Das Österreichische Filmmuseum würdigt in seiner März-Retrospektive mit Vincente Minnelli einen der größten Musical-Regisseure der Goldenen Ära Hollywoods.
Über drei Jahrzehnte hinweg war Vincente Minnelli als Regisseur bei MGM tätig und leistete mit einigen der meistgefeierten Unterhaltungsfilme wertvolle Beiträge zur Kinogeschichte. Amerikanische Kritiker priesen in den 40er Jahren seinen intellektuellen und lyrischen Humanismus, und viele der französischen und angloamerikanischen auteurs betrachteten ihn als heimlichen Satiriker bürgerlicher Werte. Für sein in Paris spielendes Musical Gigi (1958) mit Leslie Caron in der Titelrolle erhielt einen Oscar, sein Werk beeinflusste spätere Regisseure wie Jean-Luc Godard und Martin Scorsese maßgeblich.
Minnellis erste Ambition galt dem Malen, aber viele seiner Fähigkeiten als Regisseur lernte er während der wirtschaftlichen Blüte im Chicago der 20er Jahre, als er abwechselnd als Schaufensterdekorateur und als Bühnenbildner arbeitete. Später zog er nach New York, wo er Kostüme und Bühnenbilder an der Radio Music Hall kreierte und als Ausstatter von Broadway-Revuen berühmt wurde. Nach einem kurzen, ereignislosen Zwischenspiel bei Paramount in den späten 30ern wurde er von Arthur Freed, der eine Gruppe von Broadway- und Tin-Pan-Alley-Künstlern bei MGM versammelte, nach Hollywood geholt. Minnelli sollte bis in die 60er Jahre bei diesem Studio bleiben und spezialisierte sich auf Musicals, Komödien und Melodramen. Als Ästhet, der im Studiosystem durchaus glücklich schien, verhalf er dem MGM-Motto „Ars Gratia Artis“ tatsächlich zu Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig vergaß er nie seine Wurzeln: So ist es kein Zufall, dass er die charmante Komödie Designing Woman (1957) drehte, und es erscheint auch passend, dass etwa sein Melodrama The Cobweb (1955) eine Krise in einer Nervenheilanstalt zeigt, die ausgerechnet in dem Moment ausbricht, als neue Vorhänge für den Gemeinschaftsraum ausgesucht werden sollen.
Nahezu alle Arbeiten Minnellis sind dem klassischen Hollywood-Musical verpflichtet, das vielleicht am besten als verspätetes, kommerzialisiertes Vehikel für romantische Phantasien charakterisiert werden kann. Kunst, Showbusiness und Träume aller Art waren seine beliebtesten Themen. Seine weiblichen Charaktere waren Nachfolgerinnen von Madame Bovary, die männlichen oft Künstler, Dandys oder sensible Jungen. Die meisten seiner Geschichten spielen in exotischen oder im Studio nachgebauten Welten, in denen die Grenzen zwischen Phantasie und Alltags-Realität leicht zu überschreiten sind. Selbst wenn sie inmitten der amerikanischen Provinz spielen, beinhalten Minnellis Inszenierungen oft außergewöhnliche Sequenzen, wie etwa die schockierende Halloween-Szene in Meet Me in St. Louis (1944), der Albtraum in Father of the Bride, der wilde Karneval in Some Came Running (1958) oder die mythische Eber-Jagd in Home from the Hill (1960). Minnelli zeigte sich von drei Pariser Kunstrichtungen stark beeinflusst: von der dekorativen neuen Kunst der 1880er Jahre, vom frühen Modernismus der impressionistischen Maler und von den Traumvisionen der Surrealisten. Er entwickelte einen neuen, bis dahin nicht gesehenen Stil mit seinen Musical-Nummern und drehte einige Filme, die dem Populärgeschmack ihrer Zeit voraus waren. So setzte Minnelli in seinen Filmen wilde Kranfahrten mit der Kamera ein, spielte mit Stoffen und Farben sowie gekonnt orchestrierten Hintergrunddetails. Letztlich aber waren seine Musicals Hymnen auf das „Entertainment“, welche die MGM-Maßstäbe von Glamour und Stil nie in Frage stellten.
Die Gegensätze von Minnellis Ästhetik werden aber speziell durch vier Melodramen, die er mit dem Produzenten John Houseman drehte, sichtbar: The Bad and the Beautiful (1952); The Cobweb (1955), Lust for Life (1956) und Two Weeks in Another Town (1962). In all diesen Filmen ist der Künstler-Held ein einsamer Charakter, der in einer erdrückenden patriarchalischen und kapitalistischen Gesellschaft lebt und Sehnsüchte nicht gänzlich durch seine Kunst sublimieren kann. Im Gegensatz zu den Musicals wird in Minnellis Künstler-Melodramen das Alltagsleben nicht auf fast utopisch anmutende Art und Weise von kreativer Energie durchdrungen. Die Melodramen sind vielmehr von einem melancholischen Ton getragen und erzeugen eine eindrucksvolle Atmosphäre voll stilistischem Exzess. Die Filme Vincente Minnellis stellen als faszinierende Mischung von Kunst und Kitsch die traditionelle Unterscheidung zwischen Kommerz und künstlerischem Anspruch in Frage.
Dieser Text erschien erstmals in The Oxford History of World Cinema (1996). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Elena Messner.