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Fernsehserien

Texte zu Seinfeld, Homicide, Geister, Sopranos, Battlestar Galactica, Lost, 30 Rock

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Texte zu unterschiedliche und interessante Fernsehserien.

SEINFELD (1989–1998)

The best „show about nothing“ ever made

Zwei relativ konventionelle Staffeln lang deutete wenig darauf hin, dass die von Jerry Seinfeld und Larry David (Curb Your Enthusiasm) erdachte Sitcom zum kulturellen Phänomen werden würde. Doch ab Staffel drei mutierte die Show zum Kunstwerk, das mit TV-Konventionen auf- und Preise abräumte, Quotenrekorde brach und in den USA Tagesgespräch war (hierzulande blieb der große Erfolg aus, möglicherweise war der kulturspezifische Humor Lost in Synchrondeutsch). Schon das Personal unterschied sich deutlich von anderen Sitcoms jener Zeit (Friends etc.), denn hier standen nicht unbedingt nette Menschen im Mittelpunkt, sondern selbstgerechte, mitleidlose, geradezu nihilistische Egozentriker. Dass man sich trotzdem mit ihnen identifizieren konnte, lag unter anderem an daran, dass sich die Handlung meist aus banalen Alltagssituationen ergab (was Seinfeld den Beinamen „the show about nothing“ einbrachte) und man dadurch ähnliche Verhaltensmuster an sich selbst entdecken konnte. Im Wesentlichen dreht sich alles um den Alltag vierer New Yorker Freunde: Der von Bakterienangst geplagte Superman-Fan und Stand-up-Comedian Jerry Seinfeld (Seinfeld selbst), die ebenso attraktive wie selbstsüchtige Elaine Benes (Julia-Louis Dreyfus), der komplexbeladene, chronisch arbeitslose George Costanza (Jason Alexander) sowie Jerrys Nachbar Cosmo Kramer, ein exzentrischer Hipster und Experte für quasi eh alles, der sich aus Jerrys Kühlschrank ernährt. Eine ergiebige Dynamik, die durch eine wahre Heerschar an Nebenfiguren ergänzt wird, von denen sich hier nur wenige aufzählen lassen: Da ist der Suppen-Nazi, der die Kunden wie Dreck behandelt (und die trotzdem wiederkommen, weil die Suppe göttlich ist); der Zahnarzt, der zum Judentum konvertiert, um jüdische Witze erzählen zu können; der Dirigent, der sich auch im Alltagsleben nur mit Maestro anreden lässt oder der hinterfotzige, zu jeder Bösartigkeit bereite Postbote Newman, Jerrys Todfeind. Auf der Erzählebene hielt neben allerlei Bizarrem die Postmoderne Einzug, wurde die Filmgeschichte von The Godfather bis Schindler’s List zitiert, drehte man schließlich in der Serie eine Serie über Jerrys Leben (das ja seinerseits der Ausgangspunkt für die Serie selbst war). In jeder Folge gab es einen Handlungsbogen, der mehrere Ebenen zusammenführte und in einer Schlusspointe kulminierte (die Writers Guild of America kürte Seinfeld zu der am zweitbesten geschriebenen Serie aller Zeiten, nur geschlagen von The Sopranos). Die Liste legendärer Folgen ist enorm, jeder Fan hat seine Favoriten: „The Betrayal“ etwa war eine rückwarts erzählte Folge, in „The Contest“ (Primetime Emmy) ging es um Masturbation, ohne dass das Wort ausgesprochen oder der Akt gezeigt wurde (was dennoch einen Tabubruch im US-Fernsehen jener Zeit darstellte) und in „The Opposite“ tut George das Gegenteil dessen, was ihm seine Instinkte sagen, was dazu führt, dass er ins Management der New York Yankees aufgenommen wird. Legendär ist außerdem so gut wie jeder Kramer-Moment – allein das Hereinstolpern durch Jerrys Tür führte verlässlich zu Szenenapplaus des Live-Publikums. Das Ende der Show erfolgte übrigens nicht aus Zuschauermangel, sondern weil Jerry Seinfeld aufhören wollte, solange die Luft noch nicht draußen war. Dafür lehnte er sogar das Angebot des Senders NBC ab, der ihm 100 Millionen Dollar fürs Weitermachen bot. OLIVER STANGL


Riget – Hospital der Geister (1994-1997)

Lars von Triers horrend reale Spitalsseifenoper

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“: Helmut Schmidt oder Franz Vranitzky? Egal. Lars von Trier, dem man vieles vorwerfen kann, aber nicht den Mangel an Visionen, hatte jedenfalls eine solche – und er ging nicht nur zum Arzt, sondern schuf sich gleich ein ganzes Krankenhaus. Das fiktive Reichskrankenhaus, kurz Riget („Königreich“), ist ein Kopenhagener Spital, in dem seltsame Dinge vor sich gehen und seltsame Menschen arbeiten. Erbaut wurde es 1910 auf einem trocken gelegten Sumpfgebiet – selten ein gutes Fundament. Neun Jahre später schlägt das Böse dort erstmals zu, als Mary, das uneheliche Kind des infamen Dr. Krüger, von ihrem Vater ermordet wird. Und noch Jahrzehnte später, ja, sogar nach der kompletten Moderniserung des Krankenhauses im Jahr 1959, können die Patienten des Riget, die meisten davon in neurochirurgischer Behandlung, die Klagen des toten Mädchens hören. Aber das ist längst noch nicht alles: Ärzte, Schwestern und Patienten treiben es auf den Operationstischen, Ärzte transplantieren Lebern, um sie wenig später wieder zu entfernen und jagen Laborratten im Keller. Zudem sterben immer wieder Patienten, die eigentlich geheilt werden hätten können – vielleicht auch wegen der Arroganz der Ärzte, die die Existenz des Übernatürlichen allzu laut in Abrede stellen.

Meister von Trier über sein zwischen Soap Opera, Reality TV und Horrorfilm angesiedeltes, aus elf Episoden bestehendes Werk: „Wir haben viel Zeit damit verbracht, die medizinischen Aspekte der Geschichte zu recherchieren, und ich darf sagen, dass die meisten der kleinen Geschichten, die in der Serie erzählt werden, auch wahr sind, sie sind von wahren Begebenheiten inspiriert. Erst später, während der Dreharbeiten, haben wir festgestellt, dass in Krankenhäusern noch weit absurdere Dinge vorzufallen pflegen, als wir uns jemals ausdenken hätten können.“ Sieht man Riget heute, stellt man fest, dass die Serie (es gab auch eine 280-minütige Kinofassung) die Zeit ziemlich gut überdauert hat. Neben allerlei optischen Gimmicks (Handkamera, Rot- und Gelbfilter) – es war die Zeit, als mehrere dänische Regisseure sich dem Dogma 95 verschrieben – bleibt ein starker Eindruck, vor allem, was das zwischen bedrohlich und schrullig schillernde Personal der Serie und die teils haarsträubenden Geschichten betrifft, in denen von Trier, der das Drehbuch gemeinsam mit Tómas Gislason schrieb, vieles von dem vorwegnahm, was heute ähnlich gelagerte Serien ausmacht. Seinerseits hat er sich ganz offensichtlich von B-Horrorfilmen der fünfziger Jahre inspirieren lassen und ein bisschen Lynch hier und eine Prise Cronenberg da eingestreut. Der großartige Ernst Hugo Järegård, den von Trier schon für seinen Kinofilm Europa (1991) verpflichtet hatte, spielte die Hauptrolle, den durchgeknallten schwedischen Chirurgen Dr. Helmer, dessen pathologischer Hass auf alles Dänische für manch prekäre Situation sorgt. Udo Kier ist als Wiedergänger des mörderischen Dr. Kröger und als Monster „Brüderchen“ zu sehen.

Visionär war nicht nur das Unterfangen des dänischen Filmemachers, der 1996 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, sondern auch der ORF, der die Serie prompt von Arte übernahm und sie in der legendären Nachtschiene „Kunst.Stücke“ in Originalfassung mit Untertiteln zeigte. Waren das noch Zeiten! ANDREAS UNGERBÖCK


Homicide: Life on the Street (1993–1999)

Kreativer Vorbote der vorherrschenden goldenen Ära seriellen Fernsehens  

Mitten in einem Polizeirevier Baltimores steht eine große Tafel, sorgsam in Spalten aufgeteilt, eine für jeden der im Morddezernat ermittelnden Beamten. In diesen Spalten werden penibel mit Filzstift die Namen der Mordopfer eingetragen, feinsäuberlich sortiert dem jeweils verantwortlichen Ermittler zugewiesen, in schwarz die gelösten Fälle, rot hingegen jedoch die noch ungelösten – eine Bilanz, an der die Aufklärungsquote jedes Ermittlers allgegenwärtig ist. Und nicht selten hat Rot einen Überhang. Das ist einer der ersten Eindrücke, die der junge Detective Tim Bayliss – und somit auch der Zuschauer –, mitnimmt, als er in der ersten Episode von Homicide seinen Dienst in besagtem Revier antritt. Schnell wird dabei deutlich, dass man das Erscheinungsbild des erfolgsgewohnten, smarten und souverän agierenden Cops, das bis dahin in Krimiserien vorherrschte, hier vergeblich suchen wird.

In der gegenwärtigen Hochblüte der seriellen Fernsehformate sind kreative Experimente, was narrative Strategien und  ungewöhnliche Charaktere angeht, zahlreich zu finden, doch zu Beginn der neunziger Jahre unterlagen vor allem Krimiserien recht strikten dramaturgischen Prinzipien.

Homicide brach ab Jänner 1993 in sieben Staffeln mit 122 Episoden auf mehreren Ebenen derartige Regeln konsequent auf. Basierend auf dem Buch „Homicide: A Year on the Killing Streets“ des Journalisten David Simon, der ein Jahr lang die Arbeit einer Einheit der Mordkommission in Baltimore begleitet hatte, sorgte Paul Attanasio als Autor und Mastermind für die visionäre Gestaltung, die der Serie zu ihrem legendären Ruf verhalf.

Zunächst steht nicht ein Kriminalfall im Mittelpunkt, dessen Auflösung mittels linearer Erzählstruktur – und das möglichst immer innerhalb einer Episode – abgearbeitet wird. Bei Homicide sind es immer mehrere Fälle, die höchst unterschiedlich stark gewichtet werden. Es sind nach konventionellen dramaturgischen Maßstäben oft banale Tötungsdelikte als Folge häuslicher Gewalt oder schief gelaufenen Drogendeals, deren Aufklärung nur wenige Filmminuten beanspruchen und die Ermittler weder kriminalistisch noch emotional stark beanspruchen. Im Gegensatz dazu wendet Homicide jedoch auch horizontale Erzählstrategien an, um manche Handlungsstränge über etliche Episoden hinweg zu entwickeln. Überhaupt wird in der Serie nicht der bis dahin übliche stringente Erzählduktus gepflegt. Homicide bezieht seine Unverwechselbarkeit auch dadurch, dass die Narration oftmals von den eigentlichen Ermittlungen abschweift, scheinbare Banalitäten des Alltags in den Mittelpunkt rückt – eine Folge spielt etwa ausschließlich im Polizeirevier, wobei sich alles um die nicht funktionierende Klimaanlage dreht –, aber genau durch dieses narrative Mäandern eine atmosphärische Dichte und Authentizität erreicht, die immer noch Seltenheitswert hat.

Möglich wird das auch durch eine Ensembleleistung, die ein ebenfalls ungewohnt differenziertes, vielschichtiges Bild der Protagonisten ermöglicht. Homicide erweist sich dabei als völlig unhierarchisch konzipiert, bei der die neun Hauptfiguren völlig gleichberechtigt zum Einsatz kommen. Verkörpert werden die acht Ermittler und ihr Vorgesetzter von einer Gruppe formidabler Charakterdarsteller, die davor und danach auch im US-amerikanischen Mainstream- und Independentkino unzählige Proben ihres Könnens abgeliefert haben. Daniel Baldwin, Richard Belzer, Ned Beatty, Andre Braugher, Clark Johnson, Yaphet Kotto, Jon Polito und Kyle Secor – so der ursprüngliche Cast – spielen die etwas anderen Cops mit all ihren charakterlichen Eigenheiten ebenso brillant wie uneigennützig. Hervorgehoben sei noch die formidable Melissa Leo, die als Detective Kay Howard nicht als Quotenfrau für die emotionalen Elemente sorgen muss, sondern wie selbstverständlich völlig gleichberechtigt zwischen ihren männlichen Kollegen agiert. JÖRG SCHIFFAUER


The Sopranos (1999–2007)

Zentralepos US-amerikanischer Erzählkultur

Ein Glückskind, wer die Sopranos noch vor sich hat! Tausend wohlklingende Textmelodien wurden darüber intoniert, keine war zuviel. Zehn, fünfzehn Jahre nach ihrer Entstehung wirkt die Epoche machende Serie frischer als die allermeisten Früchte, die inzwischen auf ihrem Boden gewachsen sind: eine Mafiasaga, epischer als die „Buddenbrooks“, wahrhaftig und witzig wie kein zweiter TV-Roman, der sich in die Nesseln des Familienlebens amerikanischer Emporkömmlinge gesetzt hat. Die Sopranos waren die Corleones der Jahrhundertwende, auf die zeitgenössische Zitatenebene gehoben, konfrontiert mit dem Niedergang der machoiden, bigott katholischen Einwandererkultur ihrer Vorväter und mit dem unaufhaltsamen Aufkommen der gierigen „Corporate Economics“ in den hinteren Winkeln der über Generationen von ihren Bossen kontrollierten Geschäftsviertel New Jerseys.

„Der Pate in Psychotherapie“, das griffige Schlagwort verstellte anfangs die Sicht. Wer zur Zeit der europäischen TV-Erstausstrahlung nur Seitenblicke hinein warf, fand vielleicht originelle Charaktere, überraschend explizite Gewaltszenen, tolle Dialoge, konnte aber nicht ermessen, in welch kunstvolle horizontale Erzählstruktur er da hineingeraten war, und nicht ahnen, dass es sich bei den Sopranos um die Blaupause eines neuen Autorenserienbooms handeln würde. Bis heute arbeiten sich Fortsetzungsserien daran ab, die Verknüpfung von episodischen, episodenübergreifenden, saisonalen und saisonübergreifenden Erzählsträngen so pfiffig hinzukriegen wie es Schöpfer David Chase und seinem unerschöpflichen Kreativteam von Terence Winter bis Matthew Weiner (oder z.B. von Peter Bogdanovich bis Steve Buscemi, die beide gespielt und Regie geführt haben) gelungen war.

Welche Serie hat so konzis erzählt von der Widersprüchlichkeit überholter Männlichkeitskonzepte, vom familiären Aufwachsen unter dysfunktionalen Bedingungen? Welche Serie hat so vulgär und zugleich feinsinnig berichtet von den Umbrüchen einer bis in die Kapillaren kapitalisierten Gesellschaft? Lauter kleine Wahrheiten stecken da drin, und sie summieren sich auf mehr als ihre Teile: über den Zusammenhang von Geld, Macht, Zuwendung und Liebe, über den Einfluss übler Laune in einer Umgebung narzisstischer Menschen, deren Probleme ständig überhand zu nehmen drohen, die sich selbst und andere belügen bis die Balken brechen, die immer zuerst an sich selbst denken, aus jeder misslichen Lage anderer Profit schlagen wollen. Irgendwann kann es auch die engelsgeduldige Dr. Melfi (eine bessere Besetzung als Lorraine Bracco ist bis heute unvorstellbar) nicht mehr fassen, wenn ihr Problempatient Tony (der unvergessliche James Gandolfini), zappelig und zornig auf seine Schwester oder seine tote Mutter oder seine Ehefrau Carmela (Edie Falco, wie Gandolfini wahrscheinlich in der Rolle ihres Lebens), wieder einmal komplett verdrängt hat, was er selbst schon alles verbrochen hat. Nicht zu reden vom kongenialen Dauercast oder den wunderbaren Gastschauspielern (mehrere sollten später selbst Serienhauptrollen bekommen), von der Noir-Einbettung in die Industriearchitektur New Yorks, von den legendären Songs am Ende jeder Episode. Das lebendige Bild eines Menschenzoos, smarter, lustiger, plastischer und drastischer vielleicht als jener, den man selbst bewohnt, und doch irgendwie benachbart: wie gesagt, ein Glückskind, wer den Besuch noch vor sich hat. ROMAN SCHEIBER


Battlestar Galactica  (2004-2009)

Keine Serie hat so schlüssig erzählt, was menschliche Zivilisation im neuen Jahrtausend heißt.

Man kann nicht behaupten, dass die Erwartungen hoch waren, als der eher für Billigproduktionen bekannte US-Kabelkanal Sci-Fi Channel (seit 2009 auf Syfy umgetauft) im Jahr 2003 ein weiteres Remake aus der Taufe hob. Mit Battlestar Galactica versuchte man sich an einer Neuauflage der gleichnamigen – hierzulande als Kampfstern Galactica gelaufenen – Spätsiebziger-Science-Fiction-Serie, die im Gefolge von Star Wars über die Bildschirme flimmerte und deren Erinnerung nur bei Nostalgie-Kultisten für Verzückung sorgte: Unter der Führung des einstigen Bonanza-Bosses Lorne Greene versuchten die letzten Überlebenden der menschlichen Rasse darin, einer überlegenen Roboter-Zivilisation der humanoiden Zylonen zu entkommen – Ziel: ein sagenumwobener Planet namens Erde …

Im Original war das hauptsächlich Vorwand für kindgerechte Action: Niemand rechnete damit, dass sich die Revision von Battlestar Galactica – Fankürzel: BSG – unter der Ägide des Star-Trek-erprobten TV-Produzenten und Autors Ronald D. Moore zur vielschichtigsten US-Serie des neuen Millenniums entwickeln würde – selbst der nunmehrige Avengers-Hausregisseur Joss Whedon, der mit Buffy u.v.m. Fernsehgeschichte geschrieben hatte, musste neidlos anerkennen: „So leidenschaftlich, konsistent, komplex, subversiv und herausfordernd, dass daneben alle TV-Konkurrenten wie Zwerge wirken.“

Was machte BSG so riesig? Eine schlagkräftige Mischung aus Action und Tempo, erstaunlicher Charaktertiefe (besonders erfreulich: der starke Frauenanteil!) sowie einem Vertrauen auf Intelligenz – nicht zuletzt diejenige des Publikums: Kaum eine Serie hat es gewagt, den Zusehern dermaßen vieldeutige Szenarien zuzumuten. Schon der dreistündige Pilotfilm bestach mit einem packenden, ungewohnt „schmutzig-realistischen“ Handkamera-Stil und eigenwilligen (Design-)Ideen fernab der antiseptischen Welt der meisten Science-Fiction-Serien.

Idealer Grundtenor für ein fiktionales Zukunftsuniversum, das kühn und direkt von einer scheinbar ausweglosen Gegenwart erzählte: Es herrscht der dauernde Ausnahmezustand des krisengeschüttelten Spätkapitalismus und die Suche der Menschheit nach einer Zuflucht führt zu Koloniengründungen und Nationbuilding, in denen sich die Geschehnisse des Irakkriegs und die sozialen Auswirkungen der Terrorismusbekämpfung spiegeln. Aber weder als simple Allegorien oder themenschwere Zeigefinger-Zeitgeistexegesen, sondern in hochspannend verdichteten, dabei folgerichtig aus den widersprüchlichen Figuren entwickelten Problemstellungen, oft mit geradezu diabolischem Sinn für Humor, stets mit Gespür für das ironische Auseinanderklaffen von hehren Idealen und (realpolitischen) Notwendigkeiten: Trotz leichten Abgleitens in esoterische Psychologie gegen Ende der vier Staffeln (überschattet vom Drehbuchautorenstreik 2008) hat keine Serie so schlüssig erzählt, was es im neuen Jahrtausend heißt, eine Zivilisation zu bilden und menschlich zu sein – ein Streben, das in BSG paradoxer- wie charakteristischerweise Zylonen und Menschen eint. CHRISTOPH HUBER


Lost (2004–2010)

Der gemeine „Lost“-Zuseher war ein konstant verunsicherter Masochist.

Das Ende von Lost hinterließ in manchen Zusehern ein schwarzes Loch etwa so groß wie zwölf Milliarden Sonnen. Bei den einen, weil sie – wie das bei Serien so üblich ist – von ihren parasozialen Beziehungen Abschied nehmen mussten und bei den anderen, weil sie sich um ein gebührendes Ende betrogen fühlten und die alles entscheidende Frage nicht eindeutig beantwortet wurde: Wo zur Hölle sind wir? Kaum eine andere Serie hat uns so konsequent verunsichert wie Lost. Sechs Jahre nachdem der Oceanic Flug 815 auf einer ominösen Insel abgestürzt war und sich die Überlebenden den großen Themen der Menschheit (Schuld und Sühne, Gut und Böse) sowie „Ureinwohnern“ und Rauchmonstern hatten stellen müssen, waren Jack und seine Gefährten in einer Art jenseitiger Wunscherfüllung gelandet, bevor sie alle auf ein strahlendes, weißes Licht zugingen.

Lost war nicht ohne Mängel und wer sich darauf einlassen wollte, der musste mit einer Hassliebe rechnen. Weite Strecken waren chaotisch, manipulativ und pathetisch, doch zwischen der ersten Einstellung, in der Jack Shepard seine Augen öffnet, und der letzten, in der er sie wieder schließt, liegen sechs Staffeln wunderbarer, erinnerungswürdiger Unterhaltung. Lost war eine der ersten Serien, die sich mitunter wie ein spannender, langer Film mit einer listigen Erzählstruktur anfühlten und eine virale Fankultur inspirierten, die von Woche zu Woche wilde Spekulationen anstellte – in einer Zeit bevor es gang und gäbe war, sich mit Serien an einem Nachmittag ins Koma zu glotzen.

Waren die Passagiere unwissentlich auf einer Insel der Seligen gelandet oder Teil eines psychologischen Experiments? Man wusste es nicht.

Es gab Helden und Antihelden, Anführer und Mitläufer, und ein ethnisch buntes Ensemble vor einer exotischen Kulisse, nämlich Hawaii. Da war ein ehemaliges Mitglied der irakischen Militärgarde; ein britischer, ausgebrannter Rockstar; eine junge, schwangere Australierin und ein koreanisches Ehepaar. Die flüchtige Kriminelle Kate war in ein Liebesdreieck verwickelt mit Jack, einem Arzt mit Helfersyndrom, und Sawyer, einem sexy Trickbetrüger.

Die Charaktere wurden in Rückblenden erforscht, zu denen sich später Blicke in die Zukunft, Zeitreisen und Paralleluniversen gesellten. Ja, es wurde einem höchste Konzentration abverlangt. Jede Antwort – wenn denn eine gegeben wurde – warf neue Fragen auf und wurde nicht selten als störend empfunden. Inzwischen ist allseits bekannt, dass die Serienschöpfer Damon Lindelof, Carlton Cuse und J.J. Abrams (nach einer Idee von Lloyd Braun) Rätsel in die Welt brachten, die sie niemals vorhatten zu lösen, denn fast jede Entscheidung der Serie wurde zu Beginn unter der Annahme getroffen, dass sie niemals ein Erfolg werden würde. Was die Insel nun war oder nicht war, wird auf ewig im Dunkeln bleiben und ist – ehrlich gestanden – völlige Nebensache. Lost war immer am besten, wenn die eigene Fantasie wieder einmal mit einem durchging. Wer will schon das Leben all seiner Geheimnisse berauben? MARIETTA STEINHART


30 ROCK (2006-2013)

Eine Gegenerzählung zum omnipräsenten Selbstoptimierungszwang

Die Komödie lässt alles leicht werden, gerade wenn die Wirklichkeit, führt man sich die Gesamtsituation einmal in Ruhe vor Augen, eher betrüblich ist. Arbeits- und Privatleben sind in den kapitalistischen Zentren einer rabiaten Ökonomisierung unterzogen, man rackert sich ab und wird zur ständigen Selbstoptimierung angehalten, überall. „Der Neoliberalismus will die ganze Persönlichkeit, die ganze Person, mit Haut, Hirn und Haaren“, schreibt Patrick Schreiber in seinem Buch „Unterwerfung als Freiheit“. „Der ideale Mensch ist aus sich heraus marktkonform, unternehmerisch und auf sich selbst bezogen.“ Dass man derartige Klagen seit etwa 20 Jahren immer wieder zu hören bekommt, lässt sie nicht falsch werden. Bloß sind sie eben auch nicht sonderlich unterhaltsam. Unter den aktuellen Gegebenheiten ein entscheidender Mangel, kaum jemand hört noch Soziologen zu.

Besser: Man schaut alle 138 Folgen von 30 Rock. Dann weiß man, wie der Laden läuft und ist gewappnet, für alles. Die von Tina Fey, dem klügsten und komischsten Menschen auf diesem Planeten, mit einem Team von bestürzend hochbegabten Autorinnen und Autoren geschriebene Serie führt in eine der Herzkammern des neoliberalen Leviathan: die Unterhaltungsindustrie.

30 Rock schaut mit liebevollem Blick auf die postmodernen Arbeitstiere. Zentrum der Plots ist das Produktionsteam der „Girlie Show“, einer trashigen NBC-Comedy-Sendung. Die Karrierefrau mit Beziehungsproblemen, die narzisstisch gestörte Schauspielerin, der von Wahnvorstellungen gebeutelte Comedy-Star, der trottelige Page, der erzreaktionäre Chef (Alec Baldwin in der Rolle seines Lebens) – alle werden als Typen eingeführt, die in ihrer Dysfunktionalität vor unseren Augen wieder zu Charakteren werden dürfen. Liebenswert ist, was nicht im hochtourigen Betrieb aufgeht, der unverdingbare Rest, und zwar im Kleinen (die Essensreste auf der Bluse und andere Peinlichkeiten) wie im Großen (die idiosynkratischen Obsessionen nahezu aller Beteiligten wie zum Beispiel der enorme Mutterkomplex der Alec-Baldwin-Figur).

Die Witzdichte ist enorm: Gäbe es die ehrenvolle Sitcom-Konvention der vom Band eingespielten Lacher noch, man hätte die sieben Staffeln mit eine durchgängigen, circa 50-stündigen Gelächter unterlegen können. 30 Rock ist es gelungen, an die besten Momente der amerikanischen Screwball-Comedy anzuschließen. Nun ist Relevanz im deutschsprachigen Raum noch immer mit heiligem Ernst assoziiert. Dass hier Relevantes verhandelt wird, wurde trotzdem nicht übersehen. Bloß wurde 30 Rock als selbstreferenzielle Satire auf die amerikanische Kulturindustrie rezipiert. Das ist natürlich richtig, das Ganze geht darüber aber noch hinaus: 30 Rock ist eine lebenslustige Gegenerzählung zum omnipräsenten Selbstoptimierungszwang, ein Plädoyer für Eigensinn und liebenswerte Wurstigkeit.

Sie finden, dass ein trockenes Traktat wie dieses dem hochkomischen Meisterwerk, das diese Serie ist, nicht gerecht wird? Man soll in Rezensionen keine Witze nacherzählen. Ich kann Leserin und Leser nur versichern, in jeder Staffel von 30 Rock gibt es mindestens zwei Folgen, während derer ich mich vor Lachen, Stichwort Dysfunktionalität, fast eingenässt hätte. BENJAMIN MOLDENHAUER