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Everest

Die Erben des Ikarus

| Jörg Schiffauer |
Mit der Präzision eines Dokudramas und der Wucht einer griechischen Tragödie zeichnet „Everest“ eine aufsehenerregende Katastrophe nach.

1996 schloss sich der Autor Jon Krakauer im Auftrag des Magazins „Outside“ einer Expedition zum Mount Everest an, um sich für einen Artikel, der sich mit der zunehmenden Kommerzialisierung am höchsten Berg der Welt auseinandersetzen sollte, vor Ort ein genaues Bild zu machen.

Als Edmund Hillary und Tenzing Norgay 1953 die Erstbesteigung des Everest gelang, war das ein Ereignis von Weltrang, eine der letzten großen Herausforderungen, die Planet Erde noch für den Menschen bereit gehalten hatte. Und selbstverständlich blieb es in den folgenden Jahrzehnten nur den Elitekönnern unter den Alpinisten vorbehalten, sich an den Everest heranzuwagen. Doch in den achtziger Jahren begann eine Entwicklung, die für teils heftige Kontroversen sorgte. Auslöser war Richard Bass, erfolgreicher Unternehmer und leidenschaftlicher Bergsteiger, der sich zum Ziel gesetzt hatte, als Erster, die „Seven Summits“, den jeweils höchsten Berg jedes Kontinents (die Zählung beinhaltet Nord- und Südamerika, sowie die Antarktis) zu erklimmen. Weil Bass bei aller Begeisterung jedoch ein Amateur von Mitte Fünfzig war, brauchte er vor allem für das Unternehmen Everest die Unterstützung eines professionellen Bergsteigers um den Gipfelsieg zu schaffen. Kommerziell geführte Expeditionen, die es sich zum Geschäftsziel gemacht hatten, zahlungskräftigen Hobbybergsteigern das Erreichen des höchsten Bergs zu ermöglichen, erlebten in Folge einen regelrechten Boom. Nicht wenige Alpin-Experten betrachteten diese Entwicklung mit einer Mischung aus Sorge und Herablassung, Jon Krakauer, seit Jugendjahren vom Bergsteigen fasziniert, gehörte zu denen, die eine klettertechnisch nicht so anspruchsvolle Route zum Gipfel des Everest etwas verächtlich als „Yak-Route“ bezeichneten. Das der Aufstieg in eine solche Höhe aus unterschiedlichen Gründen ein hochgradig riskantes Unterfangen blieb, geriet ein wenig in den Hintergrund. Doch selbst Krakauer hätte nicht ahnen können welche tragische Aktualität seine Recherchen bekommen sollte.

Gedränge am Mount Everest

Jon Krakauer hatte sich einer der renommierten Firmen, die jene Touren veranstalteten, angeschlossen, Adventure Consultants. Im Frühjahr 1996 versammelten sich die Teilnehmer, um unter der Führung des erfahrenen Expeditionsleiters Rob Hall das Abenteuer in Angriff zu nehmen. Es ist eine recht bunte Truppe, der neben Krakauer so unterschiedliche Charaktere angehören wie etwa der Pathologe Beck Weathers, die Japanerin Yasuko Namba, die nur noch die Everest-Besteigung benötigte, um die Seven Summits zu komplettieren und Doug Hansen, der bereits ein Jahr zuvor vergeblich versucht hatte, mit Rob Hall den Gipfel des Everest zu erreichen. Hansen hatte in mehreren Jobs, darunter als Briefträger gearbeitet, um sich den neuerlichen Anlauf leisten zu können.

Mit der Zusammenkunft in Nepal setzt Baltasar Kormákurs Everest ein. Eine kleine, nur anekdotisch anmutende Szene zu Beginn, erhält retrospektiv geradezu symbolischen Charakter und nimmt die Gründe für jenes Drama gleichsam vorweg, das auf die Protagonisten zukommt. Als die Gruppe im Basislager ankommt, wird ihnen ein nepalesischer Bergführer vorgestellt, der sie auf das schwierige Unterfangen vorbereiten soll und dessen Erfahrungen unverzichtbar sind. Beck Weathers (Josh Brolin), kann es sich nicht verkneifen, den typisch großspurigen Texaner hervorzukehren und den Nepalesen im breiten Akzent des Lone Star State zu fragen: „Do you speak English?“ Der trocken und in perfektem Englisch antwortet. „Maybe better than you.“ Ein wenig augenzwinkernd erwidert der Arzt „So maybe I climb better than you.“ Das alles wirkt in dieser Situation wie ein Geplänkel, um die Anspannung vor dem Aufstieg ein wenig zu lösen, doch es macht schon deutlich, mit welcher Leichtfertigkeit vor allem die unerfahrenen Teilnehmer dieser Tour dem Ganzen gegenüberstehen – eine Fehleinschätzung mit fatalen Folgen.

Als folgenschwerer erweist sich jedoch die Tatsache, dass sich eine ganze Reihe von Expeditionsteams zum Aufstieg bereit machen, darunter ein weiteres kommerzielles, Mountain Madness, unter Führung von Scott Fischer (Jake Gyllenhaal). Doch die große Anzahl von Bergsteigern, die sich gleichzeitig auf dem Berg befinden und damit an den prekären Passagen Verzögerungen herbeiführen könnten und damit den so wichtigen Zeitplan durcheinander bringen, macht vor allem Rob Hall (Jason Clarke) Sorgen. Eine umfassende Koordination der Aufstiegspläne scheitert, doch zumindest mit Scott Fischer vereinbart Hall, dass sich die Teams nicht behindern.

Nach dem die notwendige Phase der Akklimatisierung in der extremen Höhenlage, in deren Verlauf man sich die verschiedenen am Berg eingerichteten Camps hocharbeitet, absolviert ist, erreichen die Mitglieder von Adventure Consultants und Mountain Madness schließlich Camp IV in einer Höhe von knapp 7900 Metern. Darüber befindet sich die sogenannte Todeszone, jene Region, deren Sauerstoffangebot bereits so stark verringert ist, dass der menschliche Körper dort nicht mehr regenerieren kann, physische und kognitive Leistungsfähigkeiten nachlassen und ein Aufenthalt über einen zeitlich sehr begrenzten Zeitraum unweigerlich zum Tod führt. Am 10. Mai machen sich die Teams frühmorgens auf, um die letzte Etappe bis zum Gipfel zu bewältigen. Zunächst sind es nur Kleinigkeiten, – wie ein nicht wie vorgesehen angebrachtes Seil, das neu fixiert werden muss – die das Vorankommen verzögern. Doch als die meisten der Bergsteiger das legendäre Dach der Welt bereits erklommen haben,  kommt es zu einem extremen Wetterumschwung, der den Abstieg zu einer Tortur werden lässt – die Tragödie nimmt ihren unabwendbaren Lauf.

In eisige Höhen

Am Ende sollten mehrere Teilnehmer Wagnis mit ihrem Leben bezahlen, was naturgemäß die Diskussionen über die Sinnhaftigkeit solcher Unternehmungen erneut entfachte. Nicht unwesentlich zur weltweiten Aufmerksamkeit, die das Drama am Mount Everest auf sich zog, hat zweifellos Jon Krakauers publizistische Aufarbeitung der Ereignisse beigetragen. Neben einem ausführlichen Artikel für „Outside“ schrieb er das 1997 veröffentlichte Buch „Into Thin Air“, das sich detailgenau mit dieser Katastrophe auseinandersetzt.

Kormakurs Film beruft sich nicht exklusiv auf Krakauers (in Everest von Michael Kelly gespielt) Buch, sondern zieht unterschiedliche Quellen heran, um die Geschehnisse trotz der dramaturgisch notwendigen Verdichtungen mit ungemeiner Präzision zu rekapitulieren. Es ist vor allem die betonte Unaufgeregtheit der Inszenierung, die den Ereignissen ohnehin innewohnende dramatische Wucht nicht durch Kunstgriffe oder Sentimentalitäten zu verstärken versucht und gerade dadurch eine Intensität zu generieren versteht, der man sich bald schon nicht mehr entziehen kann. Baltasar Kormákur konnte sich als Schauspieler und Regisseur in seiner Heimat Island und auch bereits international einen Namen machen, ehe er 2012 mit Contraband ein feines Hollywooddebüt ablieferte. Für eine groß budgetierte Produktion hat sich Kormakur für ein durchaus ungewöhnliches aber stets schlüssiges Regiekonzept entschieden. Schnörkellos und streckenweise reduziert wie ein nüchternes Dokudrama folgt seine Inszenierung den Protagonisten auf ihrem verhängnisvollen Weg. Volle Unterstützung erhält der Regisseur von seinen Schauspielern, die ungeachtet der großen Namen völlig unprätentiös agieren und ein Höchstmaß an Authentizität erzeugen. Selbst Kaliber wie Keira Knightley und Robin Wright sind sich dabei für kleine –jedoch wichtige – Rollen  nicht zu schade und stellen sich voll in den Dienst des Ensembles.

Selbst ohne jeglichen Vorwissens über die tatsächlichen Ereignisse, Kormakurs Everest würde durch seinen beinahe fatalistischen Erzählduktus ohnehin von Anfang an darauf verweisen, dass die Protagonisten wie in einer griechischen Tragödie unausweichlich ihrem Verderben entgegengehen. Zu sehr haben sie die Götter oder das Schicksal herausgefordert. Als eines Abends im Basislager die Frage auftaucht, warum die Teilnehmer der Expedition ein solches Wagnis auf sich nehmen –und dafür auch bis zu 70.000 Dollar zahlen – bleiben konkrete Antworten aus. Viel mehr als ein flapsiger Spruch, mit dem eine altbekannte Pointe hervorgekramt wird, kommt nicht: „Because it’s there“ bleibt zunächst die Begründung, warum man den riskanten Aufstieg zum höchsten Berg der Welt in Angriff zu nehmen gedenkt. Angesichts dieser Einstellung fällt es nicht schwer, sich die mythologische Gestalt des Ikarus in diesem Zusammenhang ins Gedächtnis zu rufen.

Es ist vor allem ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Natur, das den Protagonisten zum Verhängnis wird. In der Natur – im gegenständlichen Fall in einer der extremsten Regionen – vermeinen sie, etwas zu finden, was dem Menschen in der Zivilisation modernen Zuschnitts mit verstärkt reglementierten Abläufen abhanden zu kommen scheint. Bergsteigen, insbesondere in extremen Höhen, bringt dazu physische und psychische Herausforderungen, verbunden mit einem Element der Gefahr, mit sich, Anforderungen, die im „normalen“ Alltag so nicht mehr vorhanden sind. Nun zählt das Annehmen von Herausforderungen, das Bestreben, sich aus dem Sumpf des Durchschnittlichen zu befreien, zu den besseren menschlichen Eigenschaften. Das war zweifellos auch ein Antriebsfaktor für die Teilnehmer besagter Everest-Expedition. Doch das Bestreben, an die so oft zitierten eigenen Grenzen zu gehen, das gegenwärtig ganz starke inflationäre Züge angenommen hat, wird zu einem Spiel mit unkalkulierbarem Risiko. Organisatoren und Klienten der kommerziell geführten Unternehmungen hatten trotz aller Vorbereitungen ein wenig verdrängt, dass man Naturgewalten weder vollständig kontrollieren und schon gar nicht bezwingen kann. Die Natur ist eben kein überdimensionaler Abenteuerspielplatz, bei dem das Kokettieren mit lebensgefährlichen Situationen auch immer nur ein Spiel bleibt.

In einer etwas unheimlich anmutenden Koinzidenz hatte sich Jon Krakauer schon vor seinem Aufbruch zum Everest mit genau jenem verhängnisvollen Verständnis von Natur, dass die Katastrophe am Berg begründen sollte intensiv auseinandergesetzt. In seinem Bestsellers „Into the Wild“ (1996) – von Sean Penn unter dem gleichen Titel 2007 mit Emile Hirsch in der Hauptrolle kongenial verfilmt – begibt sich Krakauer auf die Spuren von Christopher McCandless, einem jungen Mann, der sich 1990 nach seinem Studienabschluss gegen einen bürgerlichen Karriereweg entschied und begann, quer durch die Vereinigten Staaten zu trampen. McCandless betrachtete dies als bewussten Gegenentwurf zur einer zunehmend materialistisch orientierten Gesellschaft, den er immer konsequenter vorantrieb. Schließlich brach er nach Alaska auf, um dort im völligen Einklang mit der Natur abseits der Zivilisation in der Wildnis zu leben. Ein idealistischer Ansatz, der im Fall von Chris McCandless auch theoretisch durch die Ideen Henry David Thoreaus unterfüttert war, doch schlussendlich ein großes Missverständnis mit furchtbaren Konsequenzen. Denn bei aller Liebe zur Natur hatte McCandless ein eher romantisch geprägtes Bild dieser, ihre Kräfte und Wildheit – und vor allem seine Fähigkeiten, damit umzugehen – schätzte er falsch ein. Mangelhaft ausgerüstet und durch den von Schmelzwasser bedingten rapiden Anstieg der Flüsse abgeschnitten, starb Chris McCandless allein im Nirgendwo der Weiten Alaskas – man vermutet, dass er einfach verhungert war.

In dem Bestreben, die Enge moderner Zivilisation hinter sich zu lassen und in der Zuwendung zur Natur neue Herausforderungen zu suchen und dabei auch Erfüllung zu finden, zeigen sich die Gemeinsamkeiten von Chris McCandless und Bergsteigern am Mount Everest, ebenso wie in dem Faktum, dass sie Opfer ihre teilweise verklärten Vorstellungen werden.

Jon Krakauer stellt am Anfang von „Into Thin Air“ ein Zitat des Soziologen José Ortega y Gasset: „ Die Menschen spielen leichfertig mit dem Tragischen, weil sie an die Existenz des Tragischen in einer zivilisierten Welt nicht glauben.“

Ein Spiel, das im Mai 1996 am Mount Everest einen hohen Preis fordern sollte.