Eindrücke vom 56. Karlovy Vary Filmfestival
Eine Covid-Station in einem Krankenhaus in der bulgarischen Provinz. Ärzte und Pflegerinnen in spacigen Ganzkörper-Monturen betreuen Schwerkranke mit strengen, knappen Anweisungen. Die Betten stehen dicht beieinander in notdürftig ausgestatteten engen Räumen. Der Appetit ist vielen Patienten vergangen, Schmerz, Sauerstoffmasken und die permanente Konfrontation mit dem Tod prägen ihren Alltag. Das Blau der Schutzanzüge des Personals korrespondiert als einziger Farbton mit der kalten, von Schmerz. Angst und Leid geprägten Atmosphäre. Der bulgarische Dokumentarfilm A Provincial Hospital ist eine bedrückende Bestandsaufnahme über desolate Zustände in Zeiten der Pandemie und einer der ersten Filme überhaupt, der sich diesem Thema an einem solchen Ort dezidiert widmet. Im Wettbewerb der 56. Ausgabe in Karlovy Vary empfahl er sich zugleich – wenngleich bei der Preisverleihung völlig übergangen – als die stärkste osteuropäische Produktion.
In den stillen, wenig ereignisreichen, spröden Spielfilmen aus Tschechien, Georgien, Polen und der Slowakei ging es vor allem um Zerwürfnisse in Beziehungen und Familien. So gerät zum Beispiel in dem tschechischen Kammerspiel Borders of Love ein junges Paar über ausufernde Experimente mit freier Liebe auseinander. Geschichten wie diese hat das Kino schon mehrfach erzählt. Aber der tschechische Autorenfilm, der bislang überwiegend historische Stoffe und Krisen vergangener Zeiten aufgegriffen habe, beschreite mit einem solchen mutigen Blick auf die Gegenwart und junge Generationen neue Wege, sagte Festivalleiter Karel Och. Auch der mit dem Regiepreis ausgezeichnete Film Slovo um einen Notar, der im Sommer 1968 in Schwierigkeiten gerät, weil er nicht der sozialistischen Partei angehört, in der Situation aber von seiner Frau stark unterstützt wird, zählte zu jenen leisen, unspektakuläreren Werken, die man unter den Preisträgern weniger vermutet hätte, auch wenn der Regisseurin Beata Parkanová ein großes, sympathisches Feingefühl für ihre Figuren attestiert sei.
Überragt wurde der Wettbewerb von drei auffallend künstlerischen Handschriften. In verregneten, dreckigen Armenvierteln in Okinawa entwickelt der Japaner Masaaki Kudo ein düsteres Sozialdrama um eine junge Mutter, deren Abstieg beginnt, als ihr Freund das letzte Geld versäuft. Ohne jegliche Unterstützung von ihren Eltern und ihrer Schwiegermutter muss die 17-jährige Aoi fortan – um die Miete bezahlen und den Lebensunterhalt für ihr Kind und sich bestreiten zu können – als Prostituierte ihr Geld verdienen. Sie gerät in eine Spirale der Gewalt, verliert schließlich ihre einzige Freundin, die ebenfalls Opfer von Gewalt wird und muss erleben, wie eine Kinderschutzorganisation ihr den Sohn wegnimmt. A Far Shore, auch vom Publikum in Karlovy Vary begeistert aufgenommen, wirkt wie eine japanische Antwort auf Ken Loach, den britischen Meister des Sozialdramas.
Ofir Raul Graizer, schon mit seinem zweiten Film zu Gast in Karlovy Vary und eine der interessantesten Persönlichkeiten des israelischen Kinos, verbindet die Tragödie eines Schwimmlehrers, den traumatische Ereignisse aus seiner Kindheit einholen, mit Bildern von großer Schönheit der Natur und Poesie. Wie sein erster Film The Cakemaker zeichnet sich America zudem mit sehr subtilen, scharfsichtigen, psychologischer Beobachtungen und einer gewissen Geheimnishaftigkeit aus. Graizer erzählt nicht alles aus und versteht sich darauf, die Spannung über weite Strecken zu halten, über die sich seine mit großen Zeitsprüngen gespickte Geschichte erstreckt.
Und in dem packenden griechischen dystopischen Thriller Silence 6 – 9 von Christos Passalis verbinden sich kafkaeske Impressionen mit bizarren Geräuschen, einsamen Landschaften aus den Bilderwelten eines Edward Hopper und dem Mysterykino eines David Lynch. Die Stimmen verschwundener Menschen, so heißt es, würden angeblich über Antennen auf Kassettenbändern aufgezeichnet. Mit seiner exzentrischen Handschrift erinnert Passalis unweigerlich auch an seinen griechischen Landsmann Giorgos Lanthimos. Es sollte nicht wundern, wenn die kommenden Werke dieses außerordentlichen Talents in wenigen Jahren auf den ganz großen Festivals ankommen.
Dass die drei Meisterwerke allesamt bei der Preisverleihung leer ausgingen, erscheint umso mehr als ein Skandal, auch wenn man sich – nicht nur in Karlovy Vary – an überraschende Jury-Entscheidungen gewöhnt hat.
Jedenfalls hat das iranische Kino schon weitaus stärkere Dramen hervorgebracht als Summer with Hope, das in Karlovy Vary den Kristallglobus für den besten Film gewann, die etwas konfuse Geschichte eines Jungen, der mit ehrgeizigen Unternehmungen dramatische Ereignisse auslöst, nachdem ihm die Teilnahme an einem Schwimmwettbewerb verwehrt wurde.
Nicht weniger überraschte der Spezialpreis der Jury für die leise meditative Studie You Have to Come and See it von Jónas Trueba, die mit einigen diskussionswürdigen Gedanken über Ansichten des Philosophen Peter Sloterdijk und verträumten Klavierklängen aufwartet, aber in seiner intellektuellen Reflektion doch zu dünn bleibt, um sich mit dem französischen Konversationskino eines Eric Rohmer messen zu können.
Ausgewählte Beiträge aus der Ukraine zeigte Karlovy Vary, wiewohl das bedeutendste und größte Filmfestival in Osteuropa, in Nebensektionen als tschechische Erstaufführungen, da die heiß begehrten Produktionen zuvor schon ihre Weltpremieren in Cannes oder Venedig feierten. Die Konkurrenz unter den großen Festivals hat – das zeigt sich daran sehr deutlich – offenbar noch zugenommen. Sogar die Science-Fiction-Satire The Ordinaries aus Deutschland, der viel beachtete Hochschul-Abschlussfilm von Sophie Linnenbaum, wurde schon kurz zuvor auf dem Münchner Filmfest ausgezeichnet.