Das Filmmuseum rekonstruiert das Programm des „Festival du Film maudit“, das einmalig 1949 im französischen Biarritz stattfand.
Dass die Nouvelle Vague zumindest filmhistorisch die erste auch so genannte neue Welle war, die das Älterwerden schlecht verkraftet hat und ästhetisch zum bloßen Referenzphänomen verkommen ist, werden nicht einmal ihre beständigsten Verfechter leugnen. Wichtiger war sie womöglich als erfolgreich verlaufener Angriff einer Subkultur auf den Mainstream, der sie natürlich, wie in der Regel bei kommerziellen Erfolg versprechenden modischen oder kulturellen Trends, innerhalb kürzester Zeit verschlang. Da Subkulturen nicht nur aus Aufbegehren gegen, sondern auch aus Frustration über die Ignoranz seitens des Mainstreams entstehen, konnten also alle Beteiligten zufrieden sein: Die jungen Talente kamen an Produktionsmittel, die geschmähte Filmindustrie an bisher unerschlossene Marktsegmente. Und schon begann der Prozess der Kommerzialisierung, Historisierung und Selbststilisierung des Phänomens Nouvelle
Vague, deren Protagonisten bestenfalls immer noch reflektierte, ästhetisch anspruchsvolle, heitere Essay-Filme drehen wie etwa Agnès Varda oder Chris Marker, im schlechteren Fall eitle, selbstbezügliche Altherren-Filme wie Jean-Luc Godard oder Eric Rohmer.
Die romantischen Konnotationen, die mit dem Begriff der Nouvelle Vague verknüpft sind, haben wohl weniger mit Ästhetik oder Genie oder Rebellion zu tun als mit den heute rührend wirkenden halb-klandestinen Zusammenkünften, dem revolutionären Pathos und der unkonventionellen Öffentlichkeitsarbeit, durch die sich die Gruppe auszeichnete. Dass deren Mitglieder sich sofort zerstritten, als sie keinen gemeinsamen Feind mehr bekämpfen, sondern Produktionsmittel unter sich aufteilen mussten, gehört zur Mainstreamisierung ebenso dazu wie die Tatsache, dass ihre ästhetischen Auffassungen höchst unterschiedlich waren und zum Teil, wie sich später etwa am Beispiel der Filme von Claude Chabrol zeigte, gar nicht weit entfernt vom damals geschmähten cinéma de qualité.
Autorenkino
Das Festival du Film maudit, das 1949 in Biarritz stattfand – als Gegenfestival zu Cannes unter der Direktion von Jean Cocteau proklamiert –, gilt als erstes Festival des Autorenfilms und zeigte erste Kurz- und Spielfilme von später zur Nouvelle Vague gezählten Filmemachern wie Alain Resnais oder Jean Rouch und vor allem Spielfilme von deren Helden wie Nicholas Ray, John Ford oder Luchino Visconti in seiner neorealistischen Phase.
Viele der damals gezeigten Filme gehören inzwischen zum filmhistorischen Kanon, auch deswegen, weil die Filmemacher der Nouvelle Vague und andere Cinéasten nach ihnen so nachdrücklich darauf bestanden. Das konnten sie, weil sie von der Filmkritik kamen und sehr viele Filme gesehen hatten, bevor sie fanden, dass sie es selbst noch besser können. Immerhin unterschied sie das von einer Reihe späterer neuer Wellen, insbesondere von der des Neuen Deutschen Films, dessen Protagonisten sich gerne mit den Franzosen verglichen, es aber an Filmkenntnis nicht mit jenen aufnehmen konnten – was nur zum Teil daran lag, dass im Deutschland der Fünfziger Jahre historische Filme nur selten zur Aufführung kamen –, und das Filmemachen am liebsten gleich neu erfinden wollten. Für Regisseure wie Truffaut, Godard, Rivette, Chabrol mögen die 1949 in Biarritz gezeigten Filme Offenbarungen gewesen sein; sie nannten deren Regisseure Autoren, was dafür stand, dass sie darin keine arbeitsteilig hergestellten Durchschnitts-Studioproduktionen sahen, sondern genuine Meisterwerke, die durch den Einfluss ihrer Regisseure auf jede Produktionsphase eine individuelle Handschrift trugen.
Diese Haltung ist einfach nachzuvollziehen bei einem Film wie Kenneth Angers Fireworks (1947), den der damals 20-Jährige Amerikaner in der Wohnung seiner Eltern drehte: Es ist ein nicht-narrativer, 14 Minuten langer Bilderrausch, der später zum Meilenstein des Experimentalfilms erklärt und auf dem Festival du Film maudit mit dem Preis für den poetischsten Film ausgezeichnet wurde. Schwieriger wird es schon bei John Ford, dessen Film The Long Voyage Home (1940) von einer Schiffsreise erzählt, die vage an die endlosen Irrfahrten des mit einem Fluch belegten Fliegenden Holländers erinnert, oder bei The Shanghai Gesture (1941), dem exotisch-melancholischen Spielermelodram von Josef von Sternberg. Beide Regisseure inszenierten zu ihren besten Zeiten innerhalb einer äußerst effizienten Filmindustrie und waren keinesfalls unabhängig, noch nicht einmal im Sinne des Independent Cinema. Wenn es ihnen trotzdem gelungen ist, ihre ästhetischen Vorstellungen bei den Produzenten durchzusetzen, lag das vermutlich daran, dass sich ihre Filme verkauften, was sie nicht schlecht, aber das Verklären unnötig macht.
Interessant ist auch der Fall Helmut Käutners, dessen retrospektiv neorealistisch oder auch impressionistisch genannter Film Unter den Brücken (1945) ebenfalls 1949 in Biarritz zu sehen war. Die noch im Zweiten Weltkrieg gedrehte, aber in den Wirren des Kriegsendes nicht mehr aufgeführte Flussschiffer-Saga war das viel versprechende Debüt eines Regisseurs, dem in den Fünfziger und Sechziger Jahren nur noch wenig Überdurchschnittliches gelang und der bald selbst für eine Art von Kino stand, das schließlich vom Neuen Deutschen Film abgelöst wurde.
Vielleicht am interessantesten am Programm von 1949 sind Filme wie René Clements La Bataille du rail (1946), Jean Vigos Zéro de conduite (1933) oder Leopold Lindtbergs Die letzte Chance (1945), weil ihre Regisseure aus lauter Überzeugtheit von der Sache wirklich etwas wagten, indem sie keine Kompromisse eingingen, nicht nur auf der ästhetischen, sondern auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene: So erzählt Vigos karger, kalter Internatsfilm vom Aufbegehren einer von ihren Lehrern drangsalierten Schülergruppe und wurde prompt von der Zensur verboten. So zeigt La Bataille du rail unaufgeregt und ohne Agitprop-Attitüde die Arbeit der Résistance am Beispiel der Bahnsabotage, und so ist Die letzte Chance eine Abrechnung des gebürtigen Österreichers Lindtberg mit der Asylpolitik der Schweiz, wohin er selbst vor dem Nationalsozialismus geflohen war. Es sind buchstäblich geschmähte Filme, films maudits.