Vor 80 Jahren, am 1. Mai 1941, wurde Orson Welles’ „Citizen Kane“ in New York uraufgeführt. Mit den Erinnerungen an Aufstieg und Fall eines Presse-Tycoons als eine Enzyklopädie filmischer und akustischer Möglichkeiten begann das US-amerikanische Autorenkino.
„Welles war der bedeutendste deutsche Expressionist in
der angelsächsischen Welt, seit Citizen Kane das amerikanische
Kino mit dem Virus der künstlerischen Ambition
angesteckt hat.“ (Andrew Sarris, 1968)
First Person Singular
RKO (Radio Keith Orpheum / Radio Pictures): In den Dreißigern hatte dieses Studio King Kong (1933) und Walt Disneys Snow White (1937) herausgebracht, auch Howard Hawks’ Bringing Up Baby (1938) entstand für RKO, das durch Musicals mit Fred
Astaire und Ginger Rogers seine größten Erfolge hatte. Allein dem kleinsten der fünf großen („Major“)-Studios mangelte es, neben allen Rendite-Prioritäten seiner Großinvestoren bzw. Rücksichtnahmen auf das „Bread-and-Butter“-Geschäft, etwas an Prestige, Klasse, stilistischer Identität. Derlei Qualitäten versprach man sich von Orson Welles, dem jungen Talent („Er ist der Mephistopheles zu seinem eigenen Faust“, so sein langjähriger Produzent John Houseman), dem spätestens mit der massiven Resonanz auf seine Hörspiel-Produktion „The War of the Worlds“ nach H.G. Wells das Image eines genialen Innovators anhaftete, und nahm ihn für zwei Filme unter Vertrag, bei denen ihm – ein seinerzeit außergewöhnliches Zugeständnis – völlig freie Hand gelassen wurde; nur für die Auswahl der Stoffe behielt man sich eine Mitentscheidung vor.
Welles’ erstes Projekt für RKO, „Heart of Darkness“, eine Verfilmung von Joseph Conrads Novelle, überstieg nicht nur die Kostenplanung um das Doppelte. Welles beabsichtigte darüber hinaus, den ganzen Film aus der Position einer „subjektiven
Kamera“ zu drehen. Das Filmbild sollte mithin der Perspektive des Erzählers entsprechen, welcher im afrikanischen Dschungel auf den verrückt gewordenen Colonel Kurtz trifft. Hollywoods Erzählprinzipien aus dem Blickwinkel des unsichtbaren Zuschauers, dem sich die Handlung dialogisch in Schuss-Gegenschuss-Abfolgen auflöst, erschienen damit zur Gänze außer Kraft gesetzt. Zudem entsprach die Idee, Kurtz, die Hauptfigur der Conrad-Vorlage, als Faschisten darzustellen, nicht den Vorstellungen des Studios, das sich auch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Zugang zu den Absatzmärkten in Übersee nicht vorab versperren wollte.
Welles sah sich, wie bei seinen Radioinszenierungen, als das große Subjekt, „First Person Singular“, in mehreren Rollen: als Kurtz ebenso wie als unsichtbarer Erzähler Marlow. Die Rolle des unsichtbaren, in seinem Werk aufgehobenen Regisseurs, der auch im Rahmen der herrschenden Eigentumsverhältnisse Hollywoods und seiner Studiopolitik als geistiger Beweger zu flottieren vermochte, entsprach nicht seiner Vorstellung von einem Kreativen. „Ladies and Gentlemen, this is Orson Welles“, der erste Satz jenes Drehbuchs, dem die Lippen des sprechenden Orson Welles in Großaufnahme folgen sollten, erscheint schließlich eingangs von Citizen Kane, assoziiert mit dem Tod – hier nur als Bild der Lippen, die das letzte Wort aus dem Mund Charles Foster Kanes formen: „Rosebud“, ehe der Hand des Leblosen eine Glaskugel entgleitet, die eine Blockhütte in einer Schneelandschaft enthält – sie zerbricht, und in den Scherben spiegelt sich eine Krankenschwester, die den Raum betritt und das Tuch über Charles Foster Kane breitet.
Die prismatische Biografie
Aus Gesprächen mit dem Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz entstand ein Projekt Orson Welles‘ unter dem Arbeitstitel „American“. Der Journalist und Theaterautor Mankiewicz war in den zwanziger Jahren von New York nach Hollywood gekommen und galt hier als Außenseiter, Zyniker und Alkoholiker. „Das System der Großstudios war schuld, dass sich die Autoren häufig wie Menschen zweiter Klasse fühlten – ganz gleich, wie gut sie auch verdienten. Sie machten gute Miene zum bösen Spiel und lieferten eine Menge des besten Vergnügens – als Hollywood (…) noch ein vergnüglicher Ort war. Im Grunde aber waren viele ziemlich verbittert und deprimiert. Aber keiner war deprimierter, verbitterter und dabei vergnügter als Mank … ein perfektes Monument der Selbstzerstörung.“ (Peter Bogdanovich, „This Is Orson Welles“, 1994).
Die Idee, die Lebensgeschichte eines bedeutenden Menschen aus den Perspektiven verschiedener Zeitgenossen zusammenzusetzen, hatte er bereits in einem Stück über den Gangster Dillinger umgesetzt, nun wandte sich sein Interesse einer lebenden Figur zu, dem Medienmagnaten William Randolph Hearst, Inhaber zahlreicher Zeitungen und Rundfunkstationen. Mit Blick auf seine Figur des Charles Foster Kane sprach Mankiewicz von der „prismatischen Biografie“ einer Figur, der entgegen den prominenten Persönlichkeiten im Genre von Hollywoods Bio-Pics der dreißiger Jahre jeder Vorbildcharakter abging. Im Verhältnis zu den traditionellen Bio-Pics ist Citizen Kane „nicht nur revolutionär in seiner Psychoanalyse des kapitalistischen Zeitalters, sondern auch in seiner Organisation von Zeit: Jede lineare Konzeption der Zeit ist aufgehoben in eine Eigenzeit, die sich immer weiter vom historischen Verlauf entfernt.“ (Bert Rebhandl, „Orson Welles: Genie im Labyrinth“, 2005)
Wesentliche Teile des Drehbuchs schrieb Mankiewicz in Klausur in Victorville, ein paar Autostunden von Los Angeles entfernt, unter Aufsicht von Welles’ Produzenten John Houseman, der den Alkoholkonsum des Autors zu überwachen hatte und die fertigen Passagen gegenlas. Die Beiträge von Orson Welles und auch Houseman bestanden in der Gestaltung des zentralen Konflikts der Hauptfigur, Charles Foster Kane, dessen Karriere auf seine Trennung als kleiner Junge von der Familie basiert, eine Leere erzeugend, die er sein Leben lang weder durch geerbten Reichtum noch öffentliche, politische Macht, neurotische Affären noch eine immense Akkumulation von Kulturschätzen zu kompensieren vermochte. „Citizen Kane ist am Ende tatsächlich ein ‚American‘, ein zusammengesetztes Subjekt. Er trägt das Erbgut seiner Epoche in sich: Bodenschätze werden durch Kapitaleinsatz zu Kunstschätzen.“ (Bert Rebhandl)
Die Idee eines Schlüsselworts auf der Suche nach dem Bürger Kane, „Rosebud“, stammte wahrscheinlich von Mankiewicz, der dabei ein Fahrrad aus seiner Kindheit vor Augen gehabt haben soll. Den Namen Kane erfährt man nach dem Schlüsselwort zu Beginn, „Rosebud“, aus dem Wochenschaufilm, der die Journalisten, die ihn montiert haben, ratlos zurücklässt – ist er „Ford, Hearst oder John Doe?“ Ein Wort, „Rosebud“, wird zur These eines Leitmotivs für die Erzählung eines Lebens aus diversen Fakten.
Ein Kind des Finanzkapitals
Aus Rückblenden, die sich auf Befragungen und das Tagebuch des Vormunds beziehen, soll sich das Bild des wahren Kane zusammensetzen. Doch des Rätsels Lösung lässt den Betrachter leer zurück, Kane bleibt unfassbar. Die Kindheit, die Zeit, in der sich alles entscheidet/schon entschieden hat, wird übersprungen, allerdings: Die Parallelen zwischen Orson Welles und Charles Foster Kane treten deutlich zutage. Adoleszenz und Bildung, die in Citizen Kane in einer großen Ellipse, mit einem Schnitt übersprungen sind, sah François Truffaut durch die Entwicklung des jungen Amberson in Welles’ folgendem Film für RKO, The Magnificent Ambersons, nachgeholt.
Der megalomanische Tatmensch Kane, der sich als „American“ definiert, bleibt nicht festgelegt, auch was seine politischen Urteilsfähigkeiten und Erwartungen betrifft, etwa der, dass es keinen Krieg geben werde (zu sehen im Newsreel zu Beginn), er bleibt ein Kind, das Kind des Finanzkapitals: „Das Geld ist seine Familie, und das Familiendrama in Citizen Kane ist eines der Investition“, so Bert Rebhandl, „Kane möchte, um sich von dieser ungeliebten Familie zu emanzipieren, das Kapital gegen dessen eigene Vermehrungsinteressen verwenden.“ Er möchte es gegen die Bankvormundschaft in den Dienst der Demokratie stellen, sich die Liebe der Massen sichern in Gönnerpose, ohne Instanzen außerhalb seiner selbst anzuerkennen.
Mit der Glaskugel-Symbol seiner in winterlichem Erinnerungsbild festgefrorenen Kindheit – ist auch jene Trennungsszene verbunden, in der Kane als Achtjähriger dem Vertreter einer Bank übergeben wird. Ein Bild zeigt den Vater und die Mutter, die den Sohn weggibt, um ihn vor seinem Vater zu schützen, mit dem bestellten Vormund vorn in einem Raum, während der kleine Charles draußen, fern hinter dem Fenster im Schnee sichtbar ist. Die Tiefenschärfe, in der diese Einstellung beispielhaft die Ebenen des Bildes umfasst, lässt die Zeitdimension in dieser Darstellung zur Geltung kommen.
Tiefenschärfe
Welles’ wichtigster Mitarbeiter an Citizen Kane, der Kameramann Gregg Toland, war ein Glücksfall für das Projekt, weil er mit Welles darin übereinstimmte, den Film in „pan-focus“ (Toland) zu drehen, Einstellungen, in denen Vorder- und Hintergrund gleichermaßen wichtig waren. In seinem Text „Wie ich in Citizen Kane die Regeln gebrochen habe“ begründete er sein „System der ‚visuellen Realität‘“ mit der beabsichtigten „Annäherung an die Sichtweise des menschlichen Auges“ im Gegensatz zur damals in Hollywood üblichen Steuerung des Blicks; bis zu sechzig Meter Tiefenschärfe waren ihm optisch möglich, was dazu beitrug, viele Szenen als Plansequenzen, einzelne große Kompositionen zu gestalten, sodass im räumlichen Kontinuum eine Gleichzeitigkeit faktischer, psychischer, metaphorischer Qualitäten bestehen konnte. Bilder mit großer Tiefenschärfe hatte Toland bereits vor Citizen Kane, etwa für William Wylers Film Little Foxes aufgenommen.
Es sei keine Übertreibung zu sagen, erklärte André Bazin in „Die Entwicklung der Filmsprache“ („Qu’est-ce que le cinéma“, 1975; dt.: „Was ist Kino“, 2004), „Citizen Kane definiere sich einzig und allein in der Schärfentiefe. Die Ungewissheit, in der man zurückbleibt, was den geistigen Schlüssel oder die Interpretation betrifft, ist zuallererst in den Aufbau der Bilder selbst eingeschrieben.“ Welles’ Film führe die Mehrdeutigkeit wieder in die Struktur des Bildes, markiere den Beginn einer neuen Ära, er sei „Teil einer umfassenden Bewegung, die das Kino in seinen Grundlagen erschütterte, Zeugnis für die Revolution der Sprache, die auf die eine oder andere Weise überall stattfand.“
Isolationismus und altes Europa
Noch vor Fertigstellung von Citizen Kane versuchte Hearst, durch eine Einschüchterungskampagne Einfluss auf die Film-industrie Hollywoods zu nehmen, so dass Louis B. Mayer (MGM) RKO-Präsident George Schaefer im Namen der gesamten Branche anbot, RKO die Produktionskosten zu erstatten, wenn im Gegenzug das Originalnegativ vernichtet würde. Hearst ließ Orson Welles als Anti-Amerikaner denunzieren, drohte dem RKO-Hauptaktionär Nelson Rockefeller und der Hollywood-Prominenz mit einer Enthüllungskampagne, die eine Jagd auf wahre Feinde Amerikas – gemeint sind Kommunisten und jüdische Flüchtlinge – eröffnen sollte, was das Interesse des intellektuellen Publikums an dem Film befeuerte. Nach kleinen juristisch angeratenen Korrekturen in den Dialogen brachte RKO den Film heraus, kommerziell im ersten Einsatz ein Misserfolg, da viele Kinos außerhalb der Großstädte den Film nicht ins Programm aufnahmen.
NS-Deutschland steht zur Zeit der Veröffentlichung von Citizen Kane auf dem Gipfel seiner Macht und militärischen Expansion, während der Film den Streit in den Vereinigten Staaten zwischen regressivem Isolationismus und außenpolitischem Engagement gleichnishaft kommentiert. Für Laura Mulvey („Citizen Kane“, 2000), so deute der Film an, „ist die isolationistische Position ein Zeichen für einen nicht aufgearbeiteten ödipalen Konflikt, der, weil er vorzeitig abgebrochen wurde, den Betroffenen an die Erinnerung des Verlusts und die Verdrängung von Geschichte kettet.“ Kane wendet sich Europa als Sammler von Kunstgegenständen zu, dem er in Xanadu ein Lagerhaus errichtet, er hat zuallererst ein museales Verständnis vom „alten Kontinent“, den er als Käufer von Antiquitäten bereist, als rastloser Akkumulator von Kulturschätzen ausbeutet, abgetrennt von der eigenen Herkunft, Vertreter einer Kultur ohne Basis. Zu Beginn nähert sich die Kamera jenem Anwesen hinter der Umzäunung – vorbei an einem Schild: „No Trespassing“ –, in Richtung auf ein Schloss auf einem Hügel, durch eine Landschaft kultureller Requisiten, bis vor ein Fenster, in dem es hell wird.
Labyrinth ohne Zentrum
Vom „sensationellsten Film, der jemals in Hollywood gemacht wurde“, war in der Premierenbesprechung der „New York Times“ die Rede, von einer „Rotation von Gedanken“, die an Jorge Luis Borges spätere Formel vom „Labyrinth ohne Zentrum“ denken lässt – nichts sei furchterregender. Jean-Paul Sartre erschien Citizen Kane „wie ein Roman, dessen Stil immer in den Vordergrund drängt und dessen Figuren man jeden Moment vergisst“ („Wenn Hollywood Problemfilme macht“, in: „Écran français“, 1945). Auch Siegfried Kracauer, in seinem ersten Text aus Amerika für die „Neue Zürcher Zeitung“, hielt sich bedenklich: „Die wahllose Häufung heterogener technischer Mittel verrät den Mangel eines aus sachlichem Zwang geborenen Stilwillens“, dagegen brachte ein anderer deutschsprachiger Emigrant in den USA, Bertolt Brecht, den Begriff Modernität in die Rezeption und schrieb nach einer Diskussion des Films mit Freunden in sein Journal: „Ich finde den Begriff eklektisch auf Techniken angewendet unfair, und eine Vielfalt von Stilen für eine Vielfalt von Funktionen modern.“
Der internationale Erfolg von Citizen Kane, der 1942 neun Oscar-Nominierungen (vier davon für Orson Welles) erhalten hatte, begann nach dem Krieg – zunächst in Europa. Für Frankreichs „politique des auteurs“ bildete der Film die Speerspitze gegen die Konventionen des „Qualitätskinos“, für Truffaut gab er den Anlass „zu einem großen Teil aller Cineasten-Berufungen“: Citizen Kane – „Film der Filme“ (François Truffaut, „Cahiers du Cinéma“ 177, April 1966); die Begeisterung für den Film schlug sich in den Listen der britischen Zeitschrift „Sight & Sound“ nieder, in denen alle zehn Jahre zwischen 1962 und 2002 Citizen Kane als bester Film rangierte. Als die Studios Ende der fünfziger Jahre begannen, ihre Archive an das Fernsehen zu verkaufen und Kinematheken Kino in Form von Werkreihen präsentierten, begann auch in den USA ein Comeback.