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Filmmuseum – Nichts als der Mensch

Nichts als der Mensch

| Andreas Ungerböck :: Roman Scheiber :: Jörg Schiffauer |

Das Österreichische Filmmuseum widmet seine Retrospektive im Dezember dem größten poetischen Realisten des französischen Kinos: Jean Renoir.

Als das einzige Genie in der Geschichte des französischen Films bezeichnete ihn Jean Eustache, dieser große Außenseiter in der Geschichte des französischen Films. Und man kann sich gut vorstellen, dass die Figuren, die Renoir auf die Leinwand gebracht hat, Eustache gefallen haben: Sind es doch auch Randfiguren der Gesellschaft, die seine Filme bevölkern, von der kleinen Hure im Zinshaus bis zum Großbürger auf Treibjagd. Der viel gerühmte Realismus Renoirs ergibt sich aus einem insistierenden Blick auf dieses Personal, auf ein besonderes Zusammenspiel von Beobachten und Erforschen.

Die ersten Stummfilme finanzierte Jean Renoir durch den Verkauf von Bildern seines Vaters Auguste, in der Folge entwickelt er sich zu einem der ersten großen Tonkünstler seiner Zeit: Die Einschränkung der starren Mikrofone läuft seinem Kinoverständnis entgegen, seine Filme suchen und brauchen die Bewegung der Kamera. Renoir setzt den Ton zum Bild: Wassergeräusche, Vogelgezwitscher, Türknarren. Wie kaum ein anderer außer Orson Welles versteht er es, Bildhintergründe zu erforschen „Je länger ich in meinem Beruf bin, desto mehr neige ich dazu, in die Tiefe der Leinwand hinein zu inszenieren“, schrieb Renoir 1938 nach La Grande Illusion und vor La Règle du jeu.

Renoir ist stets auf der Suche nach der Wahrheit im Menschen, indem er seinen Figuren ihre Verkleidungen herunter reißt (dem Kleinbürger genauso wie dem Adel und dem Offiziersstand, etwa in La Grande Illusion); in der Komposition der Bilder dadurch, dass er sie als großes Ganzes betrachtet. Doch nicht der Effekt zeitigt das Ergebnis (weder in der Montage noch in der Erzählung – fast beiläufig geschieht der Mord in La Chienne, der Jagdunfall in La Règle du jeu), sondern eine Demaskierung, der ein tiefer Humanismus zugrunde liegt. Was bei Renoir am Ende zählt, ist die moralische Wahrheit.

La Chienne (1931)

„Als hätten Renoirs einzelne, mühsam nacheinander erworbene Fähigkeiten gewartet, bis eine jede voll ausgebildet ist, so schießen sie plötzlich zusammen zu einem Werk von seltener Reinheit“, schrieb der Publizist Peter Buchka einmal über La Chienne, und tatsächlich ist man heute versucht, in diesem ersten großen Film Renoirs alles entdecken zu wollen, was man später als unverwechselbare Handschrift zu erkennen glaubt.

Das Gefühl der Beschwingtheit durch die Vaudeville-Musik, die über den ersten Bildern erklingt, findet seine Entsprechung im Bild eines Puppentheaters: Ein „großes Gesellschaftsdrama“ kündigt eine Handpuppe an, doch schon wird sie ungehalten von einer anderen unterbrochen, die im Gegenteil eine Sitten-komödie anpreisen möchte. Bis der Kasperl höchstpersönlich auftritt, beide niederknüppelt und beiden Unrecht gibt: „Das folgende Stück ist weder Drama noch Komödie. Es hat keine moralische Tendenz und beweist Ihnen gar nichts. Die Personen sind weder Helden noch finstere Schurken. Es sind Menschen wie du ich.“

Menschen wie du und ich, das sind in La Chienne ein kleiner Angestellter (Michel Simon), dessen „Geistes- und Herzensbildung über dem sozialen Niveau liegt und der deshalb wie ein Trottel wirkt“. Er steht unter der Fittiche seiner geizigen Frau und verfällt der Hure Lulu, die ihn – wiederum ihren Zuhälter verfallen – ausnimmt wie eine Weihnachtsgans. Drei Existenzen finden zufällig zueinander und werden am Ende zerstört sein, weil sie alle nur für sich existieren. Menschen wie du ich? Keineswegs – denn wer glaubt schon einem Kasperl, zumal Renoirs Sympathie den Außenseitern gilt, jenen Figuren, die für die gesellschaftliche Norm höchstens als Projektionsfläche dienen?

Renoir lässt gemäß dem Rahmen, der den Film umschließt, die Dreiecksgeschichte in Zweierszenen über die Bühne gehen: Einer bleibt immer draußen, der Trottel, die Lügnerin oder der „junge Bursche, nichts weiter“. Und doch hängt, wie später in den Filmen Renoirs, immer alles mit allem zusammen, gibt es immer die Reaktion des Ganzen auf einen einzelnen Teil. Und das Ganze, das sind wir alle.
Michael Pekler

La Règle du jeu (1939)

Kaum ein Kanon der Filmgeschichte, in dem La Règle du jeu nicht einen vorderen Platz belegt. Nicht von den Kino-Amateuren allerdings wird dieser Film für so wichtig gehalten, sondern vor allem von den Kino-Professionalisten: Jean Renoirs 1939 entstandene, feinziselierte Dramödie über Diener und Bediente, eignet sich fantastisch als Lehrstück, wie man Person, Raum, Dialog und Musik mit emotionaler Wucht zu einem Filmkritikon der Gesellschaft verdichtet.

336 Einstellungen sind in buchstäblich sprechender Bild/Ton-Montage aneinander gereiht, mitunter durch bloße Änderung der Schärfentiefe verschleppt, über die etwa Alain Resnais später sagen sollte: „Meine einzige vollkommen überwältigende Erfahrung im Kino. Manche Szenen sind derart physisch beeindruckend, dass ich, hätten sie nur ein wenig länger gedauert, in Tränen ausbrechen oder schreien hätte müssen.“

Die heute gültige Fassung entstand 20 Jahre später, ist dem legendären André Bazin gewidmet, 106 Minuten lang und orientiert sich an der ursprünglichen Version. Anklänge an die Opera buffa, an Mozarts Hochzeit des Figaro, verdeutlichen, in welchem Geist sich die Figuren bewegen; Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hazard findet als literische Inspirationsquelle Niederschlag in Renoirs Geschichte über den kurzen Höhenflug des Abenteurers André Jurieux. Dieser hat den Atlantik in 23 Stunden überflogen (du hazard), und ist nun enttäuscht, dass die Frau, für die er das getan hat, bei seiner Ankunft nicht da ist (de l’amour). Aber sie hört seine Klage, denn sie verfolgt die packende Radioreportage über den Rekordversuch – im luxuriösen Boudoir im Haus ihres vermögenden Ehegatten.

So beginnt ein Film über eine im Zerfall begriffene Gesellschaft, die am Vorabend des Krieges der Lust an der Ausschweifung und am liebsten, wie sich später zeigt, dem Jagdvergnügen frönt. Die Treibjagd ist das zentrale Motiv des Films: Es steht für die Jagd nach Glück, Erfolg, Besitz. Die Regel dieser Jagd ist die Hauptregel, von der sich alle anderen Regeln ableiten.
Roman Scheiber

The River (1950)

Filmed on Location… Das besagt meistens nicht viel, zumal, wenn die Location aus markttechnischen oder sonstigen Gründen nicht einmal als solche erkennbar ist. Es geht auch anders: Michael Powells und Emeric Pressburgers Black Narcissus (1947) ist klar und deutlich nicht im Himalaya gefilmt worden, sondern auf den britischen Inseln, atmet aber in jeder Sekunde die Atmosphäre Indiens. An Black Narcissus fühlt man sich immer wieder erinnert, wenn man Jean Renoirs The River sieht, der zur Gänze on location in Bengalen gedreht wurde. Das liegt vermutlich daran, dass die Romanvorlagen zu beiden Filmen von der englischen Schriftstellerin Rumer Godden stammen, einer abenteuerlus-tigen und schillernden Frau, die in Indien aufwuchs und das Land, das sie kreuz und quer bereiste, wie ihre Westentasche kannte.

Was nun genau die drei heranwachsenden jungen Damen Harriet, Valerie und Melanie, die alle mit ihren Familien am großen Fluss leben, an dem amerikanischen Kriegsveteranen Captain John so fasziniert, dass jede von ihnen sich in ihn verliebt, lässt sich heute nicht mehr ganz nachvollziehen. Zwar ist die Figur als solche (ein Weltkriegs-Soldat als „displaced person“ in jeglichem Sinne: heimatlos, verwundet, frustriert) interessant, zu konturlos aber bleibt allerdings ihr Darsteller, Thomas E. Breen.

Darüber hinaus ist der Film, gedreht immerhin fünf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Indiens, so politisch sensibel wie die 50er Jahre nun einmal waren (also gar nicht), aber Jean Renoir und seinem Neffen, dem Kameramann Claude Renoir, gelingen phänomenale Technicolor-Bilder von Indien, wunderbare Alltagsszenen am Fluss, außerhalb der Besitztümer der Weißen, und Szenen von solch tiefer Emotionalität (etwa, als der kleine Bogey an einem Schlangenbiss stirbt), dass dieser Film zu Recht als Kleinod gilt und für immer gelten wird. Kleines Detail am Rande: Als Assistent Renoirs arbeitete der damals 30-jährige Satyajit Ray – vier Jahre, bevor er als Regisseur von Pather Panchali das Gesicht des indischen Kinos für immer veränderte.                                    
Andreas Ungerböck

Le Testament du Docteur Cordelier (1959)

Für sein 1959 entstandenes Spätwerk Le Testament du Docteur Cordelier adaptierte Jean Renoir das bekannte Thema von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Zwar verlegte Renoir die Handlung ins Paris der 50er Jahre, doch ansonsten orientiert sich der Film eng an Robert Luis Stevensons berühmter literarischer Vorlage. Der angesehene Arzt Dr. Cordelier versucht mit Hilfe einer Droge, die Natur des Bösen zu ergründen. Ein Selbstversuch zeigt auch prompt Wirkung: Cordelier verwandelt sich in Opale, einen Menschen, der nur noch seinen Instinkten und Trieben folgt und soziale Normen gänzlich ignoriert. Und die Ausschweifungen seines Alter Egos nehmen zusehends drastischere Formen an – Cordelier verliert nach und nach die Kontrolle über sein Experiment.

Renoirs Interpretation des klassischen Stoffes über die Dualität der menschlichen Natur unterscheidet sich von den meisten anderen filmischen Adaptionen dadurch, dass seine Inszenierung die Untaten der Opale/Hyde-Figur nicht plakativ in den Vordergrund rückt: Le Testament du Docteur Cordelier konzentriert sich, in langen, fast bedächtig in Szene gesetzten Sequenzen, vor allem auf das psychologische Dilemma seines Protagonisten. Denn Dr. Cordelier ist nicht nur der von Forscherdrang getriebene Wissenschafter, der für den Erkenntnisgewinn jedes Risiko eingehen würde, sondern er findet, zu seinem eigenen Entsetzen, immer mehr Gefallen an der hemmungslosen, aber zugleich faszinierenden Natur seines anderen Ichs. Und die Rückverwandlungen und damit die Rückkehr in seine bürgerliche, von Regeln und Normen geprägte Existenz, fallen Cordelier zusehends schwerer.

Jean-Louis Barraults überragende Darstellung der Titelfigur macht deren Zwiespalt geradezu nachfühlbar. Sein Dr. Cordelier agiert stets kontrolliert und beherrscht, ganz im Sinne jener strikten Regeln und Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft, denen sich Cordelier als deren angesehenes Mitglied zwar unterwirft, unter ihnen jedoch leidet. Als Opale jedoch bricht er auf fast subversive Art mit allen Normen, kann dabei endlich impulsiv- und instinktgesteuert handeln. Und der Bogen von Opales konsequentem Untergraben moralischer Normen und Autoritäten reicht von kleinen Bosheiten über üble Gemeinheiten bis hin zu brutalen Aggressionsausbrüchen. Mit geradezu anarchistischem Enthusiasmus forciert Opale jeden nur möglichen Tabubruch. Doch ein solches Doppel-leben kann nicht ohne Konsequenzen bleiben, Dr. Cordeliers innerer Konflikt steuert unausweichlich auf seinen tragischen Höhepunkt zu.                   Jörg Schiffauer