Seit 2008 erscheint eine DVD-Edition zum Film noir, die mittlerweile auf zwanzig Titel angewachsen ist – Anlass zu näherer Betrachtung.
Verfolgungsjagden durch die Kanalisation der Stadt – zu denken an The Third Man – kamen mit He Walked by Night in die US-Kinos. Dieser Polizeifilm von semidokumentarischem Inszenierungsstil, basierend auf einem wahren Fall und an authentischen Tatorten gedreht, widersprach dem konventionellen Erzählmuster, dessen Personalisieren und Psychologisieren. Wie in entfernter Anlehnung an Fritz Langs M lenkt dieser Film über Räume, Fahndungsstrukturen und Prozeduren, flankiert von der Stimme eines allwissenden Erzählers, die Konzentration auf eine arbeitsteilige Polizeiarbeit; die Faszination für Forensik, für Kriminalwissenschaften, in der Folge über Radio- und TV-Serien bis zum heutigen Tag verbreitet (CSI), beginnt mit realistischen Filmen wie diesem, der eben nicht am Pulp-Genre ansetzt, sondern in der Tradition der True-Crime-Hefte steht. Die Bildgestaltung lag in der Verantwortung von John Alton, dem für den Film noir vielleicht stilprägendsten Kameramann, dessen Licht-und-Schatten-Malerei die schwarze Qualität dieses Filmens weitgehend ausmacht.
Hollow Triumph – ebenfalls geadelt von John Altons Kamera, mit Paul Henreid und Joan Bennett – entstand als B-Picture unter der Ägide von Eagle-Lion Films, einer „Poverty Row“-Adresse auf der dem Glamour gegenüberliegenden Seite Hollywoods. Ein Film, der vielleicht in den Noir-Kanon gehört, weil er alle typischen Motive enthält, fehlgeschlagene Überfälle, Rache unter Gangstern, die Annahme falscher Identitäten, Doppelgänger und Spiegelbilder, schließlich ein Finale von tödlicher Ironie, büßt der Held doch mit dem Leben für die Schulden, die jener scheinbar wohlständische Psychiater, dessen Identität er angenommen hat, angehäuft hatte. Immer entzieht sich etwas der Wahrnehmung, das sich später einmal Geltung verschafft.
Aus einer psychiatrischen Gefängnisklinik entlassen, wird ein Ahnungsloser (Ray Milland) in eine Kriminalgeschichte verwi-ckelt, die auf Nazi-Spionage fußt: Ministry of Fear. „Die Realität begegnet Milland wie der Reflex der Wahnvorstellungen eines Verrückten“ (Enno Patalas). Alle Ereignisse erscheinen unter täuschendem Aspekt; nichts ist, wie es scheint. Es gibt, wie so oft bei Lang, den falschen Blinden, zudem einen unheimlichen Wohltätigkeitsverein, dessen Beteiligte sich kurz darauf nicht auffinden lassen, einen freundlichen älteren Buchhändler, der ein Bombenattentäter ist; ein unangenehmer Verfolger entpuppt sich als solider Polizeiinspektor und der gut gelaunte, viel lachende Wohltätigkeitschef (eben jener Willy Eichberger, der in Max Ophüls’ Liebelei den lebenslustigen Theodor / Dori abgibt) stellt sich als Chef des ganzen NS-Komplotts heraus. „Lang inszeniert nicht das Sichtbare,“ so Enno Patalas, „sondern mittels des Sichtbaren das Unsichtbare.“
Ausgerechnet mit Son of Dracula (1943), seiner ersten Universal-Produktion nach dem Drehbuch seines jüngeren Bruders Curt begann 1943 Robert Siodmaks Noir-Phase, dessen Hell-Dunkel von hier an, wenngleich in völlig anderem Genre, die Szene dominiert. Phantom Lady wurde gleich ein Prototyp des Film noir: Urplötzlich gerät ein Mann in Verdacht, seine Frau ermordet zu haben. Doch den betreffenden Abend verbrachte er mit einer anonym gebliebenen Zufallsbekanntschaft, die als Zeugin verschwunden bleibt, also kein Alibi bieten kann. Die Suche nach anderen Zeugen bleibt ergebnislos. Eine einzige unsichtbare Verschwörung scheint hinter jeder Szenerie zu lauern, und die Straßen, Bars, die verwahrlosten Keller und Metrostationen, inmitten der gleißenden Metropole New York liegen sie düster-realistisch im Schattenreich (Kamera: Ellwood Bredell, nach Anleitung von Eugen Schüfftan). Auch gibt es einen „diskreten Avantgardismus“ (Karl Prümm) formreflexiver Einsprengsel, angehaltene Narrationen, Brechungen des Erzählens: „Die vielleicht brillanteste Sequenz seiner amerikanischen Filme ist die Visite im Jazzkeller aus Phantom Lady. Sie gibt zu erkennen, daß Siodmak ein Bewusstsein davon hatte, daß seine Noirs etwas zu tun haben mit den gleichzeitig aufbrechenden kreativen Potentialen des Jazz.“
Geradezu den quintessenziellen Film noir einschließlich aller Elemente des Genres schuf Siodmak mit The Killers, dem Ernest Hemingways Short Story Titel und Einstiegsakt liefert. Es gibt die durchtriebene Femme fatale (Ava Gardner als Kitty), die routiniert-brutalen Killer, einen zähen, von einem magischen Interesse jenseits reinen Eigennutzes motivierten Ermittler, einen durchinszenierten Raubzug, um dessen Beute man einander betrügt, und einen hoffnungslosen Helden, den früheren Boxprofi Swede (Burt Lancaster in seinem Filmdebüt), der seine Mörder in seiner dunklen Kammer erwartet – „Once I did something wrong“. Düstere Szenerien und ausweglose Innenräume grundieren die Handlung, eine harte Lichtsetzung schaffte lange Schlagschatten. Von seinem Ende her, in zehn Rückblenden, wird das Leben des Helden über Erinnerungen verschiedener Zeugen aufgerollt, die das Mosaik um immer ein weiteres Stück ergänzen, eine multiple Erzählweise – nach Art von Citizen Kane (1941). Die Welt – darin zeigt sich womöglich das Hauptkriterium einer Film-noir-Story – wird durch die Aufklärung einer Geschichte wie dieser, die ausging von der mysteriösen Selbstaufgabe des Helden, einem Handeln gegen jede Triebkraft der Selbsterhaltung wie gegen das konstitutionelle Recht auf „the Pursuit of Happiness“, nicht besser. Die besondere, vordem ungekannte Illusionslosigkeit, mit der diese Filme abgefeimteste Formen von Betrug, Korruption und Triebdurchsetzung als Gegebenheiten in die Handlung integrieren, vermittelt sich ebenso kameraperspektivisch und in der Lichtsetzung wie szenendialogisch und raumatmosphärisch. Das zentrale, geplante Verbrechen erzählt Siodmak in einer umwerfenden ungeschnittenen Kamerakranfahrt, die den Überfall auf das Lohnbüro einer Fabrik dokumentiert, während parallel die Zeitungsmeldung von diesem Raub verlesen wird. Es ist eine der wenigen Szenen des Films, die bei Tag spielen. Diese Einstellung der Überquerung einer Werksgrenze nahm Harun Farocki 1995 in seinen prototypischen Film zum Projekt eines visuellen Archivs, einen Film, der auf Lumières Werktor-Aufnahme am Anfang der Filmgeschichte zurückgeht – Arbeiter verlassen die Fabrik.
Der nächtliche Tatort eines Mordes – an der Wand ein zersplitterter Spiegel: The Dark Mirror. Zwillingsschwestern, die keiner zu unterscheiden vermag (Olivia de Havilland; die optischen Zwillingseffekte schuf Eugen Schüfftan), werden verdächtigt, aber zumindest eine hat ein Alibi, so dass die Anklage eingestellt wird. Die Identifizierung des mörderischen Zwillings gelingt über Tests, die der Psychiater (Lew Ayres) mit ihnen anstellt, auf die sich beide einlassen, das bad girl von beiden ganz im Vertrauen auf seine Verführungskunst, die am diagnostischen Befund des Experten nichts ändern kann – dass eine seelische Entwicklungsstörung und das Fehlen jeglichen Gewissens vorliege. Bei aller Gleichheit scheint bewiesen: „Even nature can’t duplicate character“.
Mit dem Blick durch das Rückfenster eines Autos auf eine leere Straße beginnt Detour, on the road, transkontinental in Richtung Westen. Ein Mann, Al, schwitzend, ungepflegt, aggressiv, auf die Hilfe Vorbeifahrender angewiesen, ist sichtbar am Ende. In einem Diner erinnert ihn eine Melodie aus der Jukebox, die ihn mit Sue verbindet, „Can’t Believe That You’re in Love With Me“, an die Anfänge der verhängnisvollen Geschichte, in die er geraten ist. Der Song löst die Handlung als Flashback aus. Verdunkelung um ihn her, Lichtstreif auf Augen und Plattenteller, die surreale Perspektive auf eine überdimensionierte Kaffeetasse, all das begleitet von Als anhaltender Off-Stimme, verschieben den Film in ein fieberhaft-expressionistisches Inneres.
Anonyme Durchgangsorte, Bars, Motels minimieren den Production-Design-Aufwand von Detour, dieses in sechs Tagen gedrehten, später berühmt gewordenen B-Pictures mit Szenen im Nebel, vor nackten Wänden, Highway-Rückpros im Heckfenster. „In den moralischen Geschichten Ulmers müssen Schulden am Ende immer bezahlt werden“, schreibt Tag Gallagher („Edgar Ulmer et ses «miracles»“, 2002) und weist auf das korrumpierte Gewissen des Helden, das im Widerspruch zwischen Als ausgiebigem Voice-over und seinen Handlungen zum Ausdruck kommt. In seiner Studie über Detour, „Masculinity and Masochism“ (2008), diagnostiziert Reynold Humphries die Hauptfigur, der die Unterwerfung unter das Gesetz, das Symbolische, nicht gelungen sei, als masochistisch, passiv und infantil, von Schuldgefühl getrieben; in Ulmers Detour erkennt er „Hollywoods vollständigste Manifestation von Freuds Todestrieb (Death Drive)“. Als sadistische Furie tritt die lebensgierige lungenkranke Hitchhikerin Vera in Als Leben – schneidend, boshaft, verschlagen, ein Raubtier, das sein ohnmächtiges Opfer nicht aus den Klauen lässt. Mit ihr kehrt das Verdrängte wieder, durch die perverse Scheinehe der beiden zeichnet Ulmer ein „brutal portrayal of the reversal of gender authority“ (Humphries).
Ein unlängst erschienenes, schweres schwarzes Buch, ein Möbel von einem Filmbuch – „Film Noir. 100 All Time Favourites“ (Hg.: Paul Duncan/Jürgen Müller; Köln: Taschen 2014) – deklariert seine Allzeit-Favoriten, zu denen aus der Film Noir-Collection u.a. die Titel Phantom Lady, Detour und The Killers zählen. Allerdings tasten sich die Herausgeber im Bestreben, einen Kanon festzulegen, über Filme wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari, Hitchcocks The Lodger, Fritz Langs M und Quai des Brumes von Marcel Carné gewissermaßen im Jahrhundertmaßstab an die zentrale Phase der schwarzen Vierziger- und Anfang-Fünfziger-Jahre heran. Bemerkenswert auch, dass der maßgebliche Essay des jungen Paul Schrader, „Notizen zum Film noir“ (erschienen in „Film Comment“ 8/1972; dt. Erstübers. von Wolfram Benda, in: Filmkritik Nr. 238, Oktober 1976) hier immer noch als Eröffnungsbeitrag zum Thema fungiert. Alle Werke der „Noir-Collection“ besitzen Noir-Anteile, auch wenn sie nicht gleich als „Muster des Genres“ gelten müssen, es gibt so endlos viel mehr Noir in Filmen als Noir-Filme. Ein Prinzip, mit dem Schrader seine Bestimmung stilistischer Kategorien abschließt, lautet, sehr einfach: „Das WIE ist immer wichtiger als das WAS.“
FILM NOIR COLLECTION (chronologisch gereiht):
The General Died at Dawn (Der General starb im Morgengrauen, USA 1936, Regie: Lewis Milestone), Coll. Nr. 7; You and Me (Du und Ich, USA 1938, Fritz Lang), Coll. 6; The Uninvited (Der unheimliche Gast, USA 1944, Lewis Allen), Coll. 17; Phantom Lady (Zeuge gesucht, USA 1944, Robert Siodmak), Coll. 15; Ministry of Fear (Ministerium der Angst, USA 1944, Fritz Lang), Coll. 18; The Suspect (Unter Verdacht, USA 1944, Robert Siodmak), Coll. 16; Detour (Umleitung, USA 1945, Edgar G. Ulmer), Coll. 13; The Black Mirror (Der schwarze Spiegel, USA 1946, Robert Siodmak), Coll. 5; The Killers (Die Killer, USA 1946, Robert Siodmak), Coll. 19; The Blue Dahlia (Die blaue Dahlie, USA 1946, George Marshall), Coll. 1; Black Angel (Vergessene Stunde, altern.: Schwarzer Engel, USA 1946, Roy William Neill), Coll. 3; The Lost Moment (Briefe aus dem Jenseits, USA 1947, Martin Gabel), Coll. 10; Odd Man Out (Ausgestoßen, GB 1947, Carol Reed), Coll. 9; Desert Fury (Liebe gewinnt, USA 1947, Lewis Allen), Coll. 4; Hollow Triumph (Der Mann mit der Narbe, USA 1948, Steve Sekely), Coll. 8; The Big Clock (Spiel mit dem Tode, USA 1948, John Farrow), Coll. 2; He Walked by Night (Schritte in der Nacht, USA 1948, Alfred L. Werker & Anthony Mann), Coll. 12; The Black Book, auch: Reign of Terror (Das schwarze Buch, USA 1949, Anthony Mann), Coll. 14; Chicago Joe and the Showgirl (Chicago Joe und das Showgirl, USA 1989, Bernard Rose),
Coll. 11.
Im April 2015 erscheinen: D.O.A. (Opfer der Unterwelt, USA 1950, Rudolph Maté), Coll. 20 und Night Has a Thousand Eyes (Die Nacht hat tausend Augen, USA 1948, John Farrow) Coll. 21.
Jeweils mit Booklets von Thomas Willmann (für The Suspect: Frank Arnold)
Koch Media
Paul Duncan / Jürgen Müller (Hg.):
„Film Noir. 100 All Time Favorites“Die Geschichte des Film noir und seines zeitgenössischen Wiedergängers, des Neo-Noir, nachgezeichnet anhand von Einzelanalysen: Von den Ursprüngen im Stummfilm über wegweisende Werke wie „Zeuge gesucht“, „Frau ohne Gewissen“, „Im Netz der Leidenschaften“ oder „Vertigo“ bis zu „Chinatown“, „Heat“, „L.A. Confidential“, „Memento“ und zum jüngsten Neo(n)-Noir „Drive“.Einleitung: Paul Schraders legendäre „Notizen zum Film noir.“Taschen Verlag,
Köln 2014
Hardcover, 688 Seiten, € 39,99