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Wiener Konzerthaus

Einfach klassisch

| Jörg Becker |
Der Konzerthaus-Abo-Zyklus „Film + Musik live“ 2022/23 bietet erneut feinste Stummfilm-Kunst mit erlesener Musikbegleitung. „ray“ ist auch diesmal als Medienpartner dabei.

Kalter Luftzug aus dem Jenseits
Schon früh, nämlich am 16. September, geht es los mit dem Zyklus. Seit einiger Zeit geistert ja der Plan des Regie-Shooting-Stars Robert Eggers durch die (Sozialen) Medien, seine eigene Version von „Nosferatu“ zu drehen, aber bis es so weit ist (und möglicherweise auch nachher), halten wir uns an den zeitlosen Klassiker Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von Friedrich Wilhelm Murnau, dessen Uraufführung – am 4. März 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens in Berlin – sich eben erst zum 100. Mal jährte. Die mediale Rezeption des Films, das ist bekannt, war gespalten, das Visionäre von Murnaus Entwurf scheint manchen zeitgenössischen Kritikern entgangen zu sein. Unumstritten, für das Horror-Kino ikonisch, zu Tode kopiert und dennoch nie erreicht ist die furchterregende Darstellung des Grafen Orlok durch den Schauspieler mit dem fast schon sprechenden Namen Max Schreck.

„Als Hutter die Brücke überschritten hatte, kam er in das Land der Phantome“: Den hanseatischen Maklergesandten verschlägt es im Schloss des Grafen Orlok in ein nächtliches Reich eines Blutsaugers. Der Vampir selbst ist auch als zweites Ich, die Nachtseite Hutters, gedeutet worden, der hier mit seinen sexuellen Obsessionen konfrontiert wird, von denen ihn einzig das Opfer seiner Frau erlösen kann. Nachdem Orlok per Schiff in die Hansestadt gekommen war, mit Särgen voll Muttererde, aus denen Heere von Ratten die Pest verbreiten, gibt sie sich dem Monster hin. Die offenkundige sexuelle Anziehung zwischen der Heldin Ellen und dem bösen Grafen ist für die damalige Zeit jedenfalls höchst bemerkenswert.

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Diese erste Verfilmung von Bram Stokers „Dracula“-Roman ist ein Plagiat, und man kann froh sein, dass der Film überhaupt noch erhalten ist, denn im Juli 1925 hatte ein Berliner Gericht infolge des Rechtsstreits der Stoker-Witwe gegen die Film-Produktion Prana die Vernichtung aller Negative und Positive angeordnet. Mitunter als „erster wahrer Horrorfilm“ bezeichnet – er weist Deutschland als einen Geburtsort des Horrorfilm-Genres aus, bevor Hollywoods Universal Studio es sich aneignete –, kam er vielen Zeitgenossen gar nicht so schrecklich vor, im Vergleich etwa mit dem Cabinet des Dr. Caligari oder Genuine (beide: Robert Wiene, 1920). Gegenüber der expressionistischen Dekorativität des Caligari hatte Murnau für Nosferatu die Welt der Studios verlassen und den Naturbildern vertraut – Naturbilder allerdings, „in denen ein kalter Luftzug aus dem Jenseits weht“ (Béla Balázs).

Die Musik zu der Vorführung am 16. September stammt von Michael Wollny, es ist eine Erstaufführung, die der Komponist auch am Klavier interpretiert, zusammen mit Christian Weber (Kontrabass) und Mitgliedern des Norwegian Wind Ensemble.

Aus der Rembrandt-Schule
Rabbinersohn Baruch (Ernst Deutsch) verlässt gegen den Willen seines Vaters sein galizisches Schtetl, um Schauspieler zu werden. Er schließt sich einem Wandertheater an und erregt den Gefallen der österreichischen Erzherzogin Theresia (Henny Porten), die ihm ein Engagement am Wiener Burgtheater verschafft. Als erfolgreicher Schauspieler wird er von seinem Vater (Avrom Morewski) verstoßen, doch als dieser schließlich eine Aufführung des „Don Carlos“ mit seinem Sohn besucht, verzeiht er ihm nach einer Aussprache, worauf Baruch nach Hause zurückkehrt und seine Jugendliebe Esther (Margarete Schlegel) in die Arme schließt. Ewald André Duponts Das alte Gesetz (1923) spielt in einer frühen Migrationsphase der Juden, die sich um 1860 aus Osteuropa Richtung österreich-ungarischer Hauptstadt auf den Weg machten. Hervorstechend sind die genauen Milieustudien des Wiener Ghettoviertels Mitte des 19. Jahrhunderts, der Johann Strauß’schen Walzerrhythmen und des Burgtheaters. Erstmals widmete sich Dupont (u. a. auch Variété, 1925, und Atlantic, 1929) einem jüdischen Thema; zehn Jahre später musste er selbst wegen seiner jüdischen Herkunft Richtung Hollywood fliehen.

„Das Zeitkostüm hat nichts mehr von einer Verkleidung“, so die Filmhistorikerin Lotte Eisner, „Daguerreotypien sind lebendig geworden; Krinolinen gleiten über das Parkett, schwingen über frische Rasenflächen. Der leuchtende Reichtum von sich wandelnden, verfließenden Impressionen entzückt das Auge. Und selbst in den ländlichen Ghetto-Szenen weiß Dupont mit unendlichem Feingefühl die dunklen Töne zu beleben, (…) Kontrast-Härten zu vermeiden. Das Verschwimmende einer Radierung aus der Rembrandt-Schule scheint auszuströmen.“ („Die dämonische Leinwand“, 1955)

Das alte Gesetz leistet einen Beitrag zu der damals geführten Debatte über die „Judenfrage“, der Film erscheint als Antwort auf die Wiederkehr eines gegen die Ostjuden gerichteten Antisemitismus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, indem er das schwierige Thema der Assimilation im Spiegel eines jüdisch-christlichen Liebespaares zeigt und ein an der Aufklärung orientiertes Modell der Wiener Gesellschaft der Mitte des 19. Jahrhunderts dagegensetzt, in dem beiden Gruppen ihre Identität zu bewahren möglich ist.

Das Konzerthaus zeigt den Film am 26. November. Philipp Schoellers Musik, auch diese eine Erstaufführung, wird vom Jewish Chamber Orchestra Munich unter dem Dirigenten Daniel Grossmann gespielt.

Bester Ausdruck des Imaginären
Von der „leibhaftigen Auferstehung eines Gespensts der Filmgeschichte“ (FAZ) war die Rede, als man 2010 die restaurierte Fassung von Metropolis sah, so, wie der Film seit dem Uraufführungsjahr 1927 nicht mehr zu sehen gewesen war. Fritz Langs Film aus den himmelsstürmenden Anfängen, gefeiert in seiner phantasmagorischen Omnipotenz als Gesamtkunstwerk, schien seinerzeit wie für eine Weltausstellung geschaffen und ist heute, neben der Gutenberg-Bibel und der Partitur von Beethovens siebenter Sinfonie, Bestandteil des UNESCO-Weltdokumentenerbes, als Gedächtnis des vergangenen 20. Jahrhunderts.

Wer diesen Monster-Film heute noch ansehen kann, ohne sich in analogtechnische Gestaltungsdetails zu verlieren, dem wird sich nach wie vor eine unheimliche Vision offenbaren. Dieses Kino des Unbewussten birgt Vorahnungen über die Epochen hinweg. In dem Vorbild maßgeblicher Science-Fiction-Filme der letzten Jahrzehnte wie Blade Runner (1982) oder The Fifth Element (1997) herrsche ein besonderer Konflikt zwischen einer ersten, industriell tragenden Generation der Maschinen, und einer zweiten – einer der Simulation, der Verführung, der Sexualität und der Revolution, so der Philosoph Boris Groys im Jahr 2000. Der Film ende mit dem Sieg der ersten, „der sich im Bündnis für Arbeit, d.h. im historischen Kompromiss zwischen der Arbeiterklasse auf der einen Seite und der kapitalistischen Ausbeuterklasse auf der anderen Seite manifestiert“. Dem Lang-Experten Bernard Eisenschitz ist Metropolis „bester Ausdruck des Imaginären in Deutschland während der ‚relativen Stabilität‘“.

Am 14. Jänner 2023 ist Fritz Langs Klassiker in der restaurierten Fassung von 2010 zu sehen; spektakulär wie der Film ist auch die Musik: Thierry Escaich hat sie komponiert und spielt sie auch selbst auf der Orgel des Konzerthauses.

Heldentaten aus Versehen
„The Great Locomotive Chase“ heißt die Erzählung, die dem achten langen Films Buster Keatons, The General (1926), zugrunde liegt und etwas Konkreteres von der Bewegung zu verstehen gibt, der dieser Film folgt, nämlich nicht nur der des Krieges, sondern vor allem der der Eisenbahn, da Keaton als Lokführer der Konföderierten Armee nützlicher erscheint denn als einfacher Soldat. Die Verlobte Annabel kündigt ihm ihre Liebe auf, doch bleibt ihm „The General“, seine Lok, die von den Unionstruppen geraubt wird, worauf er sich an die Verfolgung macht – ein Fluss von Gags läuft ab, in enormem, nicht nachlassendem Tempo. Im Lager der Nordstaaten entdeckt er auch Annabel, die annimmt, er sei nur ihretwegen hier, um sie zu befreien. In umgekehrter Richtung, verfolgt von den Yankees, bringt er sie hinter die eigenen Linien zurück, und die wie versehentlich vollbrachten Heldentaten – die Gnade des Augenblicks für den Komödianten: aus Versehen – wiederum bringen ihm das Leutnantspatent und dazu endgültig das Herz seiner Angebeteten. Taumelte er eben noch, gelingt ihm im nächsten Augenblick das Beste aus Versehen, so dass er nie ganz auf der Höhe ist, aber immer gerettet wird, ohne zu wissen, wieso. Ein Film aus kinematografischem Erfindungsgeist, Gags aus Einstellungen ebenso wie aus der Akrobatik Keatons; und stets gelingt ihm die Lösung von Problemen mit den unzureichenden Mitteln des Moments. Buster Keatons Komik, die aus Katastrophen hervorgeht, hier aus dem Krieg: In dieser künstlichen Filmform ist sie ein unschuldiger Witz über den Tod.

Am 6. Mai 2023 ist der Film zu sehen. Timothy Brock, der die Musik komponiert hat, dirigiert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Alle Vorführungen des Zyklus „Film + Musik Live“ finden im Großen Saal des Wiener Konzerthauses statt, Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr.

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