Am 1. November wird Christine Dollhofer Geschäftsführerin des Filmfonds Wien. Die langjährige Crossing-Europe-Leiterin setzt damit ihre Leidenschaft, herausragendes Filmschaffen zu fördern und sichtbar zu machen, auf andere Weise fort.
Denkt man an Christine Dollhofer, so kommt einem eine umtriebige und mutige Trendsetterin auf dem europäischen Kino-Parkett in den Sinn, eine Wegbereiterin wie -begleiterin neuer wie renommierter Talente und eine verlässliche Förderin des anspruchsvollen wie vielfältigen Arthousekinos. Und dennoch gibt dies nur einen Bruchteil der Expertise wieder, der Leidenschaft der gebürtigen Oberösterreicherin auf den Stationen als Leiterin des Wiener Filmcasinos, Ko-Intendantin der Diagonale in Graz, Mitbegründerin des Filmfestivals Crossing Europe in Linz und als Festivaldirektorin über 18 Jahre. In einem Gespräch am Rande ihrer letzten Crossing Europe-Ausgabe zieht sie ein Resümee ihres Weges, skizziert den Wandel und enormen Bedeutungszuwachs der heutigen Filmfestivallandschaft für die Filmwirtschaft und gibt einen Ausblick auf ihre Ziele als Verantwortliche einer der bedeutendsten Förderinstitutionen Österreichs.
Trotz Ihrer international geschätzten Expertise haben Sie Ihr Heimatland nie verlassen, Ihre berufliche Laufbahn hat Sie vielmehr quer durch Österreich geführt.
Ja, es war mir immer wichtig, egal wo ich arbeite, das Umfeld zu kennen und selbst zu sehen, wie eine Stadt oder eine Region funktioniert, mit welchen Kreativen eine Zusammenarbeit vor Ort möglich ist. Und vor allem, wie man die Identität des Festivals so ausformuliert, dass es auch für die dort Lebenden, Arbeitenden und künstlerisch Tätigen von Interesse ist und einen Mehrwert bietet. Ich liebe Linz, diese Stadt ist großartig! Die Mittelstädte bieten grundsätzlich sehr viele Vorzüge: Sie sind sehr gut zu erfassen, sie sind sehr niederschwellig, und alle Kulturinitiativen sind sehr kooperativ und kollaborativ auf allen künstlerischen Ebenen – von den großen Häusern bis zur freien Szene. Selbstverständlich hat der Umstand, dass Linz Europäische Kulturhauptstadt wurde, das Interesse an europäischen Projekten wie an Kollaborationen mit Crossing Europe auch befördert.
Stellte die Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt ein Motiv dar, ein Filmfestival mit dem Fokus auf das europäische Filmschaffen zu gründen?
Nicht direkt, das war im Herbst 2003 noch zu ungewiss, als mich Wolfgang Steiniger, der Geschäftsführer der Linzer Programmkinos, ansprach. Seine Einladung, in Linz ein Filmfestival aufzubauen, hatte er sich wohl auch ein wenig kleiner und gemütlicher vorgestellt.
Mit dem Hintergrund der Diagonale hatte ich jedoch eine genaue Vorstellung davon, wie ein Filmfestival funktionieren und aussehen sollte. Es war mir sehr wichtig, zwischen der Viennale für das Weltkino und der Diagonale für die nationale Kinematografie ein europäisch ausgerichtetes Filmfestival zu positionieren. Zuvor hatte ich ein Programmkino, angeschlossenen an einen Filmverleih, geleitet und folglich einen Überblick, welche europäischen Filme ins österreichische Kino kamen und wie viel ungesehen blieb. Hieraus entstand die Idee, ein Festival den Filmen zu widmen, die im regulären Kinobetrieb keinen Platz mehr finden – speziell auch von Newcomern, also jungen Stimmen – innovativ, weltoffen, gesellschaftspolitisch, exzentrisch, künstlerisch. Diese hier in Linz zu versammeln und auch in Österreich völlig unbekannte Filmschaffende einzuladen, war entscheidend. Zudem basierte das Konzept auf kompetitiven Sektionen, auf Österreich-Premieren sowie dem Bedienen unterschiedlicher Publikumssegmente. Damit galt es, sowohl unterschiedliche inhaltliche Interessen als auch Europa und die Regionen abzubilden, aber dennoch auch dem regionalen Filmschaffen eine Plattform zu bieten. Es sollte ein Film-Hub geschaffen werden, auch um die Förderinstitutionen in die Pflicht zu nehmen.
Das vollständige Interview lesen Sie in unserer Printausgabe 10/2021
In den 18 Jahren, in denen Sie Crossing Europe erst konzipiert, initiiert und dann durchgehend geleitet haben, hat sich das Filmfestival immens entwickelt. Was war Ihr Erfolgsrezept?
Wir haben sehr klein begonnen, die erste Ausgabe 2004 förmlich aus dem Nichts geboren und das Festival dann sukzessive entwickelt. Auch bis wir finanziell hier ankamen, brauchte es Geduld und Hartnäckigkeit. Denn es ist wahrlich nicht so, dass bei Gründung eines Filmfestivals automatisch die Fördertöpfe offenstehen. Dass ich durch meine Leitung der Diagonale bereits viele Kontakte zu den überregionalen österreichischen Förderungsinstitutionen hatte, war dabei zwar hilfreich, aber trotzdem kein Freibrief. Dennoch halte ich es auch für wesentlich, dass ein Festival kontinuierlich, aber nicht zu schnell wächst und im Laufe des Prozesses auch immer das Team und das Publikum einbezieht.
Ich hatte 2003 eine konkrete Vision von Crossing Europe: Es sollte weltoffen und europäisch sein, international positioniert und eine entspannte Atmosphäre für Filmgäste bieten, eine Durchmischung aus Branchen- und Publikumsfestivals, ein Festival, bei dem die Autorinnen- und Autorenschaft im Zentrum des Festivals steht, also die Filmschaffenden und deren künstlerische Positionen. Und diese Vision hat sich auch tatsächlich realisiert. Wenn ich an die Edition im Jahr 2019 denke – und die durch Covid eingeschränkten Ausgaben einmal ausklammere –, da hatte sich das befriedigende Gefühl eingestellt, dass meine Vorstellung von Crossing Europe seine Entsprechung gefunden hat.
Unser Budget ist nicht exorbitant, umso mehr galt es, alles im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten auszuschöpfen. Vieles basiert auf der Leidenschaft für die Sache, einem Team, das gemeinsam an einem Strang zieht und natürlich einer guten Infrastruktur. Ohne das Kulturquartier, ohne die Kinos, ohne die vielen Partner oder auch den Willen der Stadt Linz, neben dem Ars Electronica Festival ein zweites überregionales Festival zu unterstützen, wäre Crossing Europe in der Form nicht möglich. Linz ist ja Unesco City of Media Arts, insofern konnten wir mit der Stadt eine perfekte Partnerschaft eingehen.
Wäre Linz Unesco City of Music geworden, wäre dann aus Crossing Europe ein Musikfilmfestival geworden?
Nein, sicherlich nicht. Zum einen wurde die Auszeichnung erst Jahre nach der Gründung von Crossing Europe vergeben, zum anderen stehen alle kulturpolitischen Entscheidungsträgerinnen und -träger parteiübergreifend hinter dem Festival. Es gab auch nie inhaltliche Einflussnahmen, programmatisch sind wir gänzlich unabhängig. Und es ist ja auch eine Bereicherung für eine Stadt, wenn man regionale und europäische Kreative zusammenbringt und ein Format bietet, das durch seine kulturelle Vielgestaltigkeit auch für einen anderen Spirit sorgt. Ohne jetzt zu viel Eigenlob zu verbreiten, aber in Summe hat das Festival auf unterschiedlichen Ebenen Relevanz und positive Effekte.
Welches waren Ihrer Ansicht nach die größten Meilensteine?
Ein wichtiger Meilenstein war, dass wir seit 2006 bis heute trotz des starken Wettbewerbs Creative Europe / MEDIA kontinuierlich als Förderpartner gewinnen konnten. In der Größenordnung von Crossing Europe ist diese Förderung eine wichtige finanzielle Säule. Aber auch das Gütesiegel war vor allem anfangs wichtig, weil man damit anderen Förderinstitutionen bestimmte Qualitätskriterien nachweisen konnte, zumal wir lange Zeit das einzige Festival in Österreich waren, das von MEDIA gefördert wurde.
Ein weiterer Schritt war die Initiierung des Netzwerks Moving Image Open Borders (MIOB), zunächst ein freundschaftlicher Zusammenschluss, heute ein institutionalisierter europäischer Festivalverbund vor allem rund um Fragestellungen zu Green Events, also einer ressourcenschonenden Festivalorganisation, Diversity- und Genderprogramming, den Umgang mit Rechteinhaberinnen und -inhabern, aber auch die Auszeichnung von herausragenden europäischen Filmen mit dem MIOB New Vision Award.
Doch der größte Erfolg ist aus meiner Sicht, dass es uns gelungen ist, das Festival in dieser Form zu etablieren und dabei auch ein kontinuierlich wachsendes Vertrauen beim Publikum zu erlangen und dabei vor allem auch junge Menschen fürs Kino zu begeistern. Also nicht nur Zuspruch bei eingeschworenen Film-Buffs oder bei der Filmkritik zu finden. Und das, obwohl wir de facto für das breite Publikum noch unbekannte Filmschaffende ins Zentrum rücken. Das bedeutete schon auch Arbeit, bis das Festivalprofil als solches akzeptiert und als Einladung angenommen wurde, auf eine Entdeckungsreise zu gehen und sich auch auf Überraschungen einzulassen. Mit den Jahren gibt es eine eingefleischte Fangemeinde, die dann fragt: „Na, haben Sie schon wieder spannende Filme für uns ausgewählt?“ Ich liebe das! Ich rede wahnsinnig gern mit den Leuten, die mich aus privatem Interesse und aus Freude am Kino ansprechen.
Die intensive Bindung des regionalen Filmschaffens zum Festival ist ebenso ein wesentlicher Punkt. Viele Filme, insbesondere im Low-Budget-Bereich, von Seiten der Kunstuniversität oder der Dokumentarfilmszene aus Oberösterreich, denken Crossing Europe als möglichen Ort der Premiere bei der Fertigstellung mit. Und ich schicke den Filmförderungen auch Aufstellungen der von ihnen geförderten präsentierten Filme, um deren Erfolg hervorheben und die Bedeutung der regionalen Förderung zu untermauern.
Neben all diesen Errungenschaften, sehen Sie auch Versäumnisse?
Ja, die gibt es sicherlich, aber die vergisst man schnell, weil man sich nicht ewig grämen möchte. Es sind mehr die positiven Dinge, die einem im Gedächtnis bleiben. Natürlich gibt es jedes Jahr Filme, die man gerne gezeigt hätte, aber die man nicht bekommen hat. Sei es aus rechtlichen Gründen oder weil noch eine Entscheidung eines anderen Festivals ausstand – das ärgert mich manchmal sehr. Aber das Publikum sieht ja immer nur das, was am Ende ins Programm kommt. Ansonsten müssen die Versäumnisse besser andere beurteilen, ich rede lieber über die Erfolge. Im Laufe der Jahre war es großartig mit zu verfolgen, was aus vielen der Filmschaffenden geworden ist, deren Debüts wir erstmals in Österreich gezeigt haben – wie Yorgos Lanthimos, Maren Ade, Alice Rohrwacher, Radu Jude, Ursula Meier, Ruben Östlund, Joanna Hogg, Joachim Trier, oder denen wir ein Tribute gewidmet haben wie Helena Trestikova, Sergei Loznitsa, Jaime Rosales u.a. Ich könnte jetzt aus jedem Land viele Filmpersönlichkeiten nennen, die auf den A-Festivals entdeckt wurden, dann bei Crossing Europe erstmals in Österreich zu sehen waren und eine erfolgreiche internationale Karriere einschlugen. Das ist natürlich eine große Freude.
Wir erleben seit Jahren einen Filmfestivalboom. Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Funktion des Filmfestivalsektors insgesamt verändert und welche Rolle kommt Festivals heute zu?
Die Rolle der Filmfestivals ist die einer kuratierten Auswahl. Denn durch das unglaublich wachsende Angebot an filmischen Inhalten ist es für das Publikum enorm schwierig geworden, sich zu orientieren und die interessantesten Filmwerke zu finden. Selbst wir, die wir das beruflich machen, können gar nicht mehr alles erfassen. Im Fernsehen und auf den Plattformen führte diese Entwicklung zu den Spartenkanälen und -programmen, welche spezifische Zielgruppen bedienen. Die Aufgabe von Crossing Europe als europäisches Festival ist es, unter den alljährlich in etwa zweitausend Kinofilmen, die allein in Europa produziert werden, herausragende Werke mit einer eigenen Handschrift und Position zu bündeln.
Gleichzeitig sind Festivals auch die Scouts neuer, oftmals junger Talente und geben selbstredend durch ihre Auswahl auch bestimmte Richtungen und Trends vor. Das heißt, sie nehmen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Kinematografie. Und tatsächlich kann man mittlerweile auch – sehr pauschal gesprochen – von einer Zweiteilung des Marktes sprechen. Es gibt den, salopp gesprochen, Festivalfilm und den Publikumsfilm. Dabei hat erster in Summe oftmals mehr Besucherinnen und Besucher als der Publikumsfilm, weil er möglicherweise weltweit funktioniert, während manche Publikumshits nur auf nationaler Ebene funktionieren. Und dazwischen die Glücklichen, die sowohl an der Kinokasse als im Festivalbetrieb punkten können, und dabei sei die weitere Verwertungskette jetzt mal völlig ausgeklammert.
Demnach haben sich Filmfestivals zwischenzeitlich über die Rolle einer vorgelagerten Auswertungsform hin zu einem eigenständigen Ökosystem entwickelt?
Ja, einerseits sind Filmfestivals die erste wichtige Etappe, die Aufmerksamkeit für einen Film generiert, in einer unendlichen Schleife an Auswertungsmöglichkeiten, vom Kino bis zu den Programmen von Fluglinien. Wir haben jetzt z.B. eine Kooperation mit der Österreichischen Bundesbahn, die Crossing Europe-Filme im Railnet anbieten. Oder aber unsere Crossing Europe-VOD-Premieren mit unserem Streaming-Partner, dem Kino VOD Club.
Aber gleichzeitig ist Filmfestival nicht gleich Filmfestival. Es gibt neben den A-Filmfestivals so viele unterschiedliche Festivalprofile, Sparten-spezifische oder Mission-orientierte, die ganz spezielle Interessen bedienen. Insofern würde ich eher von vielen Mikrokosmen sprechen, in einer Festivallandschaft geprägt von einem permanenten Wachstum und Umbruch, die auch für die Filmwirtschaft insgesamt wichtige Trends setzen.
Nach Bero Beyer, ehemals Direktor des Internationalen Filmfestivals Rotterdam, Claas Danielsen, ehemals Leiter des DOK Leipzig, sind Sie nun eine weitere Festivalleiterin, die an die Spitze einer Filmförderung tritt. Würden Sie sagen, dass sich Festivalleiterinnen und -leiter besonders für die Aufgaben einer Filmförderung eignen?
Jetzt sind es gerade einmal drei Festivalleitungen, die diesen Weg eingeschlagen haben. Eine fundierte Kenntnis in Bezug auf die Film- und Festivallandschaft zu haben, ist für diese Position sicher wertvoll. Bero Beyer war zudem Filmproduzent, und Claas Danielsen realisierte als Regisseur selbst eine Reihe von Dokumentarfilmen. Ich war in vielen Fördergremien, u.a. beim Österreichischen Filminstitut, beim Filmfonds Wien in der Auswahlkommission und nehme europaweit an Work in Progress-Präsentationen, Projekt-Pitchings oder Koproduktionsmärkten teil. Für das Internationale Filmfestival von San Sebastián war ich von 2011 bis 2021 Programmdelegierte für Deutschland, Österreich und die Schweiz und somit auch auf dem Laufenden speziell was den deutschsprachigen Raum betrifft.
Festivalleiterinnen und -leiter müssen immer das große Ganze im Auge haben und über ihren eigenen Bereich hinausblicken. Und voran steht natürlich die Leidenschaft für die Sache und die Wertschätzung der Arbeit der Kreativen und das Wissen, wie hart und wie kompetitiv diese Branche ist. Was es allein bedeutet, die Finanzierung für einen Film auf die Beine zu stellen; welche Vorarbeit dafür erforderlich ist; wie schwierig es für Filmschaffende ist, kontinuierlich arbeiten zu können uvm. Die Aufgabe aller Filmförderinstitutionen liegt meiner Meinung darin, nationale und internationale Entwicklungen genau zu analysieren, um Weichenstellungen zu setzen, die die Filmbranche in eine erfolgreiche Zukunft lenken, dabei aber die künstlerische Eigenständigkeit der Kreativen nicht zu torpedieren. Andererseits können Entscheidungsträger selbstverständlich nur Anreize schaffen und Akzente setzen. Fenster und Türen öffnen, also auch neue Dinge zulassen, ist hier meine Lieblingsmetapher. Unsere Gesellschaft ist im permanenten Wandel und damit einhergehend auch die Filmbranche und der Medienmarkt. Die Rezeptionsbedingungen und -gewohnheiten und des Publikums verändern sich und es muss darauf reagiert werden. Dies kann eine Institution alleine nicht leisten, das geht nur gemeinschaftlich. Man muss ja auch nicht alles neu erfinden, sondern kann an Best-Practice-Modelle anknüpfen. Dabei ist es wesentlich, nationale Barrieren aufzubrechen und über den Tellerrand zu blicken.