Eindrücke von Dokumentarfilmen auf der 72. Berlinale
Insgesamt wurden auf der diesjährigen Berlinale 215 aktuelle Filme gezeigt, davon 50 dokumentarische Produktionen. Es war ein starker Jahrgang, sowohl von den Themen als auch den unterschiedlichen Handschriften und Stilen. Achtzehn dokumentarische Produktionen aus allen Sektionen waren für den Berlinale Dokumentarfilmpreis nominiert. Dieser Preis wird vom Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg mit 40.000 Euro dotiert. Die dreiköpfige Jury setzte sich aus der libanesischen Regisseurin und Tonmeisterin Rana Eid, der deutschen Kamerafrau Susanne Schüle und dem chinesischen Regisseur, Autor, Kameramann und Produzent Wang Bing zusammen.
Flucht und Vertreibung
Sie entschieden sich für einen sehr politischen Film, der das Publikum aufrütteln soll. Den Dokumentarfilmpreis gewann The Myanmar Film Collective für Myanmar Diaries (Panorama). In einer Videobotschaft vor dem Film machte das Kollektiv deutlich, dass für sie Film eine politische Waffe ist, um auf die Unterdrückung in ihrem Land aufmerksam zu machen. Ein Jahr nach dem Militärputsch ist Myanmar aus den internationalen Nachrichten so gut wie verschwunden. Neben Footage von der Niederschlagung von Protesten und willkürlichen Verhaftungen zeigt der Film den Alltag der für ihre Rechte und Demokratie kämpfenden Bevölkerung. Diese Perspektive unterscheidet ihn von der üblichen TV-Berichterstattung und berührt.
Die Jury vergab eine Lobende Erwähnung an No U-Turn (Panorama) von Ike Nnaebue, der eindringlich die Situation von afrikanischen Flüchtlingen auf der Busroute von Westafrika nach Marokko zeigt. Vor 21 Jahren ist er selbst geflüchtet und begibt sich nun noch einmal auf die Reise. Er spricht mit vielen der Flüchtlingen. Viele bleiben in einem der Länder hängen und versuchen sich dort durchzuschlagen. Denn zurück können sie nur, wenn sie die erhofften Reichtümer mitbringen.
Im Osten der Ukraine droht der Einmarsch russischer Truppen und hält die Welt in Atem. Der Krieg dort dauert schon Jahre und hat viele Opfer gefordert. Taras Tomenko zeigt in Terykony (in der Reihe Generation Kplus) den Alltag von Jugendlichen in diesem Gebiet. Nastya und Yaroslav versuchen sich mit ihren Freunden durch das Leben zu schlagen. Sie sammeln Geld als Sternsinger und Schrott aus den Ruinen, den sie nur schwer verkaufen können. Ihr Alltag zwischen zerstörten Häusern und Abraumhalden des Bergbaus ist trist und ohne Perspektive.
Starke Filme aus Österreich
Constantin Wulff widmet sich in Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien (Forum) zum dritten Mal einer Institution. An die Arbeiterkammern können sich alle wenden, die Probleme mit ihren Arbeitgebern haben. Es geht oft um die prekären Arbeitsverhältnisse von Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen ohne Ausbildung und die Probleme alleinerziehender Frauen. Die Arbeiterkammern sind sehr erfolgreich und konnten gerade ihr hundertjähriges Bestehen feiern. Mehr als die Hälfte der Fälle wird außergerichtlich gelöst. Wulff und sein Team begleiten die Gespräche im Direct-Cinema-Stil. Die Pandemie verändert die Arbeitswelt fundamental, und der Film dokumentiert, wie die Arbeiterkammer versucht, diese Krise zu bewältigen. Es ist eine gesellschaftliche und sozialpolitische Herausforderung.
Ruth Beckermann gewann mit Mutzenbacher als Bester Film in der Sektion Encounters. Sie lädt etwa 70 Männer zu einem Casting für einen Mutzenbacher-Film ein. Sie sitzen auf einer plüschigen Besetzungscouch, lesen Passagen aus dem pornografischen Klassiker „Josefine Mutzenbacher“ und erinnern sich an ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Beckermanns minimalistischer Stil beeindruckte die Jury, und der Filmemacherin gelingt eine komplexe Reflexion über Sexualität und Geschlechterverhältnis.
Grausames 20. Jahrhundert
Im Internationalen Wettbewerb erhielten Rity Panh und Sarit Mang einen Silbernen Bären für ihre Herausragende Künstlerische Leistung in Everything Will Be Ok. Um die grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Kriegen, Gewalt und Unterdrückung zu zeigen, nutzt er historisches Archivmaterial. Das wichtigste Element sind jedoch detailliert gestaltete Dioramen mit handgeschnitzten Holzfiguren, durch die sich die Kamera kunstvoll bewegt. Tiere haben die Herrschaft über die Welt übernommen und machen die Menschen zu Untertanen. Die Schweine ähneln nicht von ungefähr denen aus dem Animationsfilm Animal Farm, der auf dem Buch von George Orwell basiert.
Journal d’Amerique (Encounters) von Arnaud des Paillieres erzählt ebenfalls eine visuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Kompilationsfilm, der historische, meist private Aufnahmen aus Amerika von den 1910er bis in die 1970er Jahre aus dem Prelinger Archiv verwendet. Die Aufnahmen sind zum Teil unter- oder überbelichtet oder beginnen sich aufzulösen, wie das Schlussbild von dem Jungen mit Hund. Das ermöglicht ebenso Assoziationen wie die eher experimentelle Tonspur. Zwischen den Bildern gibt es einen essayistischen Text über Familie, die Erinnerung, von Träumen, das Leben und den Tod. Die Worte der Sätze sind in ihre Einzelteile zerlegt. Ebenso wird das Ausgangsmaterial in mehrere Sequenzen aufgeteilt. Und doch ergibt der Film ein faszinierendes Gesamtbild, das der Regisseur einmal „unsere alte Heimat“ nannte.
Untergehende Film- und Kinogeschichte
Wie wichtig Erika und Ulrich Gregor für die Film- und Kinokultur in Berlin waren, zeigt Alice Agneskirchner in Komm mit mir ins Cinema – Die Gregors (Forum Special). Die beiden lernten einander in den fünfzig0er Jahren an der Universität im Filmclub kennen, führten anspruchsvolle Filme jenseits des Kommerzkinos vor. Ihr Interesse galt der internationalen Filmkunst. Nach einem Eklat auf der Berlinale um den Film OK starteten sie 1971 das Internationale Forum als neue Sektion. Sie bauten das Arsenal Kino und den Verleih des unabhängigen und experimentellen Kinos auf. Agneskirchner gelingt ein packendes Porträt der beiden, das zugleich ein Stück Zeitgeschichte von Berlin ist. Neben zahlreichen Ausschnitten aus Filmen, die ihnen wichtig sind, gibt es auch viel Archivmaterial über die Stadt zu sehen.
In Scala (Forum) dokumentiert die Regisseurin Ananta Thitanat den Rückbau des einst größten Einzelkinos in Bangkok. Es hatte 1.200 Plätze und wurde Ende der sechziger Jahre eröffnet. Die opulenten Kronleuchter und Deckenverzierungen sollen in einem anderen Kino verwendet werden. Die Mieten stiegen, das Publikum wurde immer weniger. Das Lichtspielhaus wurde unrentabel. Am Rande werden politische Unruhen und die Niederschlagung der Proteste erwähnt. Die Familie der Regisseurin arbeitete für das Kino und managte es auch; sie wuchs in dem Filmpalast auf. Sie verzichtet aber auf einen historischen Rückblick.
Wochenschauaufnahmen von der Ankunft der weißen Busse mit Überlebenden aus Konzentrationslagern in Malmö am 28. April 1945 beschäftigen den schwedischen Regisseur Magnus Gertten seit einigen Jahren. Er versucht, möglichst viele der Geretteten zu identifizieren und ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Nelly & Nadine (Panorama) ist sein dritter Film dazu. Nadine mit ihrem asiatischen Gesicht ist ihm im Material aufgefallen. Jetzt kann er eine unglaubliche Liebes- und Lebensgeschichte erzählen. Denn Nelly und Nadine haben sich im KZ Ravensbrück ineinander verliebt, verlieren sich aber aus den Augen. Beide überleben die Konzentrationslager, treffen einander wieder und wandern 1950 zusammen nach Venezuela aus. Nelly hat ganz viele Tagebücher, Briefe, Fotos und Filme vererbt. Jetzt begibt sich ihre Enkelin auf Spurensuche. Mit behutsamer Musik, starken Bildern und Privataufnahmen gelingt Magnus Gertten ein beeindruckender Film über ein selbstbewusstes Leben als lesbisches Paar, das sich gegen alle Widerstände durchsetzt.
Abenteuerliches Leben der Tiere
Um eine einsame Insel vor Kanada geht es in Geographis of Solitude (Forum) der kanadischen Experimentalfilmemacherin Jacquelyn Mills. Sie porträtiert Zoe Lucas, die auf Sable Island seit Jahrzehnten die Wildpferde und Robben beobachtet und wissenschaftlich begleitet. Doch seit längerem wird Plastikmüll angespült, den sie mit ähnlicher Akribie erfasst. Der Film besticht durch seine experimentelle Bild- und Tongestaltung, die einen engen Bezug zum Leben auf der Insel schafft.
Ganz großes Kino ist Le Chêne (Die Eiche – Mein Zuhause, Berlinale Special) von Laurent Charbonnier und Michael Seydoux. Im Mittelpunkt steht eine 210 Jahre alte Eiche in einem Naturschutzgebiet in der Nähe der Loire und die vielfältige Tierwelt um sie herum, die ein Jahr beobachtet werden. Zu sehen sind spektakuläre Bilder, unterlegt mit aufwändiger Orchestermusik, die allerdings manchmal etwas übertreibt. Beeindruckend ist, wie verschiedene Tiere in einem Bild zusammen in einer Aufnahme zu sehen sind. Im Publikumsgespräch sagte Michael Seydoux, dafür benötige man viel Geduld und eine gute Montage. Den beiden Regisseuren gelingt ein packender Film mit Verfolgungsjagden und einem ständigen Kampf ums Revier.