Raymond Chandlers Roman „The Lady in the Lake“ erscheint in einer Neuübersetzung. Dazu: die Erinnerung an einen Film noir der etwas anderen Art.
Ist Crystal Kingsley wirklich mit ihrem Liebhaber nach Mexiko durchgebrannt, wie in ihrem Telegramm angekündigt? Um seinen Ruf zu schützen, beauftragt ihr Ehemann Privatdetektiv Philip Marlowe mit der Suche nach ihr. Fern von seinem Stammgebiet Los Angeles findet Marlowe sich daraufhin an einem Bergsee wieder, entdeckt dann auch noch eine Wasserleiche. In der Folge bekommt er es mit mehreren Frauen zu tun, und die Suche gerät kompliziert. Der Ferienort wird zur Horroridylle, wo Marlowe, zeitweilig der „Ein-Mord-am-Tag-Marlowe“, sich mit einem alten Deputy Sheriff gut versteht. Der Showdown in einer von unheimlichen Motiven getriebenen Welt, bedroht von korrupten, gewalttätigen Cops, lässt nicht lange auf sich warten.
Hidden Identity Case
Die Ehefrau eines Geschäftsmannes ist verschwunden – der Fall für Philip Marlowe scheint zunächst wie ein klassisches Setting eines Privatdetektivs. Man sieht sich mit einem Geflecht aus Personen und Erzählsträngen konfrontiert, das erst allmählich über eine gehörige Konzentrationsakrobatik sich entwirrt und an die Konfusion erinnert, die einen schon bei der Story „The Big Sleep“ hinderte, durchzublicken (dem Roman, mit dem Chandler 1939 seine Philip Marlowe-Figur einführte; später von Howard Hawks verfilmt, der selbst beim Autor Chandler nachfragen musste).
Auf ungewohntem Terrain, am kleinen Bergsee, Little Fawn Lake, fern von L.A., wo der Auftraggeber eine Blockhütte besitzt, wird eine Wasserleiche gefunden, ein grauenvolles, gesichtsloses Etwas, das nicht so leicht zu identifizieren ist, wie die Zusammenhänge es nahelegen würden. Die scheinbar konventionelle detektivische Recherche wird verwirrend durch die fließenden Identitäten seiner weiblichen Figuren, Marlowe stößt auf fünf Frauennamen ohne sichere Zuschreibung, sieht sich in einen „hidden identity case“ verwickelt, in dem vor allem das „Who-is-who“ zu klären ist. Die Bergsee-Lady, mit welcher Chandler einen intertextuellen Bezug zur Sagenwelt des Königs Artur herstellt, tritt als Wassergeist, eine magische Gestalt in Erscheinung – nicht fassbar, passend zu den schwankenden Identitäten der Erzählung. Damit unterläuft der Autor alle Erwartungen an einen Detektivroman, nach welchem Aufträge wie Rechenaufgaben lösbar sein könnten.
„Sitze über der Arbeit an einem Film-Treatment der ‚Lady in the Lake‘… Das letztemal, dass ich aus einem Buch ein Drehbuch mache. Ist doch nur Wühlerei in alten Knochen.“ (Chandler, 18. August 1945) Die Filmadaptionen von Chandlers Romanen “Farewell My Lovely”, The Falcon Takes Over (Irving Reis, 1941) sowie von “High Window” – Time to Kill (Herbert I. Leeds, 1942), auch in einer weiteren Version unter dem Titel The Brasher Doubloon (John Brahm, 1947) – blieben ohne Mitwirkung des Autors, die Verfilmung von „The Lady in the Lake“ dagegen suchte Chandler tunlichst mitzubestimmen, woraufhin Paramount Pictures ihm erlaubte, für MGM zu arbeiten, die ihm für die Rechte an „The Lady in the Lake“ 35.000 $ zahlte.
Romantic Happy Ending
Doch uninspiriert und vom Zeitdruck zermürbt, brachte er innerhalb der Frist das Drehbuch nicht zustande, so dass ein routinierter „Black-Mask“-Autor, Steve Fisher, es schließlich fertigstellte, nur leider auf eine Weise, dass Chandler auf keinen Fall im Vorspann genannt werden wollte. Mit seinen Verdrehungen des Originals, Verkitschungen der Handlung und dem mit Noir schwer zu vereinbarenden verharmlosenden Finale, einem „romantic happy ending“, erinnert es kaum an den Autor. Die Änderungen betrafen insbesondere die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander: neu war das „love interest“ der Marlowe-Figur für die gegenüber dem Roman erheblich aufgewertete Adrienne Fromsett, die mit mehr Energie, Mut und Durchsetzungskraft ausgestattet war als in der Vorlage – „a frigid but sexually promising career woman“ (Charles Gregory). Der Film ging in die Filmgeschichte ein aufgrund seiner beinahe die ganze Story über durchgehaltenen subjektiven Kamera – Privatdetektiv Philip Marlowe als Kamera-Erzähler tritt, außer in wenigen Spiegelungen innerhalb des Szenenbilds sowie in der Kussszene am Ende (die auf Verlangen des Publikums angefügt worden sei, so Stephen Pendo), nicht in Erscheinung.
Die Subjektive
„Die Kamera-Auge-Technik in The Lady in the Lake ist in Hollywood ein uralter Hut“ schrieb Chandler (16. April 1949). „Jeder junge Schriftsteller oder Regisseur hat sich daran versuchen wollen. ‚Machen wir doch aus der Kamera eine Handlungsfigur‘ – der Satz ist praktisch an jedem Mittagstisch in Hollywood irgendwann schon einmal gefallen. Ich habe einen Burschen gekannt, der wollte die Kamera zum Mörder machen [mag könnte an Peeping Tom, UK 1960, von Powell und Pressburger denken; Anm.], was aber ohne einen Riesenbetrug nicht funktionieren würde. Die Kamera ist dafür zu ehrlich.“ Trotz der Ambivalenzen in der Beurteilung durch die Kritiken, die sich vor allem mit dem Verfahren der subjektiven Kamera auseinandersetzten, sowie des Publikums, das in Teilen von den als unnatürlich empfundenen Blickwinkeln und dem Mangel einer präsenten Hauptfigur irritiert war, stand dieses formale Experiment mit recht beschränkter Regieführung einem Publikumserfolg nicht im Weg, so dass die Herstellungskosten (drei Millionen Dollar) binnen weniger Monate eingespielt waren.
Die Subjektive, wie sie in The Lady in the Lake durchgehend die Kameraführung bestimmte, hat bis heute immer wieder auf den Kosmos des Film Noir angespielt, etwa in The Black Dahlia (Brian DePalma, 2006), dem Beginn des von James Ellroy auf der Basis eines authentischen Falls geschriebenen „L.A. Quartett“, dem ersten Teil der Tetralogie über das Hollywood der vierziger und fünfziger Jahre. Die Szene, in der Polizist und Amateurboxer „Bucky“ Bleichert (Josh Hartnett) von Madeleine Linscott (Hilary Swank) in ihr Elternhaus, eine der einflussreichsten Familien von L.A. eingeführt wird, ist komplett aus der subjektiven Perspektive gedreht und scheint auch den Noir-Film Dark Passage (Delmer Daves, 1947) in dessen Anfangsteil zu zitieren, bis zur gelungenen plastischen Chirurgie, als deren Resultat das Gesicht Humphrey Bogarts aus den Verbänden herausgeschält wird, und selbstverständlich Robert Montgomerys Chandler-Adaption von 1947. John Carpenters Ur-Fassung von Halloween (1978) könnte einem noch dazu in den Sinn kommen, die Eröffnung des Films qua „first person camera for the murder“, aus dem Blickwinkel des sechsjährigen Psychopathen Michael Myers bis zur Attacke mit dem Küchenmesser auf seine große Schwester, oder auch jene Aufnahmen von elektromagnetischen Signalen aus dem Hirn eines Menschen, die per SQUID-Headset als virtuelle Realität auf einen Nutzer dieser Clips übertragen werden können – zu sehen als subjektive Perspektiven in Strange Days (Kathryn Bigelow, 1995).
„You and Robert Montgomery solve a Murder Mystery together“
„MGM presents a Revolutionary motion picture: YOU and ROBERT MONTGOMERY solve a murder mystery together / The most amazing since Talkies began!“. Das verhieß das Premierenplakat und zeigte im Zentrum, im runden Rahmen einer Pupillenform abgebildet, den Regisseur und Hauptdarsteller. Montgomery/Marlowe sagt in der Anfangsszene, noch hinter seinem Schreibtisch, was er – in seiner ersten selbstständigen Regiearbeit – mit dem Verfahren durchgängig subjektiver Kameraführung bezweckt: „You’ll see it just as I saw it. You’ll meet the people. You’ll find the clues. And maybe you’ll solve it quick and maybe you won’t.“ Als filmerzählerischer „Mehrwert” wird dem Publikum hier kommuniziert, dass es beim Betrachten von The Lady in the Lake durchweg den Blickwinkel des Private-Eye-Aufklärers teilt.
Der Einsatz der subjektiven Kamera bedeutete harte Arbeit für das Filmteam. Für die Schauspieler war die Geltung des Gesetzes Nummer eins beim Dreh außer Kraft gesetzt, die da lautet: nicht in die Kamera zu schauen, die hier mehr Beweglichkeit brauchte als üblich. „Sogar etwas so Simples wie das Anzünden einer Zigarette erforderte einen Mann für die rechte, einen Mann für die linke Hand und einen dritten, der, unter der Kamera liegend, den Rauch vor die Linse blies.“ (Stephen Pendo)
Aus dem Solarplexus
Raymond Chandler war ein Autor, der auf Inspiration wartete, ohne sie so zu nennen, er glaubte nicht an die Qualität eines in Bürostunden absolvierten Fleißprogramms. „Ich glaube, dass alles Schreiben, das auch nur etwas Leben in sich hat, aus dem Solarplexus kommt. Es ist harte Arbeit insofern, als man hinterher todmüde sein kann, sogar total erschöpft. Im Sinne einer bewussten Anstrengung freilich ist es überhaupt keine Arbeit.“
Mitte 1943, er war fünfundfünfzig und seit gut zehn Jahren als Autor von Pulps und hartgesottenen Detective Stories tätig, davor ein Mann vieler Berufe, der während der amerikanischen Depression seine gehobene Position im Ölgeschäft verloren hatte, erst im Anschluss ernsthaft zu schreiben begann und damit an etwas anknüpfte, das er mit Anfang zwanzig in England vor seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten kurz vor Beginn des Weltkriegs betrieben hatte – erst da veränderten sich Chandlers Lebensumstände, als man ihn bat, zusammen mit Billy Wilder das Drehbuch für die Adaption von James M. Cains „Double Indemnity“ zu schreiben; es sei für ihn ein „mörderische Erfahrung“ gewesen (10. November 1950 ), aus der er „so viel über das Schreiben von Drehbüchern gelernt“ habe, „wie ich zu lernen imstande bin, was allerdings nicht sehr viel ist“. Das Skript wurde für den Oscar nominiert, und die einzige Rezension, die sich auf Chandlers Autorschaft konzentrierte und in England erschien, rückte die Klasse seiner Autorschaft in die Nähe eines Georges Simenon und pries den Detailreichtum und die Visualität seines Buches. (Frank MacShane, Raymond Chandler. 1976; dt. 1984)
Chandler besaß keine Hemmungen, kleinere Geschichten, die er zuvor in Magazinen veröffentlicht hatte, auszuschlachten und zu einem Romanganzen zusammenzufügen. „Der Roman ‚The Lady in the Lake‘ gründet sich“, wie er selbst in einem Brief festhielt, „auf zwei Geschichten mit den Titeln ‚Bay City Blues‘, erschienen Juni 1938, und ‚The Lady in the Lake‘, erschienen Januar 1939.“ In diesen Kontext gehört zudem die von Chandler nicht eigens erwähnte Geschichte „No Crime in the Mountains“ (1941).
Einfach die ganze Geschichte
Chandler schrieb „The Lady in the Lake“ kurz nach dem Luftangriff der Japaner auf Pearl Harbor im Dezember 1941, flocht Anspielungen auf die neue politische Situation in den USA ein – den bis dahin ungekannten Alarmzustand im Inland, auf den Indizien wie die Luftschutzsirenen am Dienstwagen eines Deputy Sheriffs hindeuten. Gleich zu Beginn des Romans wird erwähnt, dass Arbeiter im Rahmen eines staatlichen Wiederverwertungsprogramms Gummiplatten von einem Gehweg reißen – Rohstoffressourcen für die Rüstungsproduktion. Später liest man von der Verdunkelung im Jachthafen von Bay City und der Sicherung eines Staudammes, am „Puma Lake“, durch bewaffnete Soldaten, die am Ende noch in die Story eingreifen werden.
In einem Dialog mit der Frau, die ihn mit einer Pistole bedroht, zeichnet Chandler seinen Detektiv Marlowe mit einer enormen Coolness aus, über die Stereotypen des Schreib-Genres in einem Moment zu spotten, da dieser eigentlich nach deren Regeln in Lebensgefahr schweben müsste:
„,Diese Szene hat mir noch nie gefallen’, sagte ich. ,Detektiv stellt Mörderin zur Rede. Mörderin zieht Waffe, zielt damit auf Detektiv. Mörderin erzählt Detektiv die ganze jämmerliche Story, weil sie ihn nachher sowieso erschießt. Und verschwendet so wertvolle Zeit, selbst wenn Mörderin Detektiv am Ende erschießen würde. Nur dass Mörderin es nie tut. Irgendetwas kommt immer dazwischen. Denn auch den Göttern gefällt diese Szene nicht. Sie verderben sie jedes Mal.’“
Raymond Chandler, dem Stilisten, der „eine Flut von kühnen Adjektiven und Vergleichen wie mit dem Salzstreuer über seine Geschichte verteilt“ (Rainer Moritz im Nachwort), wird in der Neuübersetzung von Robin Detje ein Jargon-Update zuteil, nach dem etwa Marlowe, beim Plan, sich der Frau, die den Lauf einer Pistole auf ihn gerichtet hat, unmerklich anzunähern, für einen Schlag „ausreichend Wuppdich“ haben müsse –- mal trifft man auf Adjektive wie „übergriffig“, dann auch auf „schräg“ im Sinne von ‚daneben‘, seltsam, bizarr, man liest, dass Spuren „fake“ sein könnten, an anderer Stelle wird, wenn jemand sich gefälligst beruhigen solle, der jugendliche Imperativ „Komm mal runter!“ eingesetzt, wozu die wiederholte Gang-Anrede „Alter“ passt, irgendwas „checke ich nicht“ beziehungsweise „stehe auf dem Schlauch“; mehrfach sind die Bullen, brutal, mit metallischer Stimme, als „taff“ bezeichnet, „Privatdetektiv, aber hallo!“ bekommt Marlowe einmal zu hören, ein andermal trifft er eine kaltblütige „kleine Bitch“.
Chandleresk
Typische Chandler-Einstiege in die Kapitel bündeln Eindrücke in einer poetischen Überschau, die atmosphärischen Koordinaten stimmen, sie zeugen jedoch ebenso vom Gefallen an großer Präzision im Einzelnen: „Die Altair Street befand sich an der Abbruchkante eines tiefen, Vförmigen Canyons. Im Norden schwang sich das kühle Blau der Bucht bis fast nach Malibu, im Süden breitete sich auf einem Steilufer über dem KüstenHighway Bay City aus, die Stadt über dem Meer.“
Chandler beschreibt die Tour Marlowes von San Bernardino, 46 Meilen aufwärts, zum Bergsee Little Fawn Lake: „Die Straße schrammte an einer Granitnase vorbei und führte dann zwischen Gräsern bergab. Dort blühten wilder Iris, weiße und purpurne Lupinen, kriechender Günsel, Akelei, Kojotenminze und Castilleja um die Wette. Gelbe Kiefern reckten sich in den klaren blauen Himmel. Die Straße fiel bis auf Seehöhe ab, und schon füllte sich die Gegend mit Mädchen in bunten Freizeithosen, mit Schals und Kopftüchern, hochgesteckten Haaren, dicken Plateausohlen und festen weißen Schenkeln. Vorsichtig eierten Radfahrer über den Highway, und ab und zu holperte ein ängstlich dreinschauender Typ auf einem ElektroRoller vorbei.“
„Ich sah die geraden Reihen der Orangenbäume vorbeiziehen wie Radspeichen. Ich lauschte dem Greinen der Reifen auf dem Pflaster und fühlte mich alt und müde vom Schlafmangel und den vielen Gefühlsaufwallungen. Wir erreichten die lange Steigung südlich von San Dimas, bis hinauf auf einen Kamm, dann das Gefälle bis hinein nach Pomona. Damit hatten wir die Nebelzone endgültig verlassen und waren nun in der Halbwüste, wo die Sonne am Morgen so hell und trocken ist wie alter Sherry, am Mittag so heiß wie ein Hochofen, und am Abend niedergeht wie ein zornroter Ziegelstein.“
Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war
Im Laufe seiner Recherchen wird Marlowe von der Polizei bedroht, verprügelt, verhaftet, mit dem Totschläger traktiert und gezwungen, Whiskey zu trinken, um betrunken zu erscheinen. Er kommt hinter Gitter, wird mit Gin abgefüllt, fälschlich des Mordes bezichtigt – da wundert es nicht, wenn schließlich der Polizei-Lieutenant auch als Täter entlarvt wird.
„,Der Typ hat nicht für den Wachposten angehalten’, sagte der Sergeant verbittert. ,Hätte ihn fast umgefahren. Der Wachposten auf halber Strecke musste zur Seite springen. Der an diesem Ende hatte die Faxen dicke. Er hat den Typ zum Anhalten aufgefordert. Tat er aber nicht.’ Der Sergeant kaute sein Kaugummi und blickte in den Canyon hinunter. ,In so einem Fall gilt Schießbefehl’, sagte er. ,Der Wachtposten hat geschossen.’ Er zeigte auf die Furchen an der Abbruchkante. ,Da ist er runter.’ Tief unter uns im Canyon war an einem riesigen Granitfelsen ein kleines Coupé zerschellt. Es lag fast auf dem Dach und neigte sich stark. Dort unten waren drei Männer. Sie hatten das Auto weit genug bewegt, um etwas herauszuziehen. Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war.“