Filmkritik

Free Solo

| Andreas Ungerböck |
Buchstäblich atemberaubender Dokumentarfilm, zu Recht Oscar-gekrönt.

Bergsteiger-, Kletterer- und Extremklettererfilme gibt es wie Sand am Meer, auch solche mit spektakulären Aufnahmen von der Ausübung dieses etwas eigenwilligen Berufes. Dieser Film von Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin ist aber doch etwas Besonderes. Das liegt natürlich in erster Linie an seinem Protagonisten, den charismatisch zu nennen eine saftige Untertreibung wäre. Alex Honnold, 33-jähriger Kalifornier, ist eine Urgewalt: sympathisch, humorvoll (fast schon Slapstick ist eine Untersuchung seines Gehirns, bei der festgestellt wird, dass sein Angstzentrum, die Amygdala, nur schwer stimulierbar ist), offenherzig und, wie er selbst sagt, ziemlich verrückt. Das sagt er nicht nur, er zeigt es auch, und ein ebenso wahnwitziges Filmteam, angeführt von Jimmy Chin, der schon mehrmals mit Honnold gearbeitet hat, hat diese Verrücktheit unter haarsträubenden Bedingungen aufgenommen und dafür kürzlich – völlig zu Recht – den Oscar für den besten Dokumentarfilm erhalten.

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Worum geht es? Honnold ist „free soloist“, also ein Mensch, der es für erstrebenswert hält, senkrechte bzw. auch überhängende Felswände von großer Höhe ohne Seil und ohne sonstige technische Hilfsmittel, sieht man von Talkpuder ab, zu besteigen, und das noch dazu in ziemlich forschem Tempo. Nachdem alle anderen Herausforderungen erledigt waren, blieb ihm nur noch der „El Capitan“, eine 1 Kilometer hohe, nahezu glatte Wand im Yosemite National Park, die noch nie jemand auf diese Weise bezwungen hat – was kein Wunder ist. Wir verfolgen also Herrn Honnold bei den Vorbereitungen zu seinem Unterfangen, erleben Training und Gespräche mit dem Filmteam, Diskussionen mit seiner Freundin Sanni (das ist der etwas entbehrlichere Teil des Films, aber, nun ja, Teil seines Lebens) und mit Kollegen und Freunden. Einig sind sich jedenfalls alle darin, dass es einen besonders guten Tag und besondere körperliche und mentale Stärke brauchen wird, um das Ziel zu erreichen.

Einen Versuch bricht der Athlet ab, weil er sich „nicht richtig“ fühlt, aber am 3. Juni 2017 ist es soweit: In sportlichen 3:56 Stunden erklettert Alex Honnold die teuflische Wand, die selbst mit Seilen und anderen Hilfsmitteln extrem schwer zu bezwingen ist, im „free solo“. Und obwohl wir Couch- bzw. Kinosessel-Potatoes wissen, dass er es schaffen wird (man kann es ja überall nachlesen), ist die Kletterei, fulminant gefilmt von Vasarhelyi, Chin und ihren Kameraleuten, nervenzerfetzender als so mancher Thriller. Man kann, wie übrigens auch Mitglieder des Teams, wirklich kaum hinschauen: Ein falscher Griff, ein falscher Schritt, und Honnold würde „through the frame“, wie Chin einmal sagt, in den Tod stürzen.

Gutes Stichwort: Der Tod ist allgegenwärtig in dem Film, das Risiko wird nicht ausgespart, und es wird auch von mehreren Todesfällen berichtet, die andere Extremkletterer betreffen. Wahrscheinlich muss man, um solche Abenteuer bestehen zu können, genau diese Schwelle überwinden, so wie Alex Honnold das formuliert: Man muss wissen, dass es jederzeit aus sein kann, man muss das Faktum akzeptieren und die Angst davor ablegen. Leichter gesagt als getan.