Der französische Kriminalfilm 1930–1960: „Noir | Polar“ im Österreichischen Filmmuseum
Die Formierung des französischen Kriminalfilms als Genre fällt mit den ersten Jahren des Tonfilms zusammen, seine Erneuerung um 1960 findet unter dem Einfluss der Nouvelle Vague statt. Der film policier – also der Krimi in all seinen Spielarten – steckt hinter Filmtiteln wie Rififi oder Les Diaboliques und ist nach wie vor assoziiert mit Stars wie Jean Gabin oder Simone Signoret; er zog das Interesse der bedeutendsten Regisseure Frankreichs an, von Jean Renoir und Julien Duvivier über Henri-Georges Clouzot und Jacques Becker bis Jean-Pierre Melville. Eine Schau mit 39 Filmen von 17 Regisseuren bringt Repräsentanten jener ‚klassischen Periode‘ zwischen 1930 und 1960 auf die Leinwand.
Die Bezeichnung film noir wurde erst nach 1945 von französischen Kritikern für jene US-Filme verwendet, deren Schwärze die soziale Depression der amerikanischen Verhältnisse spiegelte, doch geprägt wurde sie ursprünglich für Frankreichs Kino von 1935 bis 1939, das von der politischen Rechten während der Volksfront-Ära als ‚schwarz‘ und ‚defätistisch‘ diskreditiert wurde. Das betraf die heutigen Klassiker des Poetischen Realismus: Renoirs La bête humaine, Duviviers Pépé le Moko, Marcel Carnés Le quai des brumes und Le jour se lève sowie Pierre Chenals Le Dernier tournant, die erste Verfilmung von James M. Cains „The Postman Always Rings Twice“ (1934). Das heute etablierte Wort Polar – eine umgangssprachliche Verkürzung von film policier – ist dagegen eine retrospektive Prägung von links, als in den 1970ern eine neue Schriftstellergeneration die subversiv-gesellschaftskritische Tradition von Erzählungen aus der Welt des Verbrechens betonte – laut Ivo Ritzer (Hg.: „Polar – Französischer Kriminalfilm“, 2012) „ein Begriff, den jeder Franzose kennt. Ein Kompositum: zusammengesetzt aus »police« und »argot«, den Wörtern für die französische Exekutive und den Soziolekt der Unterwelt. Damit sind bereits die beiden zentralen Akteure des Polar spezifiziert: auf der einen Seite die Gesetzeshüter, auf der anderen Seite die Gangster.“ Nur zufällig scheinen sie auf verschiedenen Seiten des Gesetzes zu stehen. Eine Welt der Kaltblütigkeit („sang-froid“), der lässigen Gesten, der schweigenden Handlung, und oft stilisiert die Série Noire das zum Alltag gewordene Verbrechen und seine Bekämpfung zu einem heroischen Akt.
Diese Welt war schon in der Stummfilmzeit ein Thema für das französische Kino, gespeist aus der Angst vor krimineller Anarchie in den Weltkriegsjahren, die in Louis Feuillades Serials spürbar wird. Aber erst mit der Einführung des Tons stabilisiert sich der film policier als Genre, lässt Schusswechsel hören oder spricht im Sound des argot, dem Klang der Gaunersprache. Diese audiovisuelle Emanzipation bedeutet ebenfalls eine Befreiung von den literarischen Kriminal-Plots des 19. Jahrhunderts. Mit dem belgischen Vielschreiber Georges Simenon entwickelt sich ein Balzac des 20. Jahrhunderts – die seit 1931 erschienene Roman-Reihe um den lakonischen Kommissar Maigret, Typ des genauen Menschenbeobachters und ersten Zeugen, geben optimale Vorlagen, zwei geniale Maigret-Verfilmungen der Jahre 1932–33 bilden eine Initialzündung für den Polar – Duviviers La tête d‘un homme und La nuit du carrefour von Jean Renoir.
Gespür für Atmosphäre
Poetisch an jenem Realismus, gemäß dem die Dramen der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht seit den frühen dreißiger Jahren in ihren spezifischen Milieus erzählt werden, ist die kunstvolle Lichtgestaltung, Kameraführung und das Dekor, durch welche die sozialen Welten in eine nostalgische oder tragische Atmosphäre transponiert werden. Simenon ist sich von vornherein des kinematografischen Potenzials seiner Romane bewusst und besteht darauf, dass die Cover seiner Bücher mit Schwarzweiß-Fotografien illustriert werden sollen. Was Jean Renoir für seine erste Leinwandadaption von La nuit du carrefour (Regieassistenz: Jacques Becker), in dem sein Bruder Pierre Renoir die allererste Maigret-Besetzung ist, besonders faszinierte, war Simenons Gespür für Atmosphäre: „Simenons Buch lässt großartig das Grau dieser Ecke, rund fünfzig Kilometer vor Paris, vor unseren Augen entstehen. (…) Diese paar Häuser, verloren in einem Meer von Nebel, Regen und Dreck.“ Der Film lebt vom Originalton, den harten Geräuschen aus der Autowerkstatt an der Kreuzung. Von der Plot-getriebenen, an der Lösung eines kriminalistischen Rätsels orientierten Dramaturgie amerikanischer Art verschiebt der französische Noir den Schwerpunkt auf Charakter und Atmo des Geschehens. In La tête d’un homme (1933) stellt Julien Duvivier eine Konfrontation des exzentrischen Täters mit dem nüchternen Maigret (Harry Baur) ins Zentrum, die Studie eines tragisch-kranken, in den Strudel der Selbstzerstörung abgleitenden Mörders als Verlorener, der qua narzisstischem Triumph eines gelungenen Verbrechens gegen eine Welt rebelliert, die ihn zu baldigem Tuberkulose-Tod verurteilt hat.
Um einen Mädchenmörder zu überführen, stellt sich eine junge Frau (Marie Déa) der Polizei als Lockvogel zur Verfügung – Pièges (1939): Robert Siodmaks letzter und erfolgreichster Film in Frankreich, wenngleich „le plus américain“ (Hervé Dumont), weist bereits vorwärts nach Hollywood (Phantom Lady) – die Rahmung dieses Films der Angst und Bedrohung ist reines Film noir. Darin brilliert Erich von Stroheim, einen Modezar verkörpernd, der dem Wahnsinn verfällt.
Auch die entfesselten, vorwiegend nächtlichen Stadtbilder des Weimarer Kinos fließen Anfang der 30er Jahre ins französische Krimigenre ein – z.B. in Cœur de lilas (1932) von Anatole Litvak oder Pierre Chenals La rue sans nom (1934). Dies ist die Geburtsstunde des Poetischen Realismus: Als lyrisch-ästhetisierte (und meist im Studio gedrehte) Auseinandersetzung mit dem Leben in Krisenzeiten dominiert diese Bewegung die Jahre der Volksfront und ihres Scheiterns. Gabin, der seit seinen Auftritten in den Filmen von Duvivier, Renoir und vor allem Carné das Bild des eigenständigen, kraftvollen Proletariers abgibt, den ein tragisches Schicksal trifft, wird in Quai des brumes (1938) oder Le jour se lève (1939) zum „mythischen Arbeiter“ (Georges Sadoul); selbst als Gangster, wie in Pépé le Moko (1936) – dem Film, der zwei Hollywood-Remakes nach sich zieht und mit dem eine ‚Mythologie des Scheiterns‘ im französischen Noir ihren Anfang nimmt – bleibt er, als Gangster im algerischen Exil, der entwurzelte Proletarier, und erst in den 50ern, der Zeit seiner grandiosen zweiten Karriere, wird an ihm eine Versöhnung mit bürgerlichen Charaktereigenschaften sichtbar. So spielt er nach der Romanvorlage Simenons in La vérité sur Bébé Donge (1952) einen Industriellen, der von seiner Frau (Danièlle Darrieux) vergiftet wird; in Rückblenden vom Krankenbett aus erzählt der Film von Henri Decoin (dem mit fünf Filmen bestrepräsentierten Regisseur dieser Reihe) Stationen des Scheiterns.
Zentralfigur Jean Gabin
Die fatalistischen Studien vom individuellen Aufbegehren gegen das System machten Jean Gabin als Darsteller tragischer Helden zum Mythos – und zur Zentralfigur dieser Schau, noch vor Michel Simon und anderen Ausnahmeakteuren wie Harry Baur, Louis Jouvet oder Danielle Darrieux. Aus den Reihen der Regisseure gehen Renoir und Duvivier (wie auch Gabin) während der deutschen Okkupation ins Hollywood-Exil und eine neue Generation rückt nach. Jacques Becker und Henri-Georges Clouzot reichern das Dunkle ihrer Gesellschaftsbilder zunächst mit Komik an. Clouzots schwarze Denunzianten-Studie einer kleinen Dorfgemeinschaft Le Corbeau (1943), ein kriminalistisches Whodunit, in dem die Ermittlung wichtiger ist als die Lösung, wird jedoch zum Skandal, während Henri Decoins Simenon-Adaption L’Homme de Londres (1943) die nationale Gewissenskrise in schwarze Stimmungsmalerei übersetzt. Clouzot, der wegen Kollaboration kurzfristig ein Berufsverbot erhalten hatte, feiert mit dem Verstrickungskrimi Quai des Orfèvres (1947) ein gewaltiges Comeback: Louis Jouvet spielt einen desillusionierten, schlecht bezahlten Kommissar, der sich mit dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in staatliche Autoritäten herumschlagen muss. Parallel zum US-Noir wendet Yves Allégret mit Dédée d’Anvers (1948), aus dem Hafenmilieu von Antwerpen, und Une si jolie petite plage (1949), in denkbar größtem Kontrast zum Titel meist in Nachtbildern an einem normannischen Badeort im Regen – gleichsam der Endstation eines existenzialistischen, lebensüberdrüssigen Helden (Gérard Philippe) – den Poetischen Realismus der späten 40er Jahre vollends ins Nihilistische, mit Erzählungen von gnadenloser Folgerichtigkeit charakterlicher und sozialer Abgründe, einer Art Reigen à la baisse. Sein Nachkriegs-Noir zeigt sich auch als Trümmerfilm, in dem die Rolle von Milieuszenen und Nebenschauplätzen bedeutender erscheint als die des zentralen Dramas – in Allégrets Filmen wird Simone Signoret, zu Beginn auf Rollen von Prostituierten und Ehebrecherinnen ‚abonniert‘, zum Star.
Nach 1950 tauchen innerhalb des Genres neue prägende Darstellerinnen und Darsteller auf, z.B. Lino Ventura oder Jeanne Moreau, während sich die politische Erstarrung des Landes auch in die Kriminalfilmplots einschreibt. Jacques Beckers Schlüsselwerk Touchez pas au Grisbi (1954) erzählt von der Verbürgerlichung des Gangsters und begründet den zweiten Gabin-Mythos, der nun nicht mehr automatisch gegen jegliches Gesellschaftssystem gerichtet ist: Der noch gar nicht so alte Gabin (Jg. 1904) befindet sich hier und in Henri Decoins neuerlicher Simenon-Bearbeitung La vérité sur Bébé Donge (1952) auf dem Zenit. Gegenüber der Saturiertheit der „fetten Jahre“ perfektioniert Becker einen kühlen, lakonischen Krimi-Stil – in Jules Dassins exakt ablaufendem Einbrecher-Uhrwerk Rififi, das zum Modell, quasi Sub-Genre des Gangsterfilms wird, aufgegriffen und von auteurs wie Melville und Robert Bresson zur inszenatorischen Kunst abstrakter Stilisierung entwickelt. Jean-Pierre Melville schafft hier als eine Art „auteur complet“ mit Bob, le flambeur (Drei Uhr nachts, 1956) eine Sittenstudie („comédie de moeurs“), die ausgiebige Streifzüge (Kamera: Henri Decae) on location durch das Alltagsleben im Milieu, Montmartre und Pigalle, aus der Perspektive eines alternden ‚Gentleman-Gangsters‘ unternimmt – ein Film, der in den 1980ern als Vorläufer der Nouvelle Vague und Meisterwerk des billigen policier wiederentdeckt wird. Einen Endpunkt setzt Becker mit seinem allerletzten Film: In Le trou fusioniert er dokumentarische Präzision und suspense, Klassik und Moderne. Melville zieht aus diesem für ihn „größten französischen Film“ weitere Konsequenzen, und auch Drehbuchautor José Giovanni wird die nächste Polar-Phase mitgestalten. Als Le trou im März 1960 kurz nach Jean-Luc Godards À bout de souffle anläuft, überstrahlt ihn schon die Neue Welle.
Gestik der Lässigkeit
Mit Touchez pas au grisbi (1953) von Jacques Becker beginnt die französische Variante des Gangsterfilmgenres, doch die Vorbilder liegen weniger in der eigenen Filmtradition, aus der Julien Duviviers Pépé le Moko (1937) oder Marcel Carnés Le jour se lève (1939) herausragen. Ebenso wie bei Du rififi chez les hommes (1955) von Jules Dassin, der in den 40er Jahren in den USA bereits eine Reihe schwarzer Filme gedreht hatte (u.a. The Naked City und Night and the City), stammen ihre Wurzeln aus den USA. Dassin versetzt die Kamera an die wirklichen Schauplätze der Geschichte am Handlungsort Paris, zeigt die Geschäftigkeit der Rue de la Paix nahe der Place Vendôme, wo das Juweliergeschäft als Ziel des Raubzugs liegt, fährt hinaus in die grauen Vorstädte, wo die finale Abrechnung stattfindet und der tödlich getroffene Tony im Auto durch Paris einem unerreichbaren Zufluchtsort zustrebt, während vom Blick der Kamera ein Gefühl der Vergeblichkeit ausgeht. Eine einzige Verfehlung nach dem gelungenen Einbruch – jener wahrhaft stilbildenden 20-minütigen stummen Raubsequenz – genügt, einen irreversiblen Mechanismus des Scheiterns in Gang zu setzen. Für Roland Barthes, der an Grisbi eine institutionalisierte „Gestik der Lässigkeit“ registriert („Mythologies“, 1957), zeigt der französische Gangsterfilm eine Welt des Understatements, im Sinne seiner Vorläufer der 30er Jahre „displaying a French taste for minimalist intimate realism over action“. (Ginette Vincendeau, 2007).
„Die große Entdeckung der 50er Jahre ist jene des ‚Milieu‘. Jacques Becker illustrierte es auf zwei Arten, mythisch und realistisch, in zwei Meisterwerken: Casque d’or (1952) und Touchez pas au grisbi (1953). Wenn ersterer das verklärte, vergeistigte Milieu ist, dann ist Grisbi, im Gegensatz dazu, das Milieu unmittelbar über dem Erdboden. (…) Im französischen Film Noir ist der Held kein ‚Gangster à l’amerique‘ mehr, sondern ein völlig einheimischer Gauner, der die gute Küche, den guten Wein und die drallen Frauen liebt. Er ist nicht machtgierig, er ist ein Anarchist von rechts, der die Aristokraten betrügt; ein guter Bürger mit wildem Appetit, der die Idee vom ‚Wert der Arbeit‘ beiseiteschieben würde.“ (François Guerif, 1981)
La chienne (1931), erster Film auf der Zeitschiene, lebt zuvörderst von der „Echtheit wirklicher Gebäude, richtiger Straßen, richtigen Verkehrs“ (Jean Renoir), vom Originalton der Szenerien, sein Noir-Kosmos, wie schicksalhaft auch immer angelegt, ist sozial verankert, darin verknüpft sich individuelles Drama mit kollektiver Aktion, beeinflusst auch vom deutschen „Straßenfilm“ jener Jahre. Michel Simon spielt einen Kassierer, der einer Halbweltfrau verfällt, die mit ihrem Geliebten/Zuhälter seine Sonntagsmalereien unter falschem Namen verkauft. Er bringt sie um; der Zuhälter wird dafür zum Tode verurteilt, und der gefallene Kleinbürger, dessen Malerei in fremdem Besitz inzwischen Höchstpreise erreicht, endet als Clochard. In Sacha Guitrys La Poison (Das Scheusal, 1951), einem Meisterwerk schwarzen Humors, verkörpert Michel Simon auch den von seiner Frau, einer wahren Xanthippe, tyrannisierten Kleinbürger, der im Radio von einem erfolgreichen Strafverteidiger hört, der nur Schuldige vertritt und durchweg Freisprüche erzielt. Er engagiert den Advokaten und gesteht den Mord, noch ehe er daran geht, seine Frau umzubringen. Wegen Notwehr wird er schließlich freigesprochen. Auf Simons Bitte hin soll Guitry jede Szene in einer Plansequenz gedreht haben.
Le trou (Frankreich/Italien 1959/60) von Jacques Becker, chronologisch letzter Film der Reihe, integriert einen Dokumentarfilm in eine fiktive Story in einer Szenerie des Film noir, im Gefängnis, in dem fünf Strafgefangene sich zum Ausbruchsversuch entschließen. Jede Nacht sind zwei Arbeitsgruppen wie auf einer Baustelle tätig, und wenn das Loch in den Zellenboden geschlagen wird, bleibt die Kamera dreieinhalb Minuten bei diesem Bildausschnitt, so dass die erste Überblendung wie eine Überraschung wirkt.