Kinder sind die wahren Anarchisten: Warum die „Hunger-Games“-Saga einen Trend perfider Teenager-Dystopien und lukrativer Hollywood-Verfilmungen auslöste.
Anlässlich der inflationären Verfilmung von Jugendromanen und dem Kinostart von Mockingjay – Part 1, dem ersten finalen Teil der Hunger- Games-Trilogie, lohnt es sich, einen Blick auf ein relativ junges Phänomen zu werfen, das versklavte Teenager in Blutbäder vor dem Hintergrund einer zertrümmerten Zivilisation schickt.
Nordamerika wurde von Kriegen und Katastrophen zerstört. Aus der Asche wiederauferstanden ist „Panem“, ein totalitärer Zukunftsstaat, bestehend aus einem privilegierten Regierungsviertel, dem „Kapitol“, und zwölf verwahrlosten Außenbezirken. Einmal im Jahr entsenden die Provinzen jeweils einen Jungen und ein Mädchen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren in eine Naturarena, damit diese einander vor laufender Kamera niedermetzeln. Nur einer der vierundzwanzig „Tribute“ darf als Gewinner hervorgehen. Das diene der Allgemeinheit und bewahre den Frieden unter den Menschen, so die Doktrin, dient tatsächlich aber bloß der Unterdrückung des Volkes und der Belustigung der Oligarchen.
Im ersten Teil der Saga (The Hunger Games, 2012), die auf der Literaturvorlage (2008–2010) von Suzanne Collins basiert, wird die 16-jährige Heldin Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) gemeinsam mit Peeta Mellark (Josh Hutcherson) in die titelgebenden Gladiatorenspiele geschickt, kann sich und ihren Kameraden retten und das System unterwandern. Um in der Gunst der Zuseher und Sponsoren zu stehen, mimen die beiden die große Liebe, obwohl Katniss Gefühle für einen anderen Jungen (Liam Hemsworth) hegt. Nachdem die traumatisierten Kriegsheimkehrer in The Hunger Games: Catching Fire (2013) im Anschluss an eine Propagandatour ein zweites Mal in die Arena müssen und Katniss von Rebellen gerettet werden kann, veranlasst Präsident Snow (Donald Sutherland) die Zerstörung ihrer Heimat.
Auf Regisseur Gary Ross (Pleasantville) folgte in Teil zwei Francis Lawrence (I Am Legend), der auf die viel geschmähte wackelige Handkamera seines Vorgängers weitgehend verzichtete. An die Stelle von Wes Bentley trat der großartige Philip Seymour Hoffman als Architekt der Spiele. In ihren kauzigen Nebenrollen kehren Woody Harrelson, Elizabeth Banks und Stanley Tucci auch im dritten Teil zurück, der direkt an Catching Fire andockt: Peeta befindet sich in Gefangenschaft des Kapitols, während Katniss in „Distrikt 13“ unfreiwillig zur Galionsfigur des Widerstandes und zum Propagandainstrument der Anführerin (spannender Neuzugang: Julianne Moore) wird.
Berechtigt ist die Frage, was hinter dem Erfolg dystopischer Jugendliteratur steckt und hinter den lukrativen Hollywood-Verfilmungen, die auf ihr basieren. Zum einen ist es eine reizvolle Wunschvorstellung, die Welt nach seinen eigenen Ideen neu ordnen zu können. In der Regel dürfen Jugendliche nur begrenzt eigene Entscheidungen treffen. Zum anderen funktionieren die Schwierigkeiten der Protagonisten als Reflexion archetypischer Probleme der Pubertät: Angst vor Ausgrenzung, eiserner Wettbewerb, lästiger Gruppenzwang, wechselnde Allianzen, die erste große Liebe und feuchte Träume gehören zum Alltag. Die projizierten Ängste, die meist aus der Feder von Erwachsenen stammen, muss man nicht in der Fiktion suchen – wie viele Amerikaner starben in den jüngsten Kriegen? Die Tea-Party-Bewegung, Ressourcenknappheit und die wachsende soziale Ungleichheit sind sehr reale Phänomene. Ihre Popularität verdanken The Hunger Games aber vor allem auch der Tatsache, dass die Heroine eine junge Frau ist.
Katniss: Kriegerprinzessin
Was, wenn das Mädchen nicht das Opfer, sondern die Heldin ist? Die Konzentration auf ein männliches, adoleszentes Publikum als Produktions- und Marketingstrategie wird in einer Formel von American International Pictures aus den sechziger Jahren deutlich: „A younger child will always watch anything an older child will watch; an older child will not watch anything a younger child will watch; a girl will watch anything a boy will watch; a boy will not watch anything a girl will watch; therefore to catch your greatest audience, you zero in on the 19-year-old male.“ So fraglich diese Formel auch sein mag, fünf Jahrzehnte später ist in einer Hinsicht womöglich das Gegenteil der Fall: Um sich
einen Blockbuster zu sichern, ziele man auf das 19-jährige Mädchen ab. Katniss verkörpert einen komplexen Mädchentypus, eine generationenübergreifende Identifikationsfigur und eine der großen Actionheldinnen der Gegenwart. Eine 16-jährige Sarah Connor, Ellen Ripley oder Lara Croft. Mit Pfeil und Bogen, wie die griechische Göttin der Jagd, repräsentiert sie in einer Post-Buffy-Ära die neue Kriegerin.
Gleichzeitig ist sie gezwungen, den vermeintlichen Traum jedes Teenagermädchens zu leben: Sie hat ihren eigenen Modeberater (gespielt von Lenny Kravitz), bekommt ein „Beauty Treatment“, wird von zwei adretten Jungs begehrt und vom Volk geliebt. Sie darf romantische Gefühle haben, doch nicht alles dreht sich um ihre Freier. Mit Katniss Everdeen ist Collins eine brillante Schöpfung und mit der Besetzung von Jennifer Lawrence ist Lionsgate der in Nordamerika kommerziell erfolgreichste Film 2013 gelungen (Catching Fire spielte weltweit rund 830 Millionen Dollar ein). Millionen sahen der Oscarpreisträgerin weltweit dabei zu, wie sie um ihr junges Leben kämpfte. Ihr allein gehört der Film.
Der Traum von der Dystopie: Jugend in Aufruhr
Mit dem Verschwinden der Harry-Potter-Serie und dem Verblassen der Twilight-Saga musste jemand die popkulturelle Lücke in den stürmischen Herzen junger Erwachsener schließen. Es gibt eine ganze Reihe von Spekulationen über den Ursprung der Hungerspiele. Die wohl bekannteste Idee ist jene, dass Collins’ Epos enorme Ähnlichkeit mit Fukasaku Kinjis Battle Royale (2000) hat, der Adaption von Takami Koshuns literarischer Vorlage. Ein Film, von dem Quentin Tarantino sagte, dass er ihn gerne selbst gedreht hätte. Zu Collins’ Verteidigung: The Hunger Games führen uns in Welten, die Literatur und Leinwand schon immer gern ausgelotet haben. Filme wie La decima vittima (1965), Rollerball (1975), Logan’s Run (1976), Running Man (1985), Solarbabies (1986), Equilibrium (2002) oder Elysium (2013) haben ähnliche Fantasien hervorgebracht. Alle stehen sie in einer langen Tradition großer Klassiker wie Aldous Huxleys „Brave New World“, George Orwells „1984“ oder Ray Bradburys „Fahrenheit 451“, die bewusst oder unbewusst Pate gestanden haben mögen. Reality-TV-Formate wie Survivor, American Idol und Big Brother tun das Ihrige für die Mediensatire, die außerdem durch ihre karnevalesken Karikaturen im Kapitol besticht. Science-Fiction, lange Zeit eine Domäne für Männer, ist nun jugendkompatibel und „mädchenfreundlich“.
In diesem Jahr gab es drei prominente Filmprojekte – alle drei können auf die Popularität einer Romanvorlage bauen –, die versuchten, den Box-Office-Erfolg der Hungerspiele zu wiederholen, aber nicht einmal in die Nähe von dessen Zahlen kamen. Die Formel geht immer so: Ein junger Erwachsener findet sich im Widerspruch zu einer repressiven Oligarchie nach dem Zerfall der Gesellschaft und wird zum Anführer einer Revolte.
Veronica Roths Divergent mit Shailene Woodley in der Hauptrolle ist die Schmonzette unter den Dystopien, der es an komplexen Figuren und intelligenten Dialogen fehlt. In einem post-apokalyptischen Chicago wird die Gesellschaft in fünf Fraktionen unterteilt: die Furchtlosen, die Gelehrten, die Freimütigen, die Friedfertigen und die Selbstlosen – Heimatfraktion der Heldin. Diese bizarre Aufteilung soll ein friedliches Zusammenleben bewerkstelligen. Im Alter von 16 Jahren muss sich jedes Kind entscheiden, in welcher Fraktion es leben will. Ein Test soll bei der inneren Bestimmung helfen, doch weil Beatrice „Tris“ Prior nicht eingeordnet werden kann, stellt sie eine Gefahr für das etablierte System dar, zettelt eine Romanze mit ihrem Ausbilder „Four“ an und avanciert vom Mauerblümchen zur Killerin.
The Maze Runner, die Adaption des ersten Teils von James Dashners Romantrilogie, erinnert am ehesten an William Goldings „Lord of the Flies“ (1954) und den griechischen Mythos von Theseus und dem Minotaurus, in dem sieben Athener Jungen und sieben Mädchen als Opfer für das stierköpfige Ungeheuer in ein kretisches Labyrinth geschickt werden. Es sind Hunger Games (aber doch ganz anders) für eine männliche Zielgruppe. Obwohl das einzige Mädchen auf ein Plot-Element reduziert wird, ist The Maze Runner wohl der effektivste und spannendste Beitrag bislang – ganz ohne „star appeal“: Gefangen im Kern eines Labyrinths, in dem allerlei Gefahren lauern, versucht eine Reihe verlorener Jungs (und netter Jungschauspieler) in Abwesenheit erwachsener Autoritäten eine Gesellschaftsordnung zu improvisieren. Der Neuankömmling Thomas (Dylan O’Brien) fühlt sich berufen, nach einem Ausweg zu suchen.
Mit der Verfilmung von Lois Lowrys „The Giver“ (1993) kam im Oktober eine der ältesten (und wenig überzeugenden) Teenager-Dystopien in die Kinos. Schauplatz ist eine „schöne neue Welt“, in der die Menschen ihre Gefühle zu Gunsten von Harmonie medikamentös unterdrücken und nur ein auserwählter Junge (schlecht besetzt: Brenton Thwaites) dem ein Ende zu setzen vermag. In der Zwischenzeit hat sich 20th Century Fox die Rechte an der „Uglies“-Serie gesichert, in der junge Erwachsene an ihrem 16. Geburtstag von der Regierung eine Schönheitsoperation und eine Gehirnwäsche spendiert bekommen.
Nennen wir es eine Krise der Autorität. Von Anfang an war die US-amerikanische Kultur vor allem gegenüber den Ansprüchen der „elterlichen“ Autorität skeptisch. Die Regierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Vereinfacht – oder kompliziert – betrachtet, üben diese inszenierten Sozialexperimente Kritik am oberen einen Prozent, gleichzeitig sind es Geschichten vom gescheiterten sozialistischen Experiment. Im Kern steckt darin zum einen die Idee, dass der Mensch in seinem Wesen schlecht ist und sich seine Obsession mit Sport und Spielen als übler Sadismus offenbart. Zum anderen steckt darin der ur-amerikanische Traum von Selbstbestimmung und individuellem Glück, der in der Realität nicht selten zerbricht. Aber ein Mädchen wird ja wohl noch träumen dürfen.