Die dritte Ausgabe der gewichtigen, auf mehrere Bände angelegten Buchreihe „Film & Schrift“ aus dem Verlag text + kritik ist dem Publizisten Erwin Goelz gewidmet.
Seit Ende des vorigen Jahres geben die Publizisten der Deutschen Kinemathek in Berlin, Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen, eine Buchreihe unter dem Titel Film & Schrift heraus – und stehen erst am Anfang eines editorischen Großprojekts, das „Film-Schreiben“ unter dem Blickwinkel unterschiedlichster Autoren zusammenfasst und deren Leben zuordnet. Gegenstand sind minutiös erforschte Biografien von Kritikern, Feuilletonisten, Schriftstellern, Filmemachern und -autoren, die Kino, sei es ausschließlich oder unter anderem, als thematischen Anlass zum Schreiben genommen haben – mithin primär geschichtsschreibende Studien über Personen, gefolgt von einer sorgfältig edierten und kommentierten Textauswahl aus deren oft verstreut publiziertem Oeuvre. Hier werden die wichtigsten Texte gesammelt präsentiert und als Quelle zugänglich gemacht.
Die Herstellung biografischer Kontinuitäten unter wechselnden politischen Kräfte- und Marktverhältnissen und über historische Etappen hinweg ist zur Methode geworden, etwa im Blick auf die Entwicklung eines soziologisch und ideologiekritisch geschulten Kritikers zum Filmemacher (Band 1: Theodor Kotulla) oder in der Lebensbeschreibung eines maßgeblichen Filmredakteurs der ersten deutschen Republik, der zum Exil gezwungen wurde (Band 2: Ernst Jäger). Diese Herangehensweise zeigt sich auch im jüngsten Band der Reihe über Erwin Goelz / Frank Maraun (1903–1981), hier als Verfolgung des nationalistisch-pathetischen „Kunstbetrachters“ (die Funktion des „Kritikers“ war seit 1936 vom Goebbels-Ministerium verboten) aus der „Systemzeit“ der Weimarer Republik in die faschistische Ideologie des NS-Staates und anschließend über die Stunde Null hinweg in die Phase eines restaurativen Wiederaufbau. Auch nach 1945 füllt der Autor weiterhin – wenngleich unter dem wieder angenommenen Taufnamen – die Medien und vergisst seine deutschnationale Emphase vor 1945 beinahe selbst, bis sie Anfang der 60er Jahre von jungen Kollegen öffentlich gemacht wird, die „Maraun“ als Pseudonym von Goelz identifizieren. Die Doppelexistenz Goelz/Maraun, der Autor vor und nach der Kapitulation, wird nachträglich als deutsches Symptom sichtbar.
Das Überschreiten von Epochenschwellen scheint oft mit einem künstlerischen Neuanfang einherzugehen, das Einzelleben der Betrachter indessen ist nie voraussetzungslos. Filmgeschichte als Geschichte der Filme wird von den Herausgebern und Autoren dieser Reihe wie „mit quer liegenden Brettern“ eines Einzellebens überbrückt und von solch biografischer Brücke aus aufgefasst; so rücken wechselhafte Perspektive, bedingt durch Kindheit und Klasse, Karriere und Verwundungen, Kunstverstand und Weltanschauung, in den Blick und führen Lesarten und Haltungen zur Filmkunst vor.
Als Jahrgang 1903 war Erwin Goelz für das „Fronterlebnis“ im Ersten Weltkrieg noch zu jung; Mitte der Weimarer Republik aber begann er über Filme zu schreiben, die den „Mannestaten im Kriege“ ein „Denkmal unserer Leistungen“ setzten. Als Erlebnis nahm er Bilder des Krieges in sich auf, die national, später nationalsozialistisch, geprägt waren. Goelz’ Initiation ging von einem „Geschichtsbuch mit bewegten Bildern“ (Aurich) aus, in nationaler Perspektive, begeistert vom „echten Soldatentum“, aus schwärmerischem Abstand. Der Kritiker der Berliner Börsen-Zeitung (1855–1944) war ein Anhänger des Kulturfilms und der Wochenschau-Kompilation, besaß eine Vorliebe fürs Dokumentarische mit nationalem Pathos. Bürgerliche Urkonflikte des Dramas und alles Theaterhafte galten ihm als unzeitgemäß und veraltet, wenn Film als Medium der Bewegung galt, sollte er dort sein, wo diese stattfand und die Frontbewegung als eigentliches Ereignis begleiten („Die Kamera reißt den Zuschauer mitten in das Geschehen hinein. Sie fährt durch die Straßen einer eben eroberten Stadt – und man fährt mit, man ist dort.“ – Eine Frühform des embedded journalism kommt hier zum Ausdruck.) Maraun beschwor in programmatischen Aufsätzen seit Kriegsbeginn „die Gemeinschaft“ als den Helden des Films, die sich „in elementaren Räumen“ bewähre, und man spürt, dass hier die Lektüre Oswald Spenglers und des frühen Ernst Jünger sich ausgewirkt hat.
Frank Maraun war der Verfechter des Typischen. Jedes Individuelle galt ihm als nachgeordnet, das Einzelne war stets als Exemplar herauszustellen. Wie die Skulptur als Monument einer Epoche gilt, so dient jeder Gegenstand im NS-Kulturfilm der Verkörperung der Regel, des Allgemeinen, worunter der in die Nachwuchsrekrutierung aufgerückte Filmrezensent systemkonform den vorherrschenden Typus verstand. Das Atypische sah er als Ausnahme und hielt es gegenüber dem Stil einer Epoche für gegenstandslos. Für Maraun kennzeichnete dies einen „transzendentalen Realismus“ des Films: „Jedes Bild ist hier zugleich Abbild einer Wirklichkeit und Sinnbild einer Idee. Der Dokumentarfilm kann deshalb künstlerischen Rang nur erreichen, wenn er in der Wirklichkeit, die ihm als Objekt vorliegt, eine Idee sichtbar macht, die diese Wirklichkeit durchwaltet.“ (in: Der deutsche Film, 1940)
Nach Kriegsende vertraute der Filmkritiker seinem Tagebuch an, dass sein Leben verspätet, mit zirka vierzig Jahren begonnen habe. Anfang der 40er Jahre war er vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda zum Leiter des „Nachwuchswesens“ beim Reichsfilmintendanten berufen worden und befand sich plötzlich auf einflussreichem Posten, die Musterung zukünftiger Leinwandfiguren durchzuführen. Als er einmal einen Jagdflieger beim Besuch im Filmstudio begleitet, sieht er in ihm die Heldenfigur des zukünftigen Films. Aufstieg und Fall – unter diktatorischen Bedingungen geschieht das im Handumdrehen: Infolge einer Unstimmigkeit mit
Goebbels über einen Film (angeblich Der verzauberte Tag von Peter Pewas) wird er an die Front abkommandiert und verliert ein Bein. Die Nachkriegsjahre sehen ihn wieder als Freiberufler, entnazifiziert, tätig für Zeitung und Hörfunk, der sich mit nationalen Kinematografien auskannte. Das Kapitel „Deutschland“ allerdings ist für ihn abgeschlossen. In Auskoppelungen seiner allwöchentlichen Radiosendung, die dem Band als CD beigelegt sind, hört man ihn, Goelz, im Gespräch u. a. mit Max Ophüls, mit Käutner und dem jungen Alexander Kluge. Das Radiomanuskript ist als Textsorte in diesem Band besonders herausgestellt.
Der Band enthält auch einen Essay über Gottfried Benn zu dessen 50. Geburtstag, den Maraun 1936 unter dem Titel „Heroischer Nihilismus“ verfasst hatte, ein Text, der den Dichter geschickt gegenüber zunehmende NS-völkische Angriffe verteidigt. Der Geisteskontakt zu Gottfried Benn, jemandem, der „Felsen behaut“ und dem man keinen Ästhetizismus vorwerfen könne, hielt, seit Goelz/Maraun ihn 1925 in seiner Berliner Arztpraxis aufgesucht hatte, bis zu Benns Tod an.
Erwin Goelz. Filmkritiker. Mit Texten von Erwin Goelz alias Frank Maraun, Essays von Rolf Aurich und Herbert Spaich. Reihe: Film & Schrift – Band 3. Hg. von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen. edition text + kritik, München 2006, 288 S., 5 s/w Abb., mit Audio-CD,
70 Minuten. Ausgewählte Rundfunkbeiträge des Süddeutschen
Rundfunks, heute SWR, aus den Jahren 1950–1968. Der nächste,
bereits erschienene Band der Reihe ist der Feuilletonistin und Kritikerin Karena Niehoff gewidmet.