Eindrücke vom 72. Filmfestival in San Sebastian
Aurora arbeitet in einem riesigen Warenlager in Schottland. Stunde um Stunde sammelt die portugiesische Migrantin Produkte für den Versand ein, die Kunden im Internet bestellt haben. Aber das wenige Geld, das die junge Frau verdient, reicht noch nicht einmal für eine warme Mahlzeit. Mit Muffins und Schokoriegeln stillt sie ihren Hunger.
Der britisch-portugiesische Erstling On Falling steht beispielhaft für den 72. Jahrgang des Filmfestivals in San Sebastian. Viele Beiträge haben sich den existenziellen Problemen von Frauen – um nicht sogar zu sagen Formen moderner Sklaverei – gewidmet. Und in sieben von 16 Produktionen, also fast der Hälfte, standen Frauen hinter der Kamera wie in diesem leisen, dichten Sozialdrama von Laura Carreira. Fast ohne Musik in langen, überwiegend dunkel ausgeleuchteten Einstellungen schildert der Film vor allem sehr eindringlich die große Scham der Protagonistin.
Sie erklärt, warum Aurora sich nicht hilfesuchend ihren freundlichen Arbeitskollegen, Mitbewohnern in ihrer WG oder einer Personalchefin mitteilt, die ihr in einem Bewerbungsgespräch durchaus verständnisvoll begegnet.
Es falle der Heldin schwer, anderen eingestehen zu müssen, was sie durchmacht, sagt die Regisseurin im Interview. Oftmals fühlten wir uns schuldig und würden für unsere Situation verantwortlich gemacht. Sie wollte ihrer Heldin aber auf keinen Fall die Schuld für ihre Misere geben, sondern einfach nur ihr Umfeld betrachten, beobachten, wie sie lebt und ihr zugestehen, anders zu leben.
Gänzlich andere Martyrien erleidet die Heldin im Wettbewerbsbeitrag der spanischen Regisseurin Iciar Bollaín Soy Nevenka, er basiert auf einer wahren Geschichte aus dem Jahr 2000: Nevenka Fernández geht durch die Hölle, nachdem sie Finanzrätin in Ponferrada geworden ist. Bürgermeister Ismael Álvarez, der ihre Karriere angeschoben hat, nimmt seine Unterstützung als einen Freibrief dafür, sie sexuell zu bedrängen. Der Film besticht mit seiner scharfsichtigen Psychologie und einer starken Hauptdarstellerin, die ihre permanente Angst sehr glaubwürdig durchlebt und erst nach und nach zu ihrer Stärke findet, sich gegen die Gewalt aufzulehnen.
Den Wettbewerb überragte indes noch ein anderes Werk aus Spanien: Los destellos, eine tiefgründige, stille, intime Erzählung von Pilar Palomero, subtil im Psychologischen, stark auf der bildlichen Ebene dank einem großen Gespür für die passenden Orte und Landschaften.
Im Zentrum steht Isabel, eine Frau mittleren Alters, grandios verkörpert von Patricia López Arnaiz, verdient prämiert mit einer silbernen Muschel als beste Darstellerin. Auf Wunsch ihrer Tochter nimmt sie nach langer Zeit Kontakt mit ihrem Exmann auf, dem es seit der Trennung zunehmend schlechter geht. Zunächst zögerlich macht sich Isabel auf die Reise, holt den Hund ab, den der Exmann nicht mehr versorgen kann, bringt den Schwerkranken in die Klinik und hilft ihm beim Duschen. Aber dann folgen auch gemeinsame Ausflüge ans Meer, die schöne Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit wachrufen, und so erlebt Ramón einen unbeschwerten Abschied vom Leben.
Eben darum geht es Regisseurin Palomero, die sich vom Tod ihres Vaters zu diesem Film inspirieren ließ: Menschen dazu zu bringen, auch in schwierigen Konstellationen füreinander da zu sein, innerhalb der Familie und überhaupt in der gesamten Gesellschaft.
Die Goldene Muschel für den Besten Film vergab die Jury unter dem Vorsitz von Ulrich Seidl an einen kontroversiellen Dokumentarfilm über einen Stierkämpfer, gegen den spanische Tierschützer im Vorfeld protestiert hatten: Tardes de soledad von Regisseur Albert Serra.
Im Wettbewerb standen anspruchsvolle, reife Werke etablierter Meister neben höchst achtbaren Debütfilmen. Das von Netflix produzierte, prächtig ausgestattete Drama El lugar de la otra, das leider bei der Preisverleihung leer ausging, gehört ebenso dazu. Ein realer spektakulärer Mord aus dem Jahr 1955 bildet den Ausgangspunkt zu der Geschichte der chilenischen Regisseurin Maite Alberdi: Damals sorgte in Chile die Schriftstellerin Maria Carolina Geel für Aufsehen, als sie in einem Nobelhotel ihren Liebhaber ermordete. Aber wiewohl Geel von der Boulevardpresse und der Bevölkerung schnell zu einem Monster abgestempelt wurde, das sein Opfer angeblich wie ein Vampir ausgesaugt haben soll, wurde sie nach 541 Tagen Untersuchungshaft begnadigt. – Anders als vergleichsweise Vera Brühne in der jungen BRD, die 1961 nach einem zweifelhaften Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und vergeblich in den 1970er Jahren auf Begnadigung hoffte, die ihr erst nach 18 Jahren Haft zuteil wurde. Geel war damals kein Einzelfall, berichtet Alberdi auf der Pressekonferenz, wie sie wurden Mörderinnen zu der Zeit in der Regel begnadigt. Dass Frauen es in einem Land, in dem 15 Jahre später unter Machthaber Pinochet die Militärdiktatur Einzug hielt, besser hatten als in der noch jungen angeblich so demokratischen, freiheitlichen jungen Bundesrepublik Deutschland erstaunt. Und auch, dass die Menschen auf den unterschiedlichen Kontinenten so wenig voneinander wissen. Wohl den wenigsten Deutschen dürfte heute Geel ein Begriff sein. Umgekehrt hat Regisseurin Alberdi den Namen Brühne noch nie zuvor gehört.
Im Fokus ihres packenden Dramas aber steht eine fiktive junge Frau, die im Gericht als Sekretärin arbeitet und unter dem starken Eindruck der intellektuellen Verurteilten, die offenbar stark für ihre Unabhängigkeit und Emanzipation kämpfte, ihre eigene Persönlichkeit verändert. Sie geht in die Wohnung der Delinquentin, zunächst nur, um ihr ein paar Anziehsachen zu bringen, richtet sich aber zusehends selbst in dem schönen Apartment ein, erfreut sich an deren Parfüm, zieht Marias mondäne Kostüme an, taucht in ihr Leben ein, studiert ihre Bibliothek und nimmt zusehends deren Identität an, bis die Eigentümerin unverhofft wieder auf freien Füßen ist. Das alles schildert Alberdi sehr sublim mit vielsagenden Blicken und Gesten. Und ganz unweigerlich regt sich Interesse an der erfolgreichen Autorin, die noch aus dem Gefängnis ein Buch schrieb und sich als Vorreiterin des Feminismus offenbar eines Mannes entledigte, der sie in eine ungeliebte Hausfrauenrolle drängen wollte.
Auch in dem jüngsten Werk des Franzosen François Ozon geht es um starke Frauen. Die ehemalige Prostituierte Michelle, Mitte 70, steht im Zentrum des ungewöhnlichen Krimis Quand vient l’automne (Silberne Muschel für das beste Drehbuch und eine besondere Leistung des Darstellers Pierre Lottin). Ihr eigentlich recht harmonisches Leben auf dem Land gerät aus dem Lot, als ihre Tochter abrupt den Kontakt zu ihr abbricht und damit auch die Verbindung zu dem geliebten Enkel ein unfreiwilliges Ende findet. Michelles Freundin Marie-Claude, die ihr in der Situation beisteht, sorgt sich unterdessen um ihren Sohn, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aber dann lösen sich die Konflikte überraschend, als Michelles Tochter unverhofft aus dem Leben scheidet. Einem harmonischen unkonventionellen Familienleben in einem erweiterten Patchwork-Mikrokosmos, zu dem bald auch neben dem Enkel Marie-Claudes Sohn Vincent gehört, scheint nichts mehr im Wege zu stehen, oder ist das Glück am Ende doch trügerisch? Beging die Tochter Suizid, erlag sie einem Unfall oder wurde sie ermordet? Das raffinierte, spannende Drama entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Und überrascht mit sympathischen Volten, die Spirituelle vielleicht auf energetische Synergien zurückführen mögen.
Mit den großen Themen Sterben und Tod beschäftigten sich auf unterschiedliche Weise noch zwei andere Produktionen, und vielleicht verhält es sich ja wirklich so, wie Altmeister Costa-Gavras meint, dass sie zentral das 21. Jahrhundert bestimmen sowie Sigmund Freuds Thesen zu Sexualität und Erotik das vergangenen zwanzigste Jahrhundert.
Die Chinesin Xin Huo schildert in ihrem überschätzten Drama Beyond Heaven, ausgezeichnet mit dem Preis für die beste Kamera und dem Kritiker Fipresci-Preis, das Schicksal einer jungen Frau in einer absurden Situation: Mit Hilfe eines gleichaltrigen jungen Liebhabers gelingt ihr die Flucht aus der gewalttätigen, lieblosen Beziehung mit einem Mann, der sie und ihren Freund beinahe in seiner Eifersucht getötet hätte. Aber bald darauf muss sie sich der traurigen Tatsache stellen, dass der Freund sterbenskrank ist und von seinem Leiden erlöst werden will.
Die Erzählung wirkt allerdings recht zäh und berührt angesichts entseelt wirkender Charaktere ziemlich zäh.
Deutlich interessanter beschäftigte sich in San Sebastian vielmehr Altmeister Costa-Gavras mit den Themen Sterben und Tod. In seinem Beitrag Le dernier souffle treffen ein Arzt der Palliativmedizin und ein Schriftsteller aufeinander, die am Beispiel unterschiedlicher Patienten in einen gedanklichen Austausch treten. Mit seinem Plädoyer für ein Sterben in Würde und eine freie Entscheidung über den Tod knüpft er an Meisterwerke wie Das Meer in mir oder Liebe von Michael Haneke an.
Dass er wie die übrigen namhaften Kollegen Edward Berger (Conclave), Mike Leigh (Hard Truths) und Joshua Oppenheimer (The End) bei der Preisverleihung dennoch leer ausging, unterstreicht die wahrhaft große Konkurrenz. Es war ein guter Jahrgang, der dem guten Ruf des Festivals alle Ehre macht.