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Film & Musik – Bild-gewaltig

Bild-gewaltig

| Helene Sorgner |

Das Wiener Konzerthaus lädt zu vier Film-und-Musik-Abenden im Großen Saal: Auf dem Abo-Programm 2010/11 stehen Stummfilmraritäten zwischen Grusel und Slapstick mit Live-Musik von Prokofjew bis Nyman.

Großes Kino muss nicht immer aus der digitalen Trickkiste kommen, und für bildliche Sogwirkung braucht es nicht unbedingt 3-D. Dass die Regisseure der Stummfilmära nicht weniger trickreich mit filmischem Material umgehen konnten als die Animations- und Actionkünstler unserer Tage, wird das Wiener Konzerthaus auch diese Saison im Rahmen des Zyklus Film + Musik anhand von vier ausgewählten Beispiele eindrucksvoll demonstrieren.

Bilder-Reigen

Gleich der erste Termin am 7. Oktober ist mit Dziga Vertov einem der Großmeister des sowjetischen Kinos gewidmet, der vor allem durch seine markante Schnitttechnik gestalterischen Ausdruck mit handwerklicher Perfektion zu vereinen wusste. Sein Film Der sechste Teil der Erde ist rhythmische Bildersinfonie, episches Reisedokument und ethnografische Studie zugleich; vor allem aber ist er vom Fortschrittsoptimismus der jungen Sowjetunion getragene Propaganda für das kommunistische Projekt. Entstanden im Jahr 1926, porträtiert er in einprägsamen Sequenzen die Einwohner des Hundertvölkerstaates, die – vom einsamen Jäger in der sibirischen Tundra bis zum Karawanenführer südlich des Kaukasus jeder in seiner traditionellen Arbeitsweise – gemeinsam Aufschwung und Wohlstand erarbeiten und sich nach und nach von den Überresten der alten Herrschaft, wie Religion und Patriarchat, befreien (sollen). Was zum großen Teil wie eine Sammlung von Impressionen aus einer anderen, längst vergangenen Welt wirkt, wird erst durch die Gegenüberstellung des kapitalistischen Westeuropa zur Propaganda; erst die parolenartigen Zwischentitel verleihen den Bildern auch politische Gewalt. Der britische Komponist Michael Nyman, bekannt durch seine Musik für Filme von Peter Greenaway und Das Piano, schuf im Auftrag der Konzerthausgesellschaft einen an Minimal Music erinnernden Soundtrack für den knapp 70-minütigen Film, der den treibenden Rhythmus der Bilder durch einen stetigen Fluss harmonischen Klangmaterials kongenial unterstützt. Im Konzerthaus wird Nyman selbst mit seiner Band auf der Bühne stehen.

Sowjetische Bildgewalt ganz anderer Art steht in Lev Arnshtams Romeo und Julia (5. November) auf dem Programm. Die Verfilmung aus den Fünfziger Jahren verspricht die volle Pracht des klassischen russischen Balletts inklusive opulenter Ausstattung und Kostüme, in der Hauptrolle ist mit Galina Ulanowa auch eine der großen Primaballerinen des vergangenen Jahrhunderts zu sehen. Sergej Prokofjews Ballettmusik „Romeo und Julia“, die dem Film und seinen Choreografien zugrunde liegt, gehört nach wie vor zu den meistgespielten Werken des Komponisten. Einzelne Themen, wie der „Tanz der Ritter“ fanden durch ihre Ohrwurmtauglichkeit Eingang in Funk und Fernsehen und somit ins kollektive Gehör; die großzügig instrumentierte Partitur besticht aber neben solchen dramatischen Höhepunkten und Dissonanzen an der Grenze zur Atonalität durch ebenso eindringliche lyrische Momente. Den Klangreichtum der vielseitigen Komposition bringen begleitend zum Film die Wiener Symphoniker unter der Leitung des Filmmusikspezialisten Frank Strobel zur Aufführung.

Kamera-Arbeit

Victor Sjöströms Körkarlen (Der Fuhrmann des Todes) wurde bereits im Rahmen von Wien Modern gezeigt, bei dieser Gelegenheit mit einem Soundtrack des Elektronik-Duos KTL. Im Konzerthaus wird am 31. Jänner 2011 die Interpretation des schwedischen Musikers Matti Bye zu hören sein, der für Sjöströms düsteres Meisterwerk eine traumwandlerische Komposition im Stil seiner psychedelisch angehauchten Folk Music schuf. Basierend auf einem Roman von Selma Lagerlöf, verlegt der Film die mittelalterliche Legende vom Fuhrmann des Todes, der die Seelen der Toten abholt und zu Neujahr vom letzten an Silvester verstorbenen Sünder abgelöst wird, ins triste schwedische Arbeitermilieu Anfang der Zwanziger Jahre. In Rückblenden werden verschiedene Ebenen der Erzählung zu einer komplexen Dramaturgie von Schuld und Erlösung verknüpft, die Bildsprache ist dem gruseligen Plot entsprechend dunkel gehalten und durchsetzt mit mystischen Elementen. Dafür wurden in aufwändiger Postproduktion mit damals gerade erst entwickelten Techniken wie der Doppelbelichtung (die mit von Hand geschwenkten Kameras besonders schwierig zu drehen war) und monochromen Einfärbungen verblüffende Effekte erzielt, die etwa die Geister tatsächlich durchsichtig erscheinen und die Gespensterkutsche schwebend über die Landschaft gleiten lassen.

Möglichst wenige technische Effekte, aber umso mehr Situationskomik und halsbrecherische Stunts zeichnen die Filme von Buster Keaton aus, der als letzter Meister der visuellen Kunst seinen Auftritt am 5. April 2011 hat. Bereits im Jänner 2008 gastierte Timothy Brock im Konzerthaus als Dirigent mit einer Aufführung seiner Neuvertonung von Keatons Film Sherlock Jr., diesmal werden seine Kompositionen zu den Kurzfilmen Cops und The Cameraman zu hören sein, live interpretiert vom Wiener Ensemble für zeitgenössische Musik „die reihe“. Beide Filme sind typisch für Keatons wegweisenden Stil des Slapsticks: Ein etwas linkischer junger Mann gerät bei dem Versuch, ein Mädchen für sich zu gewinnen, von einer haarsträubenden Situation in die nächste, übersteht alles einigermaßen unbeschadet mit unverändert stoischem Gesichtsausdruck und ist schließlich doch noch erfolgreich in seinem Vorhaben. Berühmt wurde etwa die Verfolgungsszene in Cops, in der er vor einer schier unüberschaubaren Horde von Polizisten flüchtet. Im 1928 entstandenen The Cameraman schließlich spielt das Filmen selbst eine wichtige Rolle: Ein junger Fotograf greift wegen einer hübschen Newsreel-Angestellten zur Filmkamera, lernt nach vielen Misserfolgen damit umzugehen und gewinnt schlussendlich seine Auserwählte auch noch – mit etwas Glück und dank der Macht der Bilder.

Zyklus Film + Musik live 2010/11
Konzerthaus Wien