Lady Rowlands wirkte ebenso mit wie ihre Schwiegermutter Katherine. Auch ihre drei Kinder Nick, Alexandra Katherine und Zoe R. Cassavetes sind später in die Fußstapfen der Eltern getreten.

Bei William Friedkins gelungener Heist-Komödie The Brink´s Job (1978) traf sie erneut auf Peter Falk. Für Opening Night, indem sie als alkoholkranker Schauspielstar sich und den Menschen in ihrer Umgebung das Leben schwer macht, vom Publikum aber trotz des Absturzes bei der Premiere ihres neuesten Theaterstücks frenetisch gefeiert wird, vollbrachte sie neben Gloria zwei Jahre später wohl die beste Leistung ihrer an Höhepunkten nicht gerade armen Laufbahn. Verdienter Lohn war der Silberne Bär bei der Berlinale 1978 als Beste Schauspielerin. Hier übernahm Regisseur und Drehbuchautor Cassavetes die zweite Hauptrolle. Insgesamt in zehn Filmen spielte das Paar zusammen, wobei ihnen die Bleioper Gli intoccabili (aka Machine Gun McCain, 1969) von Giuliano Montaldo besonders viel Spaß machte. 1985 konnte man sie in An Early Frost – einem der ersten Fernsehfilme zum Thema Aids – sehen.

Als John Cassavetes am 3. Februar 1989 im Alter von nur 59 Jahren an den Folgen einer Leberzirrhose verstarb, kämpfte Gena Rowlands tapfer dagegen an, in ein schwarzes Loch zu fallen. Vor allem mit Dreharbeiten – notgedrungen für andere Regisseure – betäubte sie Trauer und Schmerz. In Jim Jarmuschs Taxi-Episodenfilm Night on Earth (1991) machte sie als Casting-Agentin und Karrierefrau, die trotzdem Probleme hat, eine gewohnt gute Figur. Balsam für ihre Seele war die mit Generationsgegensätzen angereicherte Charakterstudie Unhook the Stars (1995), bei dem sie eine unsentimentale Witwe spielte und Sohn Nick ein Drehbuch seines verstorbenen Vaters verfilmte.

Film auf Film folgte, darunter 2005 mit The Skeleton Key auch ein Ausflug ins Horror-Genre. 2011 wirkte Gena Rowlands in Olive, dem ersten mit einem Smartphone gedrehten Spielfilm mit. 2012 heiratete sie – 82-jährig! – erneut: Mit dem Geschäftsmann Robert Forrest lebt sie in Los Angeles in dem Haus, dass sie zuvor mit John Cassavetes bewohnte und in dem auch ihr letzter gemeinsamer Film Love Streams (1984) zum Großteil gedreht wurde. 2015 verkündete sie nach einer letzten Hauptrolle in Six Dance Lessons in Six Weeks, wo sie sich als Rentnerin Privatunterricht von einem jungen Tanzlehrer geben lässt, sich in den Ruhestand zurückzuziehen. Zwei Jahre später sollte sie allerdings als Therapeutin in dem Kurzfilm Unfortunate Circumstances wieder im Scheinwerferlicht stehen. Auf E-Mails reagiert die Preisträgerin des Ehren-Oscars 2016, die zudem drei Emmys (1987 für The Betty Ford Story, 1992 für Face of a Stranger und 2003 für Hysterical Blindness) einheimsen konnte, sofort: „Mir geht es gut. Ich hoffe, dass wir alle die Corona-Krise unbeschadet überstehen, auch von der Psyche her.“ Diese Frau steht nicht mehr unter Einfluss – sie ist längst eine Frau mit Einfluss.