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Brandspuren

Ausstellung | Berlin, bis Mai 2020

Erzählen, was sonst nicht erzählt wird

| Jörg Becker |
Aus zeit-räumlicher Tiefe zutage befördert, werden Bilder und Akten aus den ersten 40 Jahren der Filmgeschichte, im zweiten Weltkrieg in einem Salzbergwerk unterirdisch abgelagert, wieder sichtbar gemacht. Mit der Ausstellung „Brandspuren“ der Deutschen Kinemathek gibt ein Filmarchiv Einblick in seine Arbeits- und Forschungszusammenhänge. Dazu der verantwortliche Filmhistoriker Rolf Aurich im Gespräch.

Unlesbares wird lesbar gemacht, Verborgenes sichtbar. Man könnte an die verkohlten Papyrusrollen der Antikenbibliothek von Herculaneum denken, 79 n. Chr. verschüttet vom Ausbruch des Vesuvs, 1752/54 bei archäologischen Ausgrabungen entdeckt und 1795/98 entrollt, durch Einsatz längerwelliger Lichtstrahlung soll nun ein zerstörungsfreier Blick auf deren Rückseitentexte möglich werden, so dass das Lehrbuch des Philosophen Philodemus inklusive Randbemerkungen neu gelesen werden kann. Die niedersächsische Gemeinde Grasleben indessen, nahe der ehemaligen Grenze zur DDR und oberhalb eines Salzbergwerks gelegen, scheint, im kleinen Maßstab, für einen schmalen Zeitabschnitt der Filmgeschichte, etwas Analoges zu bieten: um Archivmaterial des Reichsfilmarchivs während des zweiten Weltkriegs vor Bombardierung in Sicherheit zu bringen, lagerte man es dort 1944/45 ca. 500 Meter tief in einem Salzstock ein; im Nachkrieg fanden Entnahmen und Abtransporte statt, doch erst 1986 gelang es, Funde aus dem Archiv, Film zwischen den Kriegen betreffend, wieder ans Tageslicht zu befördern, ein willkürlich genommene Probe, unlängst restauriert, nun, nach ausgiebiger Recherche in Zusammenhänge versetzt, sichtbar.

War eine umgekippte Grubenlampe dafür verantwortlich, dass im Juni 1945 viele Filmmaterialien unter Tage zerstört wurden – im Salzbergwerk Grasleben, wo sie zusammen mit anderen Kulturgütern gegen Kriegseinwirkung geschützt werden sollten? Oder hatten bereits amerikanische Sonderkommandos Großteile des hier lagernden Reichsfilmarchivs konfisziert? Was bei aller Unklarheit bleibt, sind einige beschädigte Memorabilien, Filmplakate vor allem, aus dem Bestand dieses von den Nationalsozialisten begründeten Archivs. Sie befinden sich seit 1986 in Obhut der Deutschen Kinemathek, während unzählige Materialien weiterhin im Salz liegen. Von ihrer Geschichte erzählt diese Ausstellung. Dutzende geborgene Filmplakate aus den ersten 40 Jahren der Filmgeschichte wurden mittlerweile restauriert. Eine Auswahl steht im Mittelpunkt dieser Schau, die zeigt, welche Anstrengungen dem Vergessen entgegenwirken können.

„Angesichts der Funde hatten wir erstmal noch gar nichts verstanden“, erklärt der für die Konzeption verantwortliche Filmhistoriker Rolf Aurich, Experte für die Anfangszeit der Filmarchivierung (veröffentlichte 2013 Mosaikarbeit. Gerhard Lamprecht und die Welt der Filmarchive; dazu: „ray“-Magazin 5/2013: Ein totaler Filmmensch; ray-online 6/2013: Gerhard Lamprecht in 3-D). – Siehe Interview im Anhang.

Auf welchen Wegen das Reichsfilmarchiv, gegen Ende des Krieges zum Schutz vor Bombardierung aus der Hauptstadt ausgelagert, in den 500 Meter tiefen Stollen eines Bergwerks gelangte, dem sind die Konzeptionisten/Rechercheure dieser Ausstellung – Rolf Aurich, Georg Simbeni, Alexander Zöller – nachgegangen. Akribisch haben sie die Vorgeschichte jener Bild- und Textdokumente verfolgt, die bereits vor über 30 Jahren geborgen und, so wie man sie ausgegraben hatte, ins Archiv gebracht worden waren – nun bot sich die Gelegenheit, das fragile Material in Teilen, zeitlich wie topographisch, wiederherzustellen und zu erzählen.

Wege des Filmarchivs
In der Archivierung bildet sich sehr genau auch die politische Geschichte ihrer Bedingungen ab: war der Zweck des 1934 von den Nazis gegründeten Reichsfilmarchivs (RFA), das im Umfeld der auf „Gleichschaltung“, Ausgrenzung und quasi Berufsverbot der Branche ausgerichteten „Reichskulturkammer“ entstand, zunächst ganz profan, „Filme, die aus irgendwelchen Gründen ein besonderes Interesse erwecken“, zu sammeln, auch willkürlich Anschauungsmaterial für eine spätere Filmakademie anzuhäufen, richtete es sich bald auf die Verewigung von Bildwerken im Dienst der eigenen Strategie und der Lagerung während des Krieges erbeuteter und beschlagnahmter „Feindfilme“, zahlreiche in Deutschland nicht zugelassene, ungezeigte Filme (z.B. Casablanca), die von NS-Parteiprominenten bis hin zum Propagandaminister entliehen werden konnten. Aber auch Aufnahmen von Kameramännern deutscher Propagandakompanien sowie kriegswissenschaftliche Dokumente, etwa von Waffentests und -wirkungen, kamen in das Archiv. Nazi-Parteigenossen der ersten Stunde leiteten die Einrichtung, und es erstaunt, dass sie dennoch zu den Mitbegründern der heute noch existierenden Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF) gehörten (ein inoffizielles Dokument vereint u.a. die Unterschriften der Emigrantin Lotte H. Eisner und Henri Langlois von der Cinémathèque française und des nationalsozialistischen RFA-Leiters Frank Hensel). Ab 1943 begann man übergreifend, deutsche Archive an Ausweichstellen zu verlagern, aus dem Reichsfilmarchiv auch Wochenschau-Negative, Einlieferungslisten der gelagerten Dinge fanden sich nicht. Bereits im April 1945 soll der militärische Abwehrdienst der US-Truppen aus dem Graslebener Bergwerk Teile des gelagerten Filmarchivs abtransportiert haben, als Beweismaterial womöglich mit Blick auf die folgenden NS-Kriegsverbrecherprozesse.

Querschnitt durch das Alltagskino
Es ist Film-Reklame-Material, das der Lichtspiel-Zensurbehörde vorlag, in Form von Plakaten und Aushangfotos, ergänzt um dazugehörige Akten, die den Film und seine Werbe-Vorboten, seine ersten Visualisierungen im einzelnen Plakatmotiv als behördlichen Vorgang von deutsch-beamtiger Gründlichkeit dokumentieren, zudem die Sichtungsprotokolle der Film-Prüfstellen enthalten sowie deren Schriftverkehr mit den antragstellenden Verleihfirmen (Die Formulare dieser ‚Prüfanträge‘ wiesen, so der Kameramann Georg Simbeni, eine furchtbare Ähnlichkeit mit den Aufnahme-Antragsformularen zum KZ Mauthausen auf, die er beim Besuch des Mahnmals für Deportierte in Paris sah). Um welche Filme geht es da? Beileibe nicht um kulturelle Spitzenleistungen, ‚Perlen‘ der Filmkultur, filmästhetische Klasse, sondern um weitgehend Unbekanntes, was da vor über 30 Jahren, Zufall und Willkür überlassen, aus den Tiefen des Salzstocks aufgegriffen und zutage gefördert worden ist. Man liegt wahrscheinlich nicht falsch, dieses ‚Potpourri‘ als eine Art Querschnitt durch das populäre Alltagskino zwischen den Kriegen einzuschätzen. Überdies lässt sich der Kampf „zwischen den Verführungskünsten der Branche und den Überwachungskünsten der Zensur“ (Wolfgang Petzet, 1931), der Aspekt staatlichen Eingriffs nun anhand des Materials selbst beschreiben.

Werbestrategien und Gebrauchsgraphik
Der früheste Filmtitel der gefundenen Plakate, Das höchste Gesetz der Natur, auf 1916 datiert, wurde in dem Jahr vom Fachblatt „Licht-Bild-Bühne“ als „dramatisches Wildwestschauspiel“ annonciert, „an dem auch der wohlgesittete Europäer sein Gefallen findet“, erwähnt werden „original-mexikanische Aufnahmen“, über 500 Mitwirkende und „verwegene Reitereien“. Um den Textblock gruppierte Fotos auf dem Plakat führen durch die Handlung, dieses Arrangement von Einblicken in den Film qua Szenenfotos, „Klischeeplakat“ genannt, nimmt den Stil der erst aufkommenden Schaukastenfotos vorweg; Regie und Darsteller bleiben ungenannt; Selbiges gilt für den Titel Die am Wege sterben. Ein Männerschicksal (1918), dessen Plakat-Gebrauchsgraphiker durch seine Entwürfe zu dem späteren stilbildenden Klassiker des deutschen Expressionismus, Das Cabinet des Dr. Caligari-Film (1919/20), bekannt ist. Der Grünton des Plakatdrucks, Farbe des „Teufels Absinth“, weist voraus auf die Handlung. Als „dramatisch-grotesk-satirisch-humoristische Welttragödie“ in seinen Zuschreibungen in etwa so ausufernd wie die Währung der Nachkriegszeit inflationär, wird Der Streik der Diebe (1920/21) beworben, für den Schauspieler Alfred Abel, der Mann mit dem Grandseigneur-Image (z.B. in Fritz Langs Metropolis), als Protagonist wie auch als Regisseur fungierte; der Film belegt anschaulich, wie sehr die Arbeitsverweigerung einer „Besitz-Ausgleichs-Gesellschaft (B.A.G.)“ – einer Art Eigeninitiative in Sachen ‚Umverteilung‘ – das gesamte Gesellschaftsleben aus der Bahn zu werfen vermag.

Horrido! – ein im Stil des kleinbürgerlichen Wohnzimmerbildes gemalter röhrender Hirsch wirbt für die „wunderschönen Jagdbilder“, die jedoch, so der Kritiker der „Berliner Börsen Zeitung“ im April 1924, von der kitschigen Erzählung „eigentlich verballhornisiert“ würden. Die arglose „Posse“ unter dem Titel Kyritz – Pyritz (1931; Carl Heinz Wolff) – ein Männerausflug dreier Provinzler in die Hauptstadt, ohne dass sie wissen, dass ihre Frauen in derselben Pension abgestiegen sind, überdies gibt die Anwesenheit einer Reisegruppe aus dem pommerschen Pyritz (nach 1945: Pyrzyce) Anlass für verwechslungskomödiantisches Geschehen…- war durch zahlreiche Gesangseinlagen für die Tonfilm-Adaption geeignet; recht naturalistisch gehalten die Gruppe erhitzter Touristen vor dem Brandenburger Tor; namentlich genannt ist der Filmprüfstellenleiter, der die offizielle Zulassung des Films unterzeichnete. Schwänke, die bis heute im Repertoire von Komödienbühnen zu finden sind, so der 3-Akter von Arnold und Bach, Hurra – ein Junge (1931; Georg Jacoby), finden sich in comicartig absurden Konstellationen plakatiert. Ganz anders verbreiten Großporträt-Plakate ihrer weiblichen Stars Filme wie Yvonne (US-Orig.: Inspiration; Regie: Clarence Brown, 1931), einen Greta-Garbo-Film, bei dem Zweifel angebracht sind, ob der werbegraphische Schöpfer dieser zarten Rötel-Zeichnung überhaupt etwas von dem Film gesehen hatte; anscheinend war das Gesicht des internationalen Stars hinreichend für die Bewerbung dieser MGM-Produktion, in der, als „Roman eines Pariser Modells“ (nach Alphonse Daudet) beworben, mit Stock Footage gehörig Pariser Flair versprüht wird. Einer ähnlichen PR-Strategie vertraute man mit dem Farbporträt der blonden Camilla Horn, vor allem als Gretchen in F.W. Murnaus Faust-Filminszenierung (1926) für die Ufa berühmt, für den „Sängerfilm“ Ich sehne mich nach Dir (1934; Johannes Riemann), zu dessen Bewerbung sich auch die Zensurunterlagen fanden.

Kolossale Attraktionen
Die bislang wenig beleuchtete Präsenz ausländischer Produktionen in deutschen Spielstätten belegen Filme wie der von der Fox produzierte Siberia (US 1926; Victor Schwertzinger), das Plakat beglaubigt den Blick des Kritikers Willy Haas, dem das Ganze als „kolossale Zirkusattraktion“ erschienen war, zu sehen ist das Motiv einer dramatischen Flucht der beiden von Wölfen verfolgten Hauptfiguren im Pferdeschlitten durch Winterlandschaft, am Vorabend der Russischen Revolution. Für Katorga / Zuchthaus (SU 1928; Juli Raisman), Anfang 1929 im Programm des Mozartsaals am Berliner Nollendorfplatz, annoncierte das starke Gefängnisgittermotiv eine Handlung um politische Gefangene und deren Befreiungsversuch; die Mitarbeit des linkssozialistischen Dramatikers Ernst Toller an der deutschen Kinoversion wurde vom Verleiher, der Deutsch-Russischen Filmallianz (Derussa) nicht erwähnt, womöglich um jedem Verdacht politischer Agitation vorzubeugen. Für die Deutsche Universal gestaltet, zeigt ein Plakat zu der Komödie Atlantic City (Orig: The Cohens and the Kellys in Atlantic City, US 1929; William James Craft) vor blauem Himmel eine junge Frau in blaugelbem Badeanzug und aufreizender Pose, aus dem Hintergrund beäugt von zwei älteren Herren. Sie wird einen Schönheitswettbewerb gewinnen und rettet damit das Bade-Kleidungsgeschäft sowie das Familienleben ihrer Eltern. Kämpfende Raubkatzen füllen den Vordergrund des Plakates für Bring sie lebend heim (Bring ‚em Back Alive, US 1932, Clyde E. Elliott), der Verfilmung eines amerikanischen Wildtierjäger- und Expeditions-Bestsellers. „Der Welt grösster Raubtier-Sensations-Film“ durchlief einen längeren Begutachtungsprozess, wie die gefundenen Akten der Prüfstelle belegen: Auf Antrag des Preußischen Kultusministeriums wurde die Zulassung als Lehrfilm geändert, der Film gekürzt sowie für Jugendliche verboten aufgrund fehlender wissenschaftlicher Fundierung, unnötiger Grausamkeiten in der Darstellung und der offensichtlichen Gestelltheit der Kämpfe wilder Tiere; ein Sachverständiger des Zoologischen Museums der Universität Berlin wurde hinzugezogen. Die Reiter von Deutsch-Ostafrika (D 1934), teils an afrikanischen Originalschauplätzen gedreht, zeigt auf dem Plakat das Kilimandscharo-Massiv. Die Regiearbeit des 1942 während der Dreharbeiten zu Titanic denunzierten Regisseurs Herbert Selpin wurde unter Schirmherrschaft des Reichskolonialbundes produziert, so dass die Werbematerialien zur Wiederaufführung 1938 unter dem Motto stehen „Wir wollen unsere Kolonien“.

Die Repräsentation der Filmerzählungen ist von sehr unterschiedlicher Qualität und Stilistik; eine deutliche ästhetische Polarität wird erkennbar zwischen dem modern-urbanen Look einer Plakat-Graphik der Joe Deebs-Detektiv-Serienfolge der Joe-May-Film-GmbH: Die närrische Fabrik (D 1919) – Schornsteine der Schwerindustrie, Automobile, eine dunkle Gestalt vermitteln ein Divertimento aus Action, Comedy, Spannung, Dynamik und Geheimnis, aus dem als einziges Farbsignal, rot, der Name des Helden heraussticht – und andererseits den zwei aufgefundenen hochdramatisierten Filmbild-Illustrationen zu dem semidokumentarischen Film Man of Aran (dt. VT: Die Männer von Aran, US 1934) von Robert J. Flaherty über das Leben einer Familie von Fischern vor der Westküste Irlands: als Schlüsselszene die Ausfahrt zum Walfang, aus dem Blick der Angehörigen vom Ufer auf ein bemanntes, von wildem Wellengang jongliertes Boot, das klein, den Elementen überlassen in die Ferne, aus dem Bild strebt, und dann, in eindringlicher Körpertotale, die athletisch-kämpferische Haltung des einzelnen Fischers beim Harpunenwurf in die Tiefe.

Fehlstellen und Brandspuren
Die Plakatierung zu The Great Gabbo (US 1929, James Cruze; Autor: Ben Hecht), Erich von Stroheims erstem Tonfilm (Co-Regie), zeigt die Regielegende in der Titelrolle eines berühmten Variété-Künstlers mit seiner Sprechpuppe, diesem sich verselbstständigenden Medium, das er schließlich, und mit ihm seine gesamte Karriere, zerstört. Parallel zu The Great Gabbo im Berliner Ufa-Palast am Zoo – die deutsche „Besprechung“ (Synchronisation) bezeichnete Herbert Ihering damals als „barbarische Lösung“ – lief nebenan im Gloria-Palast am Kurfürstendamm Der blaue Engel (D 1929/30; Joseph von Sternberg). Die ebenfalls gefundene Zensurgenehmigung wurde von einem SPD-Regierungsrat gezeichnet, der 1933 wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ entlassen wurde und ab 1949 in der frühen Bundesrepublik bei der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) tätig war.

Ein Kurzfilm dokumentiert die Stadien der Restaurierung am Beispiel des Großporträt-Plakats zu dem französischen Film Mademoiselle Josette, ma femme (1933), ein typisches „Lustspiel“, in dem die 17-jährige Josette heiratet, um ein Erbe antreten zu können, doch dann entpuppt sich, wie zu erwarten, der zum Schein gewählte Ehemann als ihre große Liebe.

Die zerstörten Kanten an den Faltlinien der Plakate wären früher möglichst unauffällig ergänzt worden, nach heutiger Restaurierungspraxis werden die Fehlstellen und Brandspuren der Drucke, farblich etwas neutralisiert, sichtbar beibehalten, ohne dass sie in den Vordergrund treten – zu sehen, was noch erhalten und was verloren ist, jedes Relikt für sich bereits ein Mosaikgebilde, das im großen Mosaik dieser Ausstellung aufgeht.

Eine kurze filmische Ortsbegehung verbindet die zwei Ausstellungsteile, begleitet eine Expedition unter Tage, zu den Stätten der Lagerung – Extrakt aus einem Film von Heinrich Adolf über das Reichsfilmarchiv und was aus ihm wurde. Gegen Ende der Schau soll er fertiggestellt sein und aufgeführt werden.

Auf Fährten, die zu den Quellen führen

Jörg Becker: Die Ausstellung ist wirklich eine historische Erzählung davon, was Menschen mit dem Filmmaterial gemacht haben, wie sie es gelagert haben, es versteckt haben, um es zu schützen und zu überliefern – die politische Geschichte, der Krieg haben da eingegriffen – das verlangt von jemandem, der ins Filmmuseum kommt, ja eine Offenheit, einen historischen Blick gegenüber dem ganzen 20. Jahrhundert.
Rolf Aurich: Ja, es ist ein Unterschied, ob Du dich in eine Plakatausstellung begibst und die Exponate hängen dort, und die siehst Du dir an unter ästhetischen Aspekten, oder Du gehst in diese Ausstellung und hast eine Vorstellung, dass da Plakate auf Dich warten, die einmal zerstört waren oder lädiert, nun sind sie wieder hergestellt, so gut es ging, aber hier bekommst Du die Begründung, die Vorgeschichte. Das ist ja jetzt gewissermaßen der Endpunkt der Erzählung: dass die Plakate sich bei uns im Depot befinden, und warum sie sich in diesem Zustand befinden – das ist die Absicht der Ausstellungserzählung, und man kann es noch eine Stufe höher ansiedeln: Im Grunde genommen will ich zum ersten Mal erzählen, was sonst nicht erzählt wird… Es ist ja ein Zufall, dass man dies alles so weiß. Die Plakate sind eben Teil der Reklamezensur, die Anträge sind Teil der Reklamezensur, und die Entwürfe zu den Plakaten und alles, was man so gefunden hat – es gehört alles in einen Zusammenhang und in keinen anderen. Zu der Reklamezensur gehören eben all diese Dinge, und von denen sind in den glücklichen Fällen sowohl das Plakat als auch der Antrag auf Zensur enthalten, und da kann man beides zusammen zeigen. Eigentlich ist es sinnbildlich dafür, wie die tägliche Arbeit hier (d.i. in der Deutschen Kinemathek; JB) oft verläuft – dass man auf Dinge stößt, die man gar nicht versteht oder, noch anders, man stößt im Archiv auf etwas oder in einer anderen Institution, und diese Institution selbst weiß nicht, wie sie dazu gekommen ist.

J.B.: Das Material lässt ja keine Anzeichen erkennen dafür, wo es herkommt, man kann nur sagen, dass in der Zerstörung, und das taucht ja im Titel auf: anhand der „Brandspuren“ – man Indizien erkennen kann dafür, dass es über die Lagerung in Grasleben in die Welt zurückgekommen ist.

R.A.: Hier kommt noch was hinzu, aber ganz schwer zu vermitteln: dieser Komplex ‚Zensur‘. Der hält das ja eigentlich zusammen. Das bedeutet auch, dass man für die Forschung, die sich mit so einem Thema wie Zensur beschäftigt, urplötzlich neues Material hat, und zwar nicht nur neues, sondern auch zum ersten Mal, denn Filmzensur ist in Deutschland ‚quellenarm‘, also bis auf Zensurkarten gibt es lediglich ein paar Protokolle der Oberprüfstelle – ganze Vorgänge, dieses ganze Prozedere, was das bedeutete, ist unbekannt. Es gibt wenig Quellen dazu: dieser Alltag der Zensur, die Behörde, wer hat da gesessen, wie hießen die, woher kamen die, welche politische Richtung hatten die, nach welchen Grundprinzipien haben sie beobachtet, gesichtet, entschieden, welche gesellschaftlichen Gruppen waren dabei usw. – diese Fragen sind ja bei der Reklamezensur genau die gleichen. Du kannst jetzt im Grunde genommen mehr über bestimmte Fragen der Reklamezensur sagen als bei der Filmzensur. (…) Das müssen wir unbedingt vermitteln, dass plötzlich für die Filmzensur hier ein einzigartiger, wenn auch fragmentarischer, Bestand dazu existiert.

Unser Blick auf die Weimarer Filmkultur / Willkür und Zufall der Überlieferung
Die Filme spielen immer die erste Rolle, das ist schon völlig klar, aber der Blick auf die Vergangenheit differenziert sich ja immer mehr, wenn er auch sehr stark aus Wiederholungen besteht, die einen zum Gähnen langweilen. Aber jetzt warte ich im Grunde nur darauf, bis der Moment kommt, wo jemand sagt: Ich forsche jetzt mal zur Filmzensur. Das wäre dann für uns wichtig, weil wir da was bieten können. Für mich hat diese ‚Spitze des Eisbergs‘ der historischen Filme und dazugehörigen Materialien ganz viel mit Willkür zu tun, und das wiederum ist im Grunde das entscheidende Wort, wenn wir von Überlieferung sprechen im Filmbereich. Du kannst die Filme selbst nehmen, du kannst aber auch alles andere nehmen, vom Plakat, über die Zensurkarte, irgendwelche Drehbücher, alles das ist abhängig von unendlich vielen Zufällen, ob da etwas überlebt oder nicht, und deshalb haben wir ja weite Teile der Weimarer Film- und Kinokultur eben nicht vorliegen, die kennt man nur in Textform, als Filmkritik und ähnliches, aber wir haben ja das Gros der Filme nicht, und ich bin ganz sicher, wir liegen völlig schief bei Weimar mit unserem Blick auf diesen Zeitraum, denn der war nicht nur nicht von Meisterwerken angefüllt sondern auch von vielen ausländischen Filmen . Die werden ja überhaupt nie berücksichtigt, die aber mitunter viel größere Erfolge darstellten als die einheimischen Filme. Also das zusammenzusehen wäre wirklich mal an der Zeit, aber die Überlieferungslage ist eben unendlich schlecht und grade bei diesen Dingen, die von Individuen gesammelt wurden wie eben von Lamprecht (Berliner Filmregisseur und Sammler; siehe RAY 5/2013 „Ein totaler Filmmensch“) u.a., kann man von Glück sagen, sie zu haben. Da hat der Zufall, eine Willkür geherrscht. Die Einlagerung war absolut systematisch gedacht, um es zu schützen – dass das Nazis waren, lassen wir jetzt mal weg -, aber das Auffinden und das späte Bergen, das ist Willkür und Zufall – dass da 1986 jemand runtergefahren ist wie Werner Sudendorf (bis 2015 Sammlungsleiter der Deutschen Kinemathek Berlin; laufend Texte auf „newfilmkritik.de“) auf diesem Salz steht und fragt: ‚Wo ist denn das Material jetzt?‘ und dann heißt es: ‚Sie stehen drauf.‘ Und dann graben sie, irgendwo graben sie, und zwei Meter weiter kann was ganz anderes liegen.

Ordnung ins Chaos
Wir haben im Grunde mit der Ausstellung versucht, in das Chaos ein bisschen Ordnung zu bringen, also das Chaos, das auf dem Fußboden liegt, wenn man da unten ist oder etwas hochbringt, und dann hat man noch gar nichts verstanden. Das kann man jetzt hoffentlich etwas besser. Da hat niemand gleich etwas daraus gemacht, man hätte ja auch damals schon an eine Ausstellung denken können, dann wäre natürlich die Notwendigkeit der Restaurierung sofort auf dem Tisch gewesen. Das muss seltsam sein in solchen Häusern (einem Archiv wie der Kinemathek; JB), die arbeiten so mählich vor sich hin, da fällt es dann gar nicht weiter auf, dass auf einmal jemand mit einer kleinen Sensation nach Hause kommt.

Das sind alles tolle Ergänzungen zu unseren Beständen. Und wenn man sich diese ungefähr siebzig Filmtitel anschaut, dann handelt es sich ja weitgehend um unbekannte Filme, sowohl deutsche als auch nichtdeutsche. Bei einigen Titeln siehst Du ja auch an diesen Labels dann in der Ausstellung auch, dass wir Schwierigkeiten hatten, ein paar Daten zu recherchieren – 1916, 1917, 1918 – ganz schlechte Materiallage, da haben wir noch ein paar Fragezeichen, und die bleiben erstmal.

J.B.: Das Ganze erscheint wie ein Mosaik, das weitgehend aus weißen Flächen besteht, aber man kann etwas zusammenfügen und vielleicht andeuten, wie der Alltagsbetrieb des Kinos aussah…

R.A.: Das kann man dem jetzt entnehmen. In der Zeit selbst hat Filmzensur nicht eine Form von künstlerischem Urteil abgegeben, sondern reine Wirkungszensur ausgeübt: also wie wirkt es, was dort auf dem Plakat als Motiv zu entdecken ist, auf Jugendliche, auf Kinder, überhaupt auf Zuschauer, und daraus haben sie dann Ableitungen gemacht: „Nicht freigegeben“ oder „Freigegeben“ oder „Veränderungen sind erforderlich“ usw., das steht glaube ich auch im Gesetz (Reichslichtspielgesetz von 1920): diese Wirkungsweise, die galt es zu zensieren.

Ein deutsches Prozedere
J.B.: Gibt es denn jetzt unter den vorgestellten Plakaten zu den 22 Filmtiteln signifikante Zensurfälle? Verbote, Schnittauflagen …

R.A.: Was wir vorliegen haben, sind keine wirklichen Eingriffe, eher schon, und das finde ich wieder bezeichnend, wirst Du konfrontiert mit der Aufwändigkeit des Prüfverfahrens, was auch die Produzenten, die das Bildmaterial eingereicht haben, zu spüren bekommen haben. Die haben ja manchmal gar nicht verstanden, was sie vorlegen mussten. Da unten findest Du einen Briefwechsel zwischen einem Produzenten und einem Verleiher und der Filmprüfstelle, und der versteht schlichtweg nicht, was die von ihm wollen, also was er vorlegen muss. Und deswegen, glaube ich, scheitert das Ganze dann auch. Es ist so kompliziert und es hat auch einen bestimmten zeitlichen Ablauf, die Werbung, die Reklame konnte und musste eingereicht werden, bevor der Film zensiert wurde, andererseits war aber das Urteil über die Reklame erst gültig, wenn auch der Film zensiert war. Es gibt einen Fall, den ich gesehen habe, da hat jemand 40 Fotos eingereicht und zwei werden zensiert, die darf er dann einfach nicht mit verwenden und aushängen.