Jon Alpert, einer der größten Dokumentaristen seiner Generation, hat mit dem Langzeitprojekt „Life of Crime 1984–2020“ sein Lebenswerk geschaffen. Ein Gespräch über die Herangehensweise an seine Arbeit, seine Stärken, seine Schwächen und über den schwierigsten Film seines Lebens.
Für Sheila Nevins war Jon Alpert stets der Mann für alle Fälle. 38 Jahre lang, von 1979 bis 2018, leitete sie als Chefin die Dokumentarfilmabteilung von HBO, für die er so oft durchs Feuer ging. 1995 etwa beschrieb er den alltäglichen Horror auf der New Yorker Gefängnisinsel Rikers Island und produzierte im gleichen Jahr mit High on Crack Street: Lost Lives in Lowell eine der lange Zeit wichtigsten Reportagen über das Drogenproblem in den USA. Später ging er nach Bagdad, um den Irak-Krieg aus Sicht der verwundeten Soldaten in einem Militärkrankenhaus zu dokumentieren und versteckte sich in dem berühmten Nationalfriedhof Arlington in einem Baum, um die Hinterbliebenen bei ihrer Trauerarbeit zu beobachten. Im Jahre 2010 wurde er gemeinsam mit Matthew O’Neil für die Kurz-Dokumentation China’s Unnatural Disaster: The Tears of Sichuan Province für einen Oscar nominiert, und auch sonst war Jon Alpert stets dort unterwegs, wo es Kriege, Krisen oder Katastrophen gab. Nein, falsch: Er ist es bis heute.
Zwischendurch begleitete Alpert, der 1972, im Alter von 24 Jahren, gemeinsam mit seiner Frau das Downtown Community Television Center (DCTV) in New York gründete, seit Mitte der achtziger Jahre immer wieder eine Gruppe von drei jungen Kriminellen, die auf den Straßen von Newark, New Jersey, ihren Lebensunterhalt mit Einbrüchen und Ladendiebstahl bestritten, um ihren zunehmend ausufernden Drogenkonsum zu finanzieren. Der erste Film, One Year in a Life of Crime, aufgenommen mit einer Kamera, die er in seiner Jacke versteckte, wurde 1989 veröffentlicht – zwei weitere sollten folgen. Insgesamt 36 Jahre lang hat Alpert Freddie, Rob und Mike sowie Robs Ex-Freundin Deliris dabei gefilmt, wie sie zwischen Heroinspritzen, Knast und missbräuchlichen Beziehungen oszillieren, ohne jemals dauerhaft Fuß zu fassen oder aus der toxischen Spirale aus Drogen, Diebstahl und Gewalt auszubrechen, die ihr Leben bestimmte. Life of Crime 1984–2020, der dritte Teil dieser Reihe, der im vergangenen Herbst in Venedig gezeigt wurde, ist zugleich Zusammenfassung, Abschluss und Resümee dieses waghalsigen Unternehmens. Es ist Alperts Herzensprojekt, auch wenn es nicht immer einfach ist, den Bildern zu folgen, nicht einmal für ihn selbst. Denn so furchtlos und abgebrüht der gebürtige New Yorker beim Anblick seiner Filmografie erscheinen mag, Alpert ist ein Journalist und Dokumentarist, der die Dinge zeigt, wie sie sind, aber stets mit Verstand und Mitgefühl hinter der Kamera agiert.
Sechsunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Inwiefern hat die Arbeit an „Life of Crime“ Sie als Person und als Filmemacher beeinflusst?
Jon Alpert: Dokumentarfilme zu drehen, ist keine leichte Sache, und Zeit spielt dabei in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Zum einen braucht es Ausdauervermögen, um zu beobachten. Zum anderen muss man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein – und zwar da, wo etwas passiert. Ich bin kein Freund von Filmen, bei denen eine Person hübsch beleuchtet im Stuhl vor der Kamera sitzt und erzählt, was vor fünf Jahren passiert ist. Das ist nichts für mich. Obwohl es sehr gute, höchst informative Dokumentationen in dem Stil gibt, das will ich nicht abstreiten. Aber als Filmemacher interessiert mich das nicht. Mir geht es immer darum, den Menschen etwas zu zeigen, dass sie ohne mich nicht zu sehen bekommen würden. Das ist nicht immer angenehm oder ungefährlich, aber ich habe über die Jahre gelernt, Situationen in Sekundenschnelle einzuschätzen. Plötzlich ist da ein Kerl mit einer Pistole unterm Gürtel. Warum hat er die? Ich habe keine Ahnung. Und der Typ auf dem Rücksitz, was ist mit dem? Man ist ständig alarmiert, das Gehirn arbeitet, aber man darf sich in dem Moment natürlich nichts anmerken lassen, wenn man lebend aus der Situation herauskommen will. Und damit sind wir beim dritten Punkt: Leidenschaft. Man muss schon mit vollem Herzen dabei sein und immer daran glauben, dass der Film, den man gerade dreht, wirklich wichtig ist. Denn wenn man das nicht denkt, wenn man beispielsweise eine Langzeitdokumentation übers Schachspielen dreht, selbst aber nichts davon hält und auch die Spielregeln nicht versteht, dann sind 36 Jahre in der Tat eine verdammt lange Zeit.
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Warum, glauben Sie, haben Freddie, Rob und Mike sich dazu bereit erklärt, bei dem Projekt mitzumachen?
Jon Alpert: Es gibt einen Moment, der ist nicht im Film, wo ich Freddie genau diese Frage stelle: „Warum lasst ihr mich das hier machen?“ Und er sagt: „Na ja, ich möchte zwar nicht unbedingt, dass du uns filmst, aber es ist das einzig Konstruktive, das ich jemals in meinem Leben getan habe. Und ich weiß, dass es Menschen gibt, denen es helfen wird, das zu sehen, was hier passiert.“ Er glaubte wirklich fest daran, und das war ein wichtiger Faktor für unsere lange Zusammenarbeit.
Wir muss man sich das vorstellen, als Sie 1984 mit dem Filmen begonnen haben?
Jon Alpert: Damals gab eine keine Mobiltelefone. Es war nicht einfach, in Kontakt zu bleiben. Also sind wir einfach jeden Tag mit der Kamera aufgetaucht. Aber man muss natürlich aufpassen. Sie als Journalistin wissen ja selbst: Wenn man zu viele Fragen stellt, ziehen sich die Menschen schnell zurück. Man muss kalkulieren können. Und manchmal heißt das schlicht, zu verschwinden. Damals in den Achtzigern war ich überall auf der Welt unterwegs. Wenn irgendwo ein Krieg ausbrach oder eine Katastrophe passierte, war ich dabei, nicht selten mit meiner Tochter unter dem Arm, weil mir mein Job damals über alles ging. Aber was ich sagen will, ist, dass ich bei meiner Rückkehr immer auch ein Stück meiner Welt mit nach New Jersey gebracht habe. Ich habe die Jungs mit etwas in Verbindung gebracht, dass sie sonst nie gesehen hätten und sie haben mir dafür Zugang in ihr Leben gewährt. Und solange die Beziehung auf gegenseitigem Respekt beruht, kann man als Dokumentarfilmer ziemlich weit kommen.
Sind Sie nie an den Punkt geraten, wo Sie sich dachten: Schluss jetzt, das geht zu weit, das können wir nicht zeigen?
Jon Alpert: Solche Momente gab es. Momente, in denen wir in die Realität eingriffen, wenn sie zum Beispiel kurz davorstanden, ein schweres Verbrechen zu begehen oder einem anderen Menschen Gewalt anzutun. So wie in dem Augenblick, als Mike seine Freundin schlägt. Wir waren schockiert, weil wir keine Ahnung hatten, was da passiert. Und was man im Film nicht sieht, ist, dass wir im nächsten Augenblick die Kamera abschalteten und ihn daran hinderten, weiterzumachen. In einer anderen Situation wollten Rob und Freddy einen Jungen mit dem Auto überfahren, um seinen Ghetto-Blaster zu stehlen. Da habe ich ihnen das Auto weggenommen. Wenn ich sie einfach hätte machen lassen, um das Material zu haben, wäre das eigennützig und unverantwortlich gewesen, ganz abgesehen davon, dass es den Fokus des Films verschoben hätte. Deshalb haben wir beim Drehen und später im Schnitt weitgehend auf Szenen dieser Art verzichtet.
Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, das Projekt komplett abzubrechen?
Jon Alpert: Ich habe den Film an einer Stelle gestoppt, weil ich das Gefühl hatte, wir würden dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählen. Ich wollte den Zuschauern die Sache nicht zu oft aufs Brot schmieren. Das war, nachdem Freddy und Rob gestorben waren – eine sehr deprimierende Phase. Ich hatte genug von allem und dachte, es gäbe andere Sachen, mit denen ich meine Zeit besser verbringen könnte. Aber dann klingelte das Telefon, und Deliris war am Apparat. Ich konnte es erst nicht glauben, denn ich war davon überzeugt, dass es auch sie nicht mehr gab. Aber dann sagte sie: „John, ich kenne deine Tochter. Ich weiß, wie dein Hund heißt. Ich bin’s, Deliris. Ich bin nicht tot, sondern seit vier Jahren drogenfrei. Und ich möchte, dass du mit deiner Kamera kommst und mich jetzt filmst. Ich will, dass die Menschen, die mich damals ausgezählt am Boden gesehen haben, auch die Deliris von heute sehen. Ich will, dass sie meine gute Seite sehen.“ Also haben wir das Projekt neu gestartet.
Deliris sagt einen wichtigen Satz im Film, der auf das anspielt, was Sie eben erwähnt haben, nämlich dass sich immer alles wiederholt: die Spritzen, die häusliche Gewalt, die Prostitution. Es hört nicht auf.
Jon Alpert: Es hört nicht auf. Sechsunddreißig Jahre lang haben wir gefilmt, und es sterben heute in Amerika mehr Menschen an Drogen als je zuvor in der Geschichte des Landes. Wir haben nichts gelernt. Wir ignorieren das Problem, und es schnürt uns die Luft ab. So unbequem es ist, sich die Bilder anzusehen. Und egal, wie emotional anstrengend es sein mag, aber die Leute müssen endlich hinschauen, weil: Das ist die Realität.
Wir würden Sie als Filmemacher Ihren Blickwinkel beschreiben?
Jon Alpert: Ich glaube, als Dokumentarfilmer muss man es sich zur Aufgabe machen, stets so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Wenn man das tut, gibt es bestimmte Regeln zu beachten. Das heißt aber nicht, dass es nur eine Art des Filmemachens gibt. Es gibt viele Stile und Möglichkeiten. Und ich habe bestimmte Fähigkeiten, die mir bei meiner Arbeit behilflich sind, ebenso wie es Bereiche gibt, in denen ich ein hoffnungsloser Fall bin. Ich denke da etwa an eine Regisseurin wie Chloé Zhao, die ein großes Talent dafür besitzt, das Intime mit dem Universellen zu verbinden. So wie sie ihre Figuren mit der Landschaft und gesellschaftlichen Umgebung in Beziehung setzt, in der sie leben, das ist schon unglaublich. Und diese Verschränkung von Innen und Außen, das kann ich gar nicht gut. Aber wenn es darum geht, die Zuschauer an einen Ort mitzunehmen, den sie ohne mich nie zu sehen bekommen würden, oder ich ihnen Menschen vorstelle, denen sie sonst niemals begegnen würden, da kann mir so schnell keiner etwas vormachen. Dafür bin ich der richtige Mann.
Wie viel Material hatten Sie am Ende zusammengetragen?
Jon Alpert: So um die 400 Stunden auf verschiedensten Formaten. Es war also nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch eine Herausforderung, den Film zusammenzustellen. Damals in den Achtzigern, als wir mit dem Filmen begonnen haben, war die Technik eher unser Feind als eine Hilfe.
Wie ist trotzdem ein stimmiger Film daraus geworden?
Jon Alpert: Regel Nummer eins: kein künstliches Licht. Außerdem: beim Filmen stets den Augenkontakt halten, das ist extrem wichtig. Als es endlich schnurlose Mikros gab, die funktionierten, haben wir darauf umgestellt. Aber das sind alles Feinheiten. Worauf es vor allem ankommt, ist, dass man beinahe schwerelos durch die Szene gleitet. Das ist wie beim Tanzen. Wenn ich hier direkt vor Ihren Augen von rechts nach links laufen würde, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich über meine eigenen Beine stolpere. Aber mit der Kamera in der Hand bewege ich mich wie ein Balletttänzer, dann bin ich Fred Astaire. Plötzlich wird der Boden unter einem ganz weich. Das ist schon toll.
Es gibt unzählige Filme und Fernsehformate, in denen ähnliche Szenen nachgestellt sind, wie Sie sie in „Life of Crime“ zeigen. Worin liegt die Faszination?
Jon Alpert: Ich verstehe es auch nicht. Jeder, der diese Bilder einmal real vor sich gesehen hat, kann da nur mit dem Kopf schütteln. Aber es ist schon erstaunlich, wie beliebt unsere Life of Crime-Filme bei Regisseuren und Drehbuchautoren sind, die sich damit für ihre eigenen Stoffe inspirieren lassen. Weil sie selbst nicht so nah an die Kriminellen herankommen, die sie in ihren Filmen zeigen wollen, schauen sie sich das Ganze bei uns ab. Es gibt auch Schauspieler, die anhand unserer Filme die Sprache studieren. Erst neulich habe ich die Szene, in der Rob mit dem Huhn hereinkommt, quasi Wort für Wort in der israelischen Netflix-Serie Fauda über das Leben von Spezialagenten, die Terroristen jagen, gesehen.
Sie haben Ihre Kamera Ihr ganzes Leben lang auf andere Menschen gerichtet. Wie würde ein Film aussehen, bei dem Sie im Mittelpunkt stehen?
Jon Alpert: Interessant, dass Sie das ansprechen. Es gab tatsächlich einen Punkt, da habe ich befürchtet, dass, wenn ich immer nur andere Menschen filme und nie mich selbst, es irgendwie unehrlich wirken könnte. Einige Zeit später wurde mein Vater sehr krank, was unsere ganze Familie komplett aus dem Gleichgewicht brachte. Aber wir sind natürlich kein Einzelfall. Jeder von uns muss damit umgehen, dass die eigenen Eltern irgendwann alt werden. Also dachte ich mir, vielleicht können wir anderen Menschen damit helfen, ihnen zu zeigen, wie das bei uns war. Daraufhin habe ich ein Familientreffen einberufen und alle um ihre Zustimmung gebeten, filmen zu dürfen. Es war der schwierigste Film, den ich je gedreht habe.
Sehen Sie sich heute immer noch eher als Journalist oder als Filmemacher? Was kommt zuerst?
Jon Alpert: Als ich noch als Journalist fürs Fernsehen gearbeitet und Nachrichtenbeiträge gedreht habe, war ich richtig gut. Wahrscheinlich besser als jetzt als Filmemacher. Damals gab es keinen Ort, an den ich nicht als Erster gelangt wäre, oder fast keinen. Und ich habe es geschafft, immer wieder lebend herauszukommen. Diesen Job für NBC hätte ich gerne weiter gemacht, weil ich das Gefühl hatte, mit meiner Arbeit tatsächlich etwas erreichen zu können, einerseits die Menschen zu informieren, aber auch die amerikanische Außenpolitik zu beeinflussen, die zu dem Zeitpunkt eine einzige Katastrophe war. Aber dann wurde ich wegen meiner kontroversen Beiträge auf die Schwarze Liste gesetzt, weil man es in meinem Land nicht gerne gesehen hat, dass ich gezeigt habe, wie die Regierung Lügen über den Golfkrieg verbreitete. In Italien wurde ich für meine Reportagen vom Golf mit dem Friedenspreis ausgezeichnet, aber in Amerika hatte ich keine Arbeit mehr.
War das die Zeit, in der man bei HBO auf Sie aufmerksam wurde?
Jon Alpert: Ja, da stand die Abteilung noch ganz am Anfang. Sie haben sich gedacht: Der Typ ist so schräg drauf, dass keiner mehr mit ihm arbeiten will. Dann ist er für uns genau der Richtige. Sie gaben mir eine Chance. Und ich musste komplett umlernen, weil dort eine andere Art des dokumentarischen Erzählens gefragt war. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis ich den Dreh richtig raushatte und mir die Resultate gefielen. Dann wurde ich wieder auf die Schwarze Liste gesetzt.
Denken Sie, dass der Journalismus, insbesondere diese Art Filmjournalismus, die Sie betreiben, zunehmend in Gefahr ist?
Jon Alpert: Ja.
Denken Sie, dass Sie sich selbst in Gefahr befinden?
Jon Alpert: Sagen wir es so: In einem anderen Land wäre ich längst tot. In Amerika setzen sie dich auf die Schwarze Liste, durchforsten deine Steuererklärung, was weiß ich. Und sie senden Spione. Sie glauben gar nicht, wie viele Spione wir in unserer Organisation entlarvt haben. Alle habe ich sicher nicht erwischt, aber doch einige. Töten wollte mich davon keiner. Es gibt Staaten, da wäre das anders.
Was bedeutet das für den Zustand des Journalismus heute?
Jon Alpert: Wir führen einen noblen Kampf. Und wir alle wissen, wenn wir aufhören, unsere Arbeit zu tun, wird es der Welt nur noch schlechter gehen. Es ist mir egal, was die Leute über mich sagen. Damit muss man umgehen können. Wichtiger ist es, dass es eine Gemeinschaft zwischen den investigativen Journalisten auf der ganzen Welt gibt, das sie einander helfen, Informationen teilen. Irgendwie müssen wir uns schützen, denn die Bösen mögen uns nicht. Und die, die mich nicht mögen, gegen die will ich gewinnen. Als Junge spielte ich beim Football und beim Hockey auch immer in der Offensive. Ich war schon immer ein Mann der Tat und nicht unbedingt der Geschickteste. Das gilt auch für meine Art des Filmemachens. Ich kann sicher nicht die eleganteste Kameraarbeit abliefern, aber ich kann zeigen, wie es ist – egal wo, egal was. Und darum geht es doch letztlich.