Der Punkt, an dem Spiele sich lediglich der filmischen Inszenierung bedienen, ist längst überschritten. Cutscenes werden immer cineastischer, die Bilder immer realistischer, sodass wir uns zunehmend in Richtung des spielbaren Films bewegen. Der medizinische Thriller „The Complex“ von Wales Interactive zeigt, wie solch ein Hybrid aussehen kann.
Ein Zelt, schwindende Ressourcen und der Kampf um zwei Leben. „The Complex“ wirft seine Spieler direkt zu Beginn in ein Szenario, das das Thema der nächsten knapp 75 Minuten überdeutlich macht: Entscheide überlegt – und das unter Zeitdruck!
Dr. Amy Tenant war in einem Krisengebiet stationiert und kümmerte sich um die Versorgung von Opfern chemischer Waffen. Inspiriert von dieser verstörenden Situation, verschrieb sie sich noch intensiver der helfenden Macht der Medizin. Von ihr entwickelte Nanozellen sollen das Gesundheitswesen revolutionieren. Doch diese formidable Zukunftsvision bekommt Risse, als Amy ein Notruf erreicht. In einer Londoner U-Bahn wurde eine blutspuckende Frau aufgegriffen. Von Terrorismus ist die Rede. Und sie ist ausgerechnet Praktikantin in der Firma, für die Amy die Nanozellen entwickelt…
Entscheidungen in Videospielen sind nichts Neues. Eingewoben in große Handlungen wie bei „The Witcher 3“ sind sie ein spannendes Element, um das Verhalten der Spieler zu messen und sie zum Nachdenken zu animieren. Sie lassen uns Kriminalfälle wie in „Heavy Rain“ lösen, das Leben eines Teenagers bestimmen wie in „Life Is Strange“, oder schlichtweg intensiver in Szenarien eintauchen wie bei den Titeln aus dem Hause Telltale. Nach dem Erfolg des Teenie-Horrors „Until Dawn“ im Jahr 2015 hat Publisher Bandai Namco dem Entscheidungsprinzip sogar eine ganze Anthologie gewidmet, deren zweiter Teil „Little Hope“ im Sommer 2020 erscheinen wird. Und auch der Filmindustrie blieb die Anziehungskraft dieses Mittels nicht verborgen. Ende 2018 veröffentlichte der Streaming-Riese Netflix mit Black Mirror – Bandersnatch seinen ersten interaktiven Film. Während die Handlung abläuft, kann der Zuschauer an bestimmten Punkten einspringen und den weiteren Verlauf beeinflussen. Der Weg für das spielbare Kino ist geebnet. Und Wales Interactive zeigt uns ein gelungenes Werk dieser Art.
Es ist sofort erkennbar, dass man es bei „The Complex“ mit einer hochwertigen Filmproduktion zu tun hat. Anders als große Studios, die ein Spiel mit Filmcharakter schaffen, geht man hier den umgekehrten Weg. Unter der Regie von Paul Raschid (Winterstoke House, White Chamber) spielen unter anderem Michelle Mylett (Letterkenney) als Dr. Amy Tenant, Kate Dickie, die 2006 mit Red Road international bekannt wurde und in jüngerer Zeit vor allem als Lysa Arryn aus Game of Thrones auffiel, als Firmenchefin Nathalie Kensington und Al Weaver als Dr. Rees Wakefield. Auch wenn er hierzulande nicht allzu bekannt ist, ist er Spielern bereits als Rex aus „Xenoblade Chronicles“ über den Weg gelaufen. Das Drehbuch schrieb Lynn Renee Maxcy. Nachdem sie u.a. bei Alphas und Covert Affairs mitwirkte, arbeitete sie 2018 an Episoden von The Handmaid’s Tale mit.
Dieses Ensemble ist eine Ansage – auch wenn Schauspieler in Videospielen ebenfalls nicht zu den Neuheiten gehören. Innovationspunkte gewinnt der Titel also nicht. Doch das braucht es auch gar nicht, um auf gelungene Weise eine Geschichte erlebbar zu machen. Das Prinzip ist einfach und intuitiv: An Ankerpunkten der Story wählt der Spieler zwischen zwei oder seltener drei Wegen. Soll die Patientin lieber mit der Drohne oder mit dem Rettungswagen befördert werden? Dabei konzentrieren sich die Handlungsmöglichkeiten durchweg auf Protagonistin Amy. Messbar werden die Entscheidungen durch eine Statistik, die das Verhältnis zu anderen Charakteren in Prozentpunkten deutlich macht. Am Ende eines Durchlaufs bündelt sich alles in einem von sechs Persönlichkeitstypen, vom Altruisten bis zum Neurotiker.
Die Spielelemente sind bis auf vereinzelte Sprünge zwischen den Szenen nahtlos in den filmischen Ablauf eingebunden. Das einzige qualitative Manko betrifft die Untertitel. „The Complex“ wird komplett mit englischer Sprachausgabe gespielt, was die Arbeit der Schauspieler unterstreicht. Deutsche Untertitel sind verfügbar, beherbergen allerdings neben einigen Rechtschreibfehlern auch Verständnisschwierigkeiten. So werden „Files“ über „Flies“ zu „Fliegen“ oder wir können den Lüftungsschacht „delikat“ oder „roh“ öffnen. Diese Entscheidung war aufgrund der Irritation unter Zeitdruck nicht ganz einfach zu treffen.
Mit einer Länge von knapp 75 Minuten ist „The Complex“ zeitlich eher am Film angesiedelt. Für einen Preis von 12,99 Euro ist das, basierend auf dem Spielerlebnis, durchaus in Ordnung. In dieser Zeit sind Spielspaß und Spannung gleichermaßen vertreten, und wer sich selbst als Entdecker sieht, wird Lust darauf haben, alle neun möglichen Enden zu erleben und verborgene Szenen zu erkunden. 196 sind es insgesamt. Das wird erleichtert, indem nach dem ersten Durchspielen alles überspringbar ist, was der Spieler bereits angesehen hat. Das Geschehen verändert sich dabei natürlich nicht weltbewegend – man handelt schließlich noch immer in einem festgesteckten Rahmen.
Einen Film zu spielen, bringt die Immersion einen Schritt weiter. „The Complex“ präsentiert sich als gelungenes Beispiel eines Spiel-Film-Hybrids. Und es wird spannend sein zu sehen, wie diese Entwicklung in Zukunft weitergeht.