Die Viennale begeht ihr 60. Jubiläum. Ein Überblick.
Der Herbst schleicht sich ins Land und mit ihm nicht wenige Sorgen – viele Österreicherinnen und Österreicher mögen eher an gestiegene Heiz- und Energiekosten denken, denn an Cineastenkost. Andererseits bietet so ein Viennale-Zehnerblock ja auch die Möglichkeit, Kinos wie das Gartenbau als Wärmestube zu nutzen und/oder mit dem gebotenen Programm ein wenig Weltflucht zu betreiben. Wobei Letzteres definitiv nicht immer der Fall ist, hat das Festival neben ein paar Crowd Pleasern doch wie immer jede Menge Filme im Angebot, die sich harten sozialen und politischen Fragen widmen.
Über allem steht aber zunächst die Freude über das runde Jubiläum: Zum 60. Mal geht das größte Filmfestival des Landes heuer über die Bühne. Im Jahr 1960 von einer Journalistengruppe um Sigmund Kennedy gegründet, fand die Viennale seither mit drei Ausnahmen (1961, 1983 und 1990) jährlich statt. Auch „ray“ gratuliert.
Doch zurück zu den angesprochenen Sorgen: In der Reihe „Kinematografie – Österreich Real“ steht diesmal der Dokumentarfilm in Krisenzeiten im Mittelpunkt. Als Inspiration diente – neben dem gerade verbreiteten Allgemeingefühl – ein Satz des Filmwissenschaftlers und langjährigen „ray“-Kolumnisten Klaus Kreimeier, der meinte, dass Krisenzeiten Treibhäuser für Dokumentarfilme seien. Gezeigt werden in dieser Schiene zwölf Kurz- und Langfilme, die zwischen 1972 und 2017 entstanden sind. Privates und Gesellschaftliches gehen Hand in Hand: Der von John Cook unabhängig produzierte und inszenierte Ich schaff’s einfach nimmer (1972) zeigt ungeschönt das Leben eines eher erfolglosen Boxers, der mit einer Putzfrau und zahlreichen Kindern zusammenlebt. Das Leben erscheint hier folgerichtig als Existenzkampf – rau, aber durch die Unmittelbarkeit durchaus lyrisch.
Ein weiterer interessanter Kinematografie-Film stammt von Goran Rebic´: During the Many Years ist ein Doku-Essay über die georgische Hauptstadt Tiflis aus dem Jahr 1991. Der Zeitpunkt für Dreharbeiten war ein besonders prägnanter, war die georgische Unabhängigkeitsbewegung doch gerade am Höhepunkt; 1991 erklärte sich das Land für unabhängig. Ohne Off-Kommentar sprechen in During the Many Years die zahlreichen Eindrücke von Architektur, Straßen, Plätzen und Menschen für sich.
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Die Reihe „Monografien“ vereint zwei höchst unterschiedliche Filmschaffende: Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Elaine May, Jahrgang 1932, gehörte zu den ersten Frauen, die in Hollywood hinter der Kamera standen. Vor allem in den siebziger Jahren entstanden dabei ungewöhnliche Komödien der als Perfektionistin geltenden May: A New Leaf (1971) mit Grantler Walter Matthau, der sich durch Heirat mit und Mord an einer reichen Frau finanziell gesundstoßen will, punktet über weite Strecken mit schwarzem Humor, wenngleich das Ende doch ein wenig vorhersehbar ist. The Heartbreak Kid – ein Mann verliebt sich während der Flitterwochen in eine Andere – ist eine ebenfalls recht dunkle Komödie, die nicht zuletzt durch die Besetzung (Charles Grodin, Cybill Shepherd) besticht. Ihr vielleicht bester Film als Regisseurin ist Mikey and Nicky (1976), ein Kriminaldrama, das sie mit dem kongenialen Freundes- und Künstlerduo Peter Falk und John Cassavetes besetzte: Als das Leben von Nicky (Cassavetes) durch den Mob bedroht wird, wendet sich dieser an seinen alten Freund Mikey (Falk). Was folgt, ist die intensive und atmosphärische Geschichte einer Nacht in New York, die von Angst, Freundschaft, Loyalität und Verrat erzählt. Der düstere Gangsterfilm der kleinen Momente fühlt sich dabei stellenweise fast nach einer Regiearbeit von Cassavates selbst an, der Existenzängste und -kämpfe ja immer wieder thematisierte. Das Werk ging seinerzeit an der Kinokasse unter, was auch daran lag, dass Paramount Mikey and Nicky gegen Mays Willen radikal umschnitt und kaum Marketing betrieb.
May arbeitete an einigen renommierten Projekten – darunter Warren Beattys Reds (1981) – als Ko-Autorin mit und hatte sich trotz ihres schwierig-perfektionistischen Rufs einen in künstlerischer Hinsicht guten Namen in der Traumfabrik gemacht; den Hals brach ihr dann allerdings die megalomanische Komödie Ishtar (1987), ein noch heute berüchtigter Flop. Der Film, in dem Beatty und Dustin Hoffmann als erfolglose Sänger nach Marrakesch gehen und in Geheimdienstmachenschaften geraten, kostete letztlich das Doppelte des veranschlagten Budgets (nicht zuletzt, weil May zweieinhalb Quadratkilometer an Dünen einebnen und Szenen bis zu 50 Mal wiederholen ließ), wurde von den wenigen, die ihn sahen, als unlustig empfunden (Beatty und Hoffmann outrieren, zudem wurde auch noch die arme Isabelle Adjani mit hineingezogen) und sollte schließlich Mays letzte Kinoarbeit als Regisseurin sein. Kubrick gone wrong, könnte man angesichts dieses Films wohl sagen, den man sich als „guilty pleasure“ aber durchaus einmal auf der Leinwand geben kann. Ob May heuer selbst nach Wien kommt, ist noch unklar, würde aber zur Viennale-Tradition der „alten Damen“, wie Hans Hurch – der u. a. Fay Wray, Lauren Bacall oder Tippi Hedren begrüßte – es seinerzeit formulierte, passen.
Die zweite Schiene innerhalb der Monografien ist Med Hondo (1936–2019) gewidmet, dem von manchen Seiten zugeschrieben wird, der „Begründer des afrikanischen Kinos“ zu sein. Hondos Filme befassen sich u. a. mit den Konflikten um das afrikanische Territorium, mit dessen Geschichte sowie dessen Beziehungen zu Europa. Nach einer Phase der Vergessenheit wurde der Pionier in jüngster Zeit wiederentdeckt. Interessant ist Hondo nicht zuletzt aufgrund der stilistischen Vielfalt: Während West Indies (1979) ein satirisches Musical über die Geschichte der französischen Antillen ist, kommt etwa Lumière Noire (1994) als in der französischen Einwandererszene angesiedelter Krimi daher.
Kriminalaspekte stehen auch in der Programmschiene „Historiografie“ im Zentrum, die sich dem argentinischen Film noir widmet. Hierzulande kaum bekannt, erzählen die während des Peronismus entstandenen Werke von „Kriminalität und Gewalt (…) auf den düsteren Straßen von Buenos Aires“, so die Viennale-Beschreibung des Programms. Hier könnte es durchaus die eine oder andere spannende Entdeckung geben.
Die von Viennale und Filmmuseum gemeinsam veranstaltete Retrospektive ist heuer Yoshida Kijuˆ, Jahrgang 1933, gewidmet. Der Altmeister, der nie besonders großen Respekt vor gesellschaftlichen Tabus zeigte, widmete sich in seinem Werk nicht selten den Verwerfungen der japanischen Nachkriegsgesellschaft samt dem damit einhergehenden Verlust alter Werte. In einem seiner bekanntesten Filme, Rokudenashi (Good for Nothing) aus dem Jahr 1960 steht denn auch ein jugendlicher Protagonist im Mittelpunkt, der ziellos durchs Leben driftet. Als eines der zentralen Werke der japanischen New Wave gilt die lose Biografie des Anarchisten Sakae O¯sugi, Erosu purasu gyakusatsu (Eros + Massacre) von 1969: Nach Eigenaussage des Regisseurs kein bloßes historisches Biopic, sondern eine Untersuchung der Frage, wie Gedanken zur Gegenwart die Zukunft beeinflussen. Yoshida Kijuˆs Filme sind hierzulande nicht sonderlich oft gezeigt worden – für Freunde des japanischen sowie des Weltkinos ist die Retrospektive also eine schöne
Gelegenheit, sie in 35mm zu sehen.
Was das Hauptprogramm betrifft, darf man sich besonders auf die Filme zweier Altmeister freuen: Der Kanadier David Cronenberg meldet sich nach achtjähriger Kinopause mit Crimes of the Future zurück und widmet sich seiner großen Spezialität, dem Body Horror. In der Zukunft, die Cronenberg in seinem Originaldrehbuch zeichnet, lassen sich Körperfunktionen mit Maschinen kontrollieren, zudem hat der Großteil der Menschheit eine Art von Evolution durchgemacht: Physischer Schmerz existiert nicht mehr und auch gegen Infektionskrankheiten sind viele immun geworden. Performancekünstler Tenser (Viggo Mortensen), der sich vor Live-Publikum ständig neu wachsende Organe entfernen lässt, gerät dabei sowohl ins Visier einer Untergrundzelle, die die nächste Phase der Evolution ans Tageslicht bringen möchte, als auch der Behörden, die eben dies verhindern wollen. „Long live the new flesh“ hieß es seinerzeit bei Videodrome, „Surgery is the new sex“ heißt es jetzt. Von der Kritik wurde der Film – der nicht zuletzt mit seinem Production Design beeindruckt – bislang freundlich aufgenommen, könnte das Publikum wegen des Mangels an simplen Interpretationsangeboten aber entzweien. Neben Mortensen spielen Léa Seydoux und Kristen Stewart.
Für Die Schriftstellerin (So-seol-ga-ui yeong-hwa) des Südkoreaners Hong Sang-soo gab es heuer in Berlin bereits den Großen Preis der Jury. Gedreht in nur zwei Wochen, erzählt der Film von mehreren Begegnungen an einem Tag im Leben der Autorin Jun-hee: Regisseur Hyojin hatte vor einigen Jahren ein Drehbuch von ihr abgelehnt, mit Jungschauspielerin Kilsoo möchte sie einen Kurzfilm drehen und dem Schriftsteller Mansoo war sie einst intim verbunden. Ähnlich wie in Introduction (2021) treffen alltägliche Gespräche auf eine Reflexion künstlerischer Schaffensprozesse – und auf mal mehr, mal weniger erfüllte Sehnsüchte. Fazit: Ein echter Hong Sang-soo, der dessen Fans definitiv zufriedenstellen wird.
Weitere Filme in der Features-Reihe stammen von Albert Serra (der auf Tahiti spielende, 164 Minuten lange Pacifiction verbindet eine Art von Low-Key-Spionagethriller mit Beobachtungen einer postkolonialen Gesellschaft), den Brüdern Dardenne (Tori et Lokita erzählt von der Freundschaft zweier Jugendlicher, die alleine von Afrika nach Belgien eingewandert sind), Mikhaël Hers (in Les passagers de la nuit steht eine Alleinerzieherin im Frankreich der achtziger Jahre im Mittelpunkt, die sich neben ihren Kindern noch zusätzlich um eine durchs Leben driftende Jugendliche kümmert), Quentin Dupieux (Incroyable mais vrai um ein Haus mit einem lebensverändernden Keller ist eine Art französische Twilight Zone) oder Peter Strickland (die Horror-Satire Flux Gourmet dreht sich um eine Gruppe besonders extravaganter Performancekünstler).
Wie stets finden sich natürlich auch einige Werke österreichischer Filmschaffender im Programm, über die sie dann beim entsprechenden Kinostart in „ray“ mehr erfahren können.